Beschreibung: Neben einer Lagebeschreibung in der Provinz Gaziantep, geht es vor allem um die Situation von Kurden und Kurdinnen im Westen der Türkei (die sogenannte inländische Fluchtalternative) Aufbau



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11 A 4955/92

Übersicht

Kurden

Gruppen

Nachflucht

Wehrdienst

Abschiebungen

Sonstiges

Gutachten vom 09.01.1995 an das VG Hannover

Beschreibung:

Neben einer Lagebeschreibung in der Provinz Gaziantep, geht es vor allem um die Situation von Kurden und Kurdinnen im Westen der Türkei (die sogenannte inländische Fluchtalternative)



Aufbau:

Verstärkte Übergriffe auf kurdische Bevölkerung in Gaziantep im Jahre 1994?

Der Fall Riza Askin

Müssen aus der Osttürkei in die Westtürkei übersiedelnde Kurden in der Regel unterhalb des Existenzminimums leben?

Behinderung von Straßenhändlern

Zerstörung von Unterkünften

Sind aus der Osttürkei stammende Kurden im Westen der Türkei besonders gefährdet, verhaftet und gefoltert zu werden?



Übergriffe auf Kurden im Westen (Beispiele aus November und Dezember 1994)

Istanbul

Izmir

Adana und Mersin

andere Orte

GUTACHTERLICHE STELLUNGNAHME

in der Verwaltungsrechtssache 11 A 4955/92

Mit Schreiben vom 15. Dezember 1994 wurde ich von Frau Wendlandt-Stratmann, Richterin am VG Hannover auf­gefor­dert, eine gutachter­liche Stellung­nahme zu insge­samt 3 Fragen in dem o.a. Asylverfahren ab­zugeben. Ich werde die Fragen nach­einander kurz wieder­geben und sodann (meinem derzeitigem Infor­mations­stand gemäß) beantworten.

1. Ist es in der Provinz Gaziantep im Jahre 1994 verstärkt zu Übergriffen der türkischen Sicher­heitskräfte auf die dort lebende kurdische Bevöl­kerung gekommen?

Ende des Jahres 1993 wurde die Zahl der Einwohner in Gaziantep auf 750.000 geschätzt. Nach Schilderung des Jour­nalisten Raif Türk sollen jedes Jahr 30.000 Flüchtlinge hinzukommen. Flüchtlinge aus Siirt und Sirnak arbeiten vorwiegend als Lastträger, während die aus Pazarcik und Elbistan geflohenen Kurden meis­tens in Textil­firmen arbeiten.

Kurden findet man vorwiegend in den Stadttei­len Cumhuriyet, Yukaribay­ir, 60. Yil, Kibris-Girne und Düztepe. In den Stadtteilen Hacibaba, Cinderesi und Caglayan sind überwiegend Kurden aus Diyar­bakir und Cizre anzutref­fen. Etliche verdingen sich als Bauar­beiter (Betonie­ren).

Bezüglich der Sicherheitslage werde ich zunächst einmal eine Auswahl von Zeitungsmel­dungen aus der türkischen Presse wiedergeben. Sie sind zum größten Teil den Tagesberichten der Menschen­rechtsstiftung der Türkei entnommen, entstammen teilweise aber auch meinem eigenen Archiv.

Am 2. Februar 1994 meldete "Özgür Gündem" (Freie Debatte), daß am 31. Januar der Arbeiter Cevdet Ceylan (23) in Gaziantep von unerkannten Tätern erschossen wurde.

Am 16. Februar meldeten "Özgür Gündem" und "Mi­l-liyet" (Nation), daß bei Polizeioperationen in Gazian­tep und Urfa 9 Angehörige der radikal-islamischen Organisation IBDA-C gefaßt wurden. Es handelte sich dabei um: Bilal Erel, Metin Polat, Cuma Öztürkmen, Salih Bilen, Hasan Hüseyin Girit­oglu, Ibrahim Halil Bingöl, Salih Tatli, Sitki Baz und Mehmet Keskinkilic.

Am 31. März berichtete "Hürriyet" (Freiheit) und "Özgür Gündem" davon, daß in der Kreisstadt Sehitkamil in der Provinz Gazian­tep am 29. März 4 Mitglieder der pro-kurdischen Demokratiepartei, DEP, verhaftet wurden. Darunter waren der Kreis­vorsitzende Halil Alan sowie die Mitglieder Ömer Yildirim, Bayram Oruc und Bozan Deniz.

Am gleichen Tag meldete "Hürriyet" die Ermordung eines DEP-Mitglieds aus der Kreisstadt Nizip. Mehmet Sen (35) war am 25. März aus der von ihm betriebenen Teestube durch unerkannte Täter entführt worden. Seine Leiche wurde am 30. März in der Nähe des Dorfes Karpuz­kaya im Kreis Sehit­kamil gefunden. Seine Frau Nuray Sen teilte mit, daß die Entführer sich als Polizisten vorgestellt hatten.

"Özgür Ülke" (Freies Land, trat die Nachfolge der pro-kurdis­chen Zeitung "Özgür Gündem" an) meldete am 7. Juni, daß am Vortage bei einem Konzert der Musikgruppe "Grup Yorum" in Gaziantep 50 Personen verhaftet wurden, nachdem dort Parolen gerufen worden waren. Unter den Verhafteten waren: Bekir Saglamca, Salman Celik, Gazi Polat, Zeynep Kork­maz, Ismail Karadag, Mehmet Hatay (aus dem Vor­stand des Menschenrechts­vereins in Iskende­run), Ali Kaya, Kavgam Sartli, Baris Ates, Elif Torun, Bülent Yilmaz, Hazin Cilingir, Sedat Yilmaz, Erdal Badem, Zeki Özen und Cengiz Özel.

Am 5. Juni 1994 wurde das Vorstandsmitglied der DEP für Gaziantep, Hüseyin Küncülü, seine Ehefrau Güllü Küncülü und sein Neffe Ismet Dikici aus der Wohnung heraus verhaftet. Am 11. Juni meldete "Özgür Ülke", daß Güllü Küncülü in den 48 Stunden Polizeihaft gefoltert worden sei. Sie habe daher ein Attest vom gerichtsmedizinischen Institut erhalten, das ihr "10 Tage Arbeitsunfähigkeit" bescheinigte. Dieses Attest habe die Polizei jedoch beschlagnahmt. Güllü Küncülü sagte ferner, daß ihr Mann Hüseyin Küncülü (aus dem Kreisvor­stand der DEP für Sahinbey) und Ismet Dikici immer noch in Polizeihaft seien und gefoltert würden.

Nach einem Fußballturnier in Gaziantep für Ju­gendliche zwischen 12 und 16 Jahren wurde der Funktionär Ibrahim Atmaca von "Antep Boyna Spor", dessen Mannschaft das Turnier gewonnen hatte, am 15. Juli 1994 verhaftet. Sein Vater sagte danach, daß die Polizei zwar keinen Grund angegeben habe. Er vermutete jedoch, daß es daran lag, daß die Mannschaft in grün-gelb-roten (den kurdischen) Farben gespielt hatte.

Laut einem Bericht in "Özgür Ülke" vom 2. August wurden in Gaziantep im Stadtteil Yavuzlar die Musiker Saban Kilic, Mustafa Gümüs, Ilyas Gümüs, M. Salih Ceylan, Ahmet Sezer und Celal Sezer verhaf­tet, weil sie kur­dische Musik gespielt hatten. Sie wurden ins Polizeipräsidium ge­bracht.

Am 16. August berichteten "Hürriyet" und "Cu­mhu-riyet" (Republik), daß es am 14. August in der Nähe des Dorfes Alaca im Kreis Islahiye der Provinz Gaziantep zu einer bewaffneten Auseinan­dersetzung zwischen einer Gruppe Militanter und den Sicherheitskräften kam. Der Gouverneur von Gaziantep hatte die Zahl der getöteten Militanten mit 11 angegeben. Einen Tag darauf ließ "Milli­yet" verlauten, daß es sich bei den Militanten um PKK-Angehörige handele.

"Özgür Ülke" meldete am 9. September, daß am 7. September im Stadtteil Sirinevler von Gaziantep eine Person namens Nasah Yalcin (27) bei einem bewaf­fneten Überfall getötet wurde.

Am 11. und 12. September meldete "Milliyet", daß am 10. September eine Teestube im Stadtteil Beydilli mit einer Bombe beworfen wurde. Dabei starben Ökkes Naim (30) und Mehmet Aslan (40). Mehmet Yasar, Mehmet Adiyaman, Ahmet Sahin und Mesut Beyhan wurden ver­letzt. Die Teestube soll Ahmet Güzel, einem Anhänger der Nationa­listischen Bewegungs­partei, MHP, gehören.

Am 22. und 23. Oktober meldete "Özgür Ülke", daß am 18. Oktober eine Wohnung im Stadtteil Cindere von PKK Militanten überfallen wurde und sie den dort wohnenden Ali Karadag erschossen, weil er "ein Polizeiinformant" war.

Am 2. November meldeten "Cu­mhuriyet" und "Sabah" (Morgen) daß am 31. Oktober eine Bombe in eine Teestube im Stadtteil Beydilli geworfen wurde und dabei 10 Personen, zwei davon schwer, verletzt wurden: Hasan Atas, Süleyman Yilmaz, Mahsun Yilmaz (sch­wer), Cuma Demir (schwer), Halil Tatli, Ömer Celik, Ahmet Demir, Hüseyin Kahraman, Kadir Gümüs und Osman Coban.

"Özgür Ülke" vom 17.12.94 meldete die Verhaftung der HADEP-Mitglieder Mustafa Ates und Bekir Emlik.

"Özgür Ülke" vom 19.12.94 berichtete davon, daß der HADEP Kreisvorsitzende für Araban, Provinz Gazi­an­tep, Zeynel Oguz am 16. Dezember von 15 Poli­zisten, die sein Haus durchsuchten, verhaftet wurde.

"Özgür Ülke" vom 20.12.94 berichtete, daß im Stadt­teil Beyne von Gaziantep am 15. Dezem­ber drei Brüder mit Namen Mehmet (38), Mustafa (30) und Salih Ekinci (18) verhaftet wurden.

"Özgür Ülke" vom 22.12.94 meldete, daß im Kreis Sehit­kamil der Provinz Gaziantep die Wohnung des ehemaligen Vorstandsmitglied der DEP, Halil Aycicek, am 16. Dezember von der Polizei heim­gesucht wurde. Der Woh­nungsbe­sitzer war nicht anwesend. Die Polizei ließ sich daraufhin in der Wohnung nieder. Mit einem Verwandten, Sevket Caymaz, besuchte sie dann weitere 7 Woh­nungen von nahen Angehörigen des Halil Aycicek. Dabei wurden Mustafa und Mehmet Aycicek verhaf­tet, nach 5 Stunden jedoch wieder freigelassen.

Nicht an allen Meldungen wird deutlich, ob es sich bei den "Opfern" um Angehörige der kurdischen Bevölkerung handelt. Bei den Bombenattentaten auf die Teestuben und den Festnahmen von radikalen Islamisten ist das eher unwahrscheinlich. Für Mitglieder der DEP oder HADEP kann kurdische Abstammung unterstel­lt werden. Einer von vier (wahrschei­nlich politisch moti­vierten) Morden ging zu Lasten der gewalttätigen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, während die anderen drei Morde zu der Kategorie der "Morde unerkannter Täter bekannter Herkunft" zu rechnen sind. (1)

Bis auf die Festnahmen nach dem Konzert der "Grup Yorum" erwecken die Verhaftungen eher den Anschein, daß es sich um gezielte Aktionen, möglicherweise anhand gezielter Informationen (Denunziationen) handelt. Im Vergleich zum Jahre 1993 lag die Zahl der Verhaf­tungen höher (1993 waren neben Partei­mitgliedern der DEP weitere Personen nach einer Beer­digungsfeier und nach einer Laden-Schließ-Aktion verhaftet worden).

Unter den Zeitungsmeldungen finden sich keine Aussagen darüber, ob die Polizei "kurdische Stadtviertel" durchsuchte oder in den ländlichen Gebieten Razzien gegen "kurden-freundliche" Dörfer stattfanden. Es kam zu einer bewaffneten Auseinandersetzung in der Provinz Gaziantep, aber insgesamt scheint das Gebiet (noch) nicht zum Kriegsschauplatz gezählt zu werden (weder von den staatlichen Kräften noch von der PKK).

Bei einer Bewertung der Pressemeldungen muß beachtet werden, daß sie sicherlich nur die Spitze eines Eisberges darstellen. Viele Vorfälle (insbesondere wenn sie weniger bekannte Personen in dem eher provin­ziellen Gaziantep betreffen) finden keinen Nieder­schlag in der überregionalen (oder regionalen) Presse. Einen solchen Vorfall aus dem Jahre 1992 habe ich zusammen mit dem Journalisten Jochen Buchsteiner von der Wochenzeitschrift "Die Zeit" Ende Mai, Anfang Juni 1994 recherchiert (siehe Bericht in "Die Zeit" vom 10.06.94).

Riza Askin hatte 1990 erfolglos in der Bundesrepublik Deutschland um Asyl ersucht. Er stammte aus Pazarcik in der Provinz Kahramanmaras, aber seine Familie wohnte schon seit Jahren in Gaziantep, wo sich auch verheiratete Geschwister von ihm aufhielten. So kehrte er 1992 zurück zu seiner Familie in Gazian­tep. Im August 1992 wurde er, ein Bruder und eine Schwä­gerin von ihm verhaftet und auf der Polizeidirektion von Gaziantep eine Nacht lang verhört. Unter Folter sollten sie zugeben, daß sie einem PKK-Militanten Unterschlupf gewährt hatten. Dies konnte sich laut Riza Askin nur darauf beziehen, daß ihn ein Jugend­freund aus der Heimat besucht hatte. Da aber niemand in der Familie dessen derzeitigen Aufent­haltsort kannte, wurden die Verhafteten nach relativ kurzer Zeit (eine Nacht) wieder freigelassen.

Trotzdem war damit Riza Askin den Behörden bekannt geworden. Das stellte er fest, als er nach seiner zweiten erfolglosen Asylantragstellung am 7. Februar 1994 aus Bruchsal abgeschoben wurde. Im seinem Gepäck wurde "Belastungs"­material gefunden: eine Ordnerbinde in den "kurdi­schen Farben" rot-grün-gelb (türkische Sicher­heitskräfte bezeichnen dies als PKK-Flagge), eine "Fahne" mit den Buchstaben ERNK (2), eine Mütze in den Farben rot und gelb (die Unterseite des Schirms soll grün gewesen sein), ein kurdis­cher Kalender für das Jahr 1994 und eine Ausgabe der Zeitschrift "Alter-natif" (dies soll eine Publika­tion der "Devrimci Halk Par­tisi" -Revolu­tionäre Volkspar­tei- sein, die unter der türkischen Bevölke­rung Unterstützung für die PKK organisieren soll). Herr Askin er­klärte uns gegenüber, daß er diese Sachen nicht selber in seinen Koffer getan habe, sondern sein Koffer in seiner Abwesenheit (von Mitbewohnern o­der der Polizei) gepackt wurde.

Nach seiner Schilderung wurde er, nachdem diese Dinge in seinem Koffer entdeckt worden waren, von der Flughafenpolizei beschimpft und geschlagen. Er wurde der politischen Polizei in Istanbul überstellt und nach seinen Angaben zwei Tage lang gefoltert (siehe den Artikel vom 10.06.94), bis er ein Ges­tändnis ablegte. Dabei kam auch seine Verhaftung aus dem Jahre 1992 zur Sprache. Für die Polizei war er demnach ein potentieller Unterstützer der PKK, der seine Aktivitä­ten in der BRD fortgeführt hatte. Er wurde nach 7 Tagen der Staatsanwaltschaft vorgeführt, vermutlich, weil er ein "Geständnis" abgelegt hatte. Bei der Staatsan­walt­schaft widerrief Riza Askin seine polizei­liche Aus­sage, wurde aber trotzdem unter Paragraph 169 des türkischen Strafgesetzes für die "Unterstützung einer bewaffneten Verei­nigung" angeklagt. Die Anklage stützte sich ausschließlich auf angebliche Aktivitäten in der BRD, die Riza Askin in seinem polizeilichen Verhör eingestanden hatte. In Erwartung des Prozesses wurde er auf freien Fuß gesetzt. Der Ausgang des Verfahrens ist nicht bekannt.

Als wir Herrn Askin im Juni 1994 in Gaziantep besuch­ten, stand er offensichtlich immer noch unter dem "Schock" seiner Erlebnisse im August 1992 und Februar 1994. Er fühlte sich in Gaziantep extrem gefährdet, schien aber auch den "Mut" verloren zu haben, ein 3. Mal mit einem Asylantrag Schutz in der Bundesrepublik Deutschland zu suchen.

Mit der Einschränkung einer entsprechenden Dunkelzif­fer kann den oben aufgeführten Meldungen entnommen werden, daß es im Verlaufe des Jahres 1994 in der Provinz Gaziantep wiederholt zu Übergriffen der Sicherheits­kräfte auf Staatsbürger kurdis­cher Herkunft gekommen (insbesondere gegen Aktivisten aus Kreisen der pro-kurdischen Parteien wie DEP oder HADEP) ist. Eine Steigerung bei den polizeilichen Maßnahmen war gegen Ende des Jahres zu verzeichnen, wo es nicht nur in der Provinzhauptstadt, sondern auch den umliegenden Kreisen zu Verhaftungen von kurdischen Aktivisten, hauptsächlich aus Kreisen der "Kurdenparteien" DEP und HADEP kam. Diese Zunahme ist jedoch nicht so sig­nifikant, daß sie als "ver­stärkte Übergriffe der türkischen Sicher­heits­kräfte auf die dort lebende kurdische Bevölkerung" interpretiert werden könnte.

2. Müssen aus der Osttürkei in die Westtürkei übersiedelnde Kurden in der Regel unterhalb des Existenzminimums leben?

Zu dieser und anderen Fragen habe ich im Oktober 1994 für die Schwei­ze­rische Flüchtlingshilfe (SFH) eine Expertise über die "Möglichkeiten einer Binnenflucht für KurdInnen in der Türkei" erstellt. Für die Recher­che unternahm ich zwischen dem 10. und 30. September eine Reise in verschiedene Städte im Westen der Türkei mit einem nennenswerten Anteil an kurdischer Popula­tion (3) und sprach mit ExpertInnen und Betroffenen, um mir vor Ort ein Bild von den Lebensbedin­gungen der KurdInnen im Westen der Türkei zu machen.

In meinem Bericht vom 15. Oktober 1994 habe ich zur Frage einer "gesicherten Existenz" von Kurden, die aus der Ost- in die Westtürkei umsiedeln, u.a. folgende Fesstellungen getroffen:

Viele meiner Gespräche mit Betroffenen konzentrierten sich (zuminde­stens jeweils am Anfang) auf die Situa­tion in der Heimat. Selbst wenn in einigen Fällen behaup­tet wurde, daß die Flucht aus überwiegend ökonomischen Überlegungen heraus stattfand, so stellte sich meist nach kurzer Zeit heraus, daß es mindes­tens indirekt die Kriegssitua­tion war (z.B. fehlende Kundschaft, bzw. eigene Verhaftung), die diese Per­sonen zur Flucht bewegt hatte.

Den 20 von mir in Istanbul durchgesehenen Fragebögen zur Situation der kurdischen Flüchtlinge kann sicher­lich keine Repräsentativität bescheinigt werden. Allerdings fällt auf, daß obwohl 9 der Befragten angaben, wegen Arbeit oder Unterkunft nach Istanbul gekommen zu sein, immerhin 14 sagten, daß sie unter Druck gesetzt wurden, Dorfschützer zu werden. Dies deutet darauf hin, daß die meisten Flüchtlinge vor staatlichem Druck fliehen. Unter meinen Gesprächs­partnern traf ich allerdings auch auf Personen, die den Druck der PKK gleichermaßen für ihre Flucht verantwortlich machten.

Die meisten der Geflohenen hatten Unterkunft bei oder auf Vermittlung von Verwandten gefunden. Gerade bei Neuangekommenen stellte ich fest, daß sie regelrechte Baustellen bezogen hatten (wie eine Gruppe von Frauen und Kindern in Asarlik bei Menemen, die leider nicht mit uns reden wollten). Die verallge­meinernde Bemer­kung vieler ExpertInnen, daß sich 3 bis 4 Familien eine Wohnung teilen, konnte ich mehrfach auf ihre Richtigkeit hin überprüfen. Es gab aber auch andere, die anscheinend schon seit längerem auf die Flucht vorbereitet waren, und sich in den Jahren zuvor ein eigenes Haus zugelegt hatten (vor allem in Istan­bul).

Allgemein kann gesagt werden, daß die Flüchtlinge im Westen der Türkei auf engerem Raum zusammenleben müssen, als in ihren Heimatdörfern, selbst wenn ihnen das Leben in der Großfamilie (mit mehreren Generatio­nen) nicht fremd ist. Neben Klagen über relativ hohe Mieten je nach den örtlichen Gegebenheiten (von 800.000.- TL in Ceyhan bis 2,5 Millionen TL in Istan­bul, zwischen 40.- und 120.- DM monatlich), richteten sich die Beschwerden hauptsächlich gegen man­gelnde Versorgung mit Wasser. Obwohl nur einige der "Kurden-Viertel" nicht mit fließendem Wasser versorgt waren (wie Yamanlar in Izmir), waren gerade in Istan­bul die "Kurden-Viertel" besonders vom "Haushalten" mit dem Wasser betroffen, so daß in einzelne Gegenden nur einmal pro Woche Wasser kam (in der Regel werden Haushalte in Istanbul aufgrund der allge­meinen Was­serknappheit in den Sommermonaten einmal pro Tag für eine oder mehrere Stunden mit Wasser versorgt).

Bei der in der gesamten Türkei sehr hohen Arbeitslo­sigkeit (ca. 20-30%) gelingt es den Geflohenen kaum, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So treffen wir die meisten Kurden mit Arbeit als Straßen­händler oder Tagelöhner (vorwiegend im Baugewerbe), die neben dem Konkurrenzkampf mit Altein­gesessenen immer häufiger mit Drangsalierun­gen durch die Behörden rechnen müssen (Beispiele dazu weiter unten).

Unter meinen Gesprächspartnern fand ich einige, die ihre Söhne oder Töchter in einer Art Werkstatt (für Textilien oder Schuhe) untergebracht hatten oder in Form von Hausar­beit für geringen Lohn (1 Pullover in 2 Tagen für 40.000.- TL = 2.- DM) ar­beiteten. Die überwiegende Anzahl der Flüchtlinge aber gab an, als Tagelöhner (im Baugewerbe) hin und wieder eine Arbeit und Entlohnung zu finden. Einige Kurden, die schon vor längerer Zeit (10 Jahre oder früher) in den Westen gekommen waren, hatten sich entweder ein kleines Geschäft eingerichtet oder waren als Straßenhändler zu etwas "Wohlstand" gekommen (hatten sich ein Haus gebaut wie Sadik Bayar in Adana). Selbst Sadik Bayar aber bek­lagte sich, daß er bei seiner Tätigkeit in letzter Zeit behindert werde und nur noch in bestim­m-ten Gegenden von Adana seine Waren verkaufen könne.

Fast alle Familien, die ich sprach, gaben an, ein unregelmäßiges Einkommen durch die Arbeit von ein oder zwei Familienmitgliedern zu haben. Allerdings waren im Stadtteil Hürriyet von Adana durchaus Familien, die praktisch kein Einkommen hatten. Eine Frau, deren Mann und Sohn getötet worden war, lebte dort in einer Hütte mit 7 Kindern und konnte nur durch die Unterstützung der Nachbarn überleben. Kez­ban Hozat aus einem Dorf bei Lice, Provinz Diyarbakir gab an, mit 6 Personen in einer Art Baustelle zur Miete zu wohnen. Arbeit habe bisher niemand gefunden. Ihr Mann sei vor 3 Tagen nach Turkmenistan aufgebrochen, in der Hof­fnung, dort Arbeit zu finden. Die Familie Hozat war im Oktober 1993 nach Adana gekommen.

In allen Orten berichteten die ExpertInnen von Behin­derungen der Stadtverwaltungen und Polizeiak­tionen gegen kurdische Straßenhändler. In der Frauengruppe der HADEP in Adana berichtete eine Frau aus dem Stadtteil Daglioglu, daß ihr Mann Straßen­händler sei. Er komme aber aus Angst vor Polizeiope­rationen nur selten nach Hause. Im HADEP-Büro in Gaziosmanpasa (Istanbul) berichtete eine Frau aus Bismil in der Provinz Diyar­bakir, daß einer ihrer Söhne als Straßen­händler arbeite. Dabei würde er und andere, die von einem Wochenmarkt zum anderen ziehen, immer wieder behin­dert. Einmal sei er verhaftet worden, habe sich nackt ausziehen müssen und sei mit Stromstößen und Wasser unter Hochdruck gefoltert worden. In den 3 Tagen habe man ihn auch häufig geschlagen.

Sait Eren von der HADEP in Adana war zu jener Zeit als die Straßenhändler aus Adana vertrieben wurden, (4) Mitglied des Stadtrates gewesen sei. Er hatte sich damals an den Bürgermeister Selahattin Colak gewandt. Dieser sagte ihm, daß die Angelegenheit seine Kom­petenzen übersteige und es sich um eine Anweisung des Gouverneurs handele. Die Intervention von Sait Eren beim stellver­tretenden Minister­präsidenten Erdal Inönü, der Abhilfe versprach, war erfolglos.

In der Presse war immer wieder von Behinderungen der kurdischen Straßenhändler zu lesen. Hier eine kleine Auswahl von Beispielen:

"Özgür Gündem" vom 28.02.94 berichtete, daß in der Provinz Aydin durch das Polizeidirektorat eine Vor­schrift eingeführt wurde, daß alle flie­genden Händler ihren Personalausweis am Kragen festmachen müssen. Als Begründung wurde ange­geben, daß dies zum Schutz gegen Terror notwendig sei. Damit können die Kurden unter ihnen leichter iden­tifiziert werden.

Im Istanbuler Stadtteil Eminönü wurde im Juni 1994 von Aktionen der Stadtverwaltung gegen die Straßenhändler berichtet. Sie sagten, daß seit Amtsantritt des Bürgermeisters Ahmet Cetinsaya von der Mutterlandspar­tei ANAP insgesamt 2000 Verkaufswagen und Stände zerstört worden seien. Ende des Monats beschwerten sich die Straßenhänd­ler erneut. Dieses Mal sagten sie, daß sie das Dreifache an Strafe für Sauberkeit zahlen müßten, wie in anderen Stadtteilen von Istanbul.

In Ankara beschwerten sich kurdische Händler Mitte Juli 1994 darüber, daß die Stadtverwaltung im Stadt­teil Cebeci ihre Stände auf dem Markt zerstört hätte. Zuvor sollen im Stadtteil Keciö­ren, wo im März Turgut Altinok für die MHP zum Bürgermeister gewählt worden war, dieser mit 40 Anhängern der MHP auf dem Markt erschienen sein und gedroht haben, "ich werde alle Stände ver­nichten, die Kurden hier nicht dulden." Die MHP'ler hätten von den Händlern je 250.000.- TL "Stra­fe" kassiert.

In der Kreisstadt Tarsus in der Provinz Mersin hatte ebenfalls die MHP die Wahlen im März gewon­nen. Die Stadtverwaltung verbot im August 1994 den Straßenhänd­lern, die Parks zu betreten. In Tarsus sollen von den 1500 Straßenhändlern 400 ihre Arbeit aufgegeben haben. Einer von ihnen, der seinen Namen nicht angeben wollte, sagte, daß unter den türkischen Straßenhänd­lern Losungsowrte ausgegeben wurden. Sobald Beamte der Stadtver­waltung kämen, blieben sie bei Nennung der Losun­gen unbehelligt, die kurdischen Straßenhändler aber würden beleidigt, man steche ihnen in die Reifen ihrer Wagen und manch­mal würden ihnen ihre Waagen fortgenommen.

Im Stadtteil Fatih von Istanbul dauerten im August 1994 die Auseinander­setzung zwischen der Stadtverwal­tung und den Straßen­händlern an. Die Straßen­händ­ler führten die starke Beteiligung der Polizei bei den Vertreibungs­maßnahmen der Stadt­verwaltung darauf zurück, daß der neue Bürger­meister von Fatih, Saadet­tin Tantan, ein ehemali­ger Polizeichef ist.

In Istanbul berichteten Anfang September 1994 Straßen­händler aus dem Stadt­teil Eminönü, daß 35 von ihnen verhaftet und auf die Polizeidirektion in Gayrettepe gebracht wurden. Sie seien der Bastonade unterworfen worden. Man habe ihnen empfohlen, Diebstahl zu begehen und sich das Diebesgut mit der Polizei zu teilen.

Es hat den Anschein, daß hinter vielen dieser Aktionen der Versuch steht, Kurden durch die Fortnahme ihrer Existenzgrundlage zum Verlassen der Städte im Westen der Türkei zu bewegen. Unter den Verboten, die die Stadtverwaltung in Tarsus im August 1994 erließ, war auch ein Verbot der Viehzucht, mit der sich viele Kurden in den Randbezirken der Stadt ihren Unterhalt verdienen. Drastisch wird dieses Bestreben an den immer wieder berichteten Zerstörungen von Häusern in den Elendsvierteln deutlich. Sicherlich sind viele dieser Gebäude ohne Baugenehmigung errichtet worden ("gecekondus"), wie sehr viele Häuser in den Groß­städten (im September diesen Jahres berichtete Cum­huriyet, daß in Istanbul fast 60% aller Häuser "gece­kondus" seien). Von den Zerstörungen sind wiederum vor allem KurdInnen betroffen. Hier einige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:

Am 7. Juni 1994 wurden in Izmir im Stadtteil Yesildere vier Häuser (gecekondus) von der Stadt­verwaltung zerstört. Einer der Hausbesitzer, Mehmet Demir, sagte, daß der Staat zuvor ihre Häuser im Dorf Hasantepe, bei Nusaybin, Provinz Mardin zerstört hatte. Mit 13 Personen, die er zu ernähren habe, könne er sich keine Miete leisten. In Ankara riß die Stadtverwaltung des Viertels Keciören am gleichen Tag 30 "gecekondus" nieder. Der Bürgermeister Turgut Altinok von der MHP hatte vor den Wahlen im März des Jahres noch Verspre­chungen gemacht, daß er keine Häuser abreissen werde.

Ende Mai, Anfang Juni 1994 wurden auf Anordnung des Bürgermeisters Cengiz Tunc, der der MHP angehört, 30 Unterkünfte (gecekondus) in dem von Kurden bewohnten Stadtteil Tintin in Salihli (Provinz Manisa) niederge­rissen. Wie verlautete sollen alle 250 Unter­künfte in diesem Stadtteil niedergeris­sen werden.

Am 3. Juli wurden weitere 33 "gecekondus" im selben Stadtteil niedergerissen. Nach dem Vorfall wurden 37 Personen verhaftet. Sie wurden am 5. Juli wieder freigelassen. Nach ihrer Freilassung berichteten sie, daß sie schon während der Zer­störungsaktion von der Polizei geschlagen wurden. Die Polizei hätte in die Luft geschossen und der Polizeichef von Salihli habe gerufen: "Geht dahin, wo ihr hergekommen seid. Wenn ihr ver­nünftig seid, schließt euch der PKK an." Auf der Wache seien die Schläge mit Kolben und Riemen weitergegangen. Sie seien dann vor Gericht ge­bracht worden, da sie angeblich die Polizei angegriffen hätten. Dabei sei an ihrer Verfassung klar, wer angegriffen habe. Behcet Yubas und Sabri Becenek, die an den Beinen verletzt waren, beschwerten sich außer­dem darüber, daß im Staats­krankenhaus von Salihli einige Ärzte sich nicht um sie gekümmert hätten, weil sie Kurden seien.

Am 13. August wurden im Stadtteil Cennetcesme von Izmir 15 gecekondus niedergerissen. Eine der Betrof­fenen, Ayse Yildirim sagte, daß dies schon das fünfte Mal sei, daß ihre Unterkunft niederge­rissen wurde.

Nach einem Bericht in Özgür Ülke vom 22.08.94 hat das Governeur­samt von Izmir beschlossen, Häuser im Stadt­teil Cigli, der vorwiegend von Kurden bewohnt wird, niederzureissen, da sie ohne of­fizielle Genehmigung erbaut wurden. Dem Bericht zufolge sollen 40 Familien dadurch obdachlos geworden sein.

Im Stadtteil Kücükarmutlu in Istanbul sollten am 14.09.94 18 Häuser niedergerissen werden. Ca. 250 Bewohner versuchten mit den Zuständigen zu reden, wurden aber durch Schüsse in die Luft und Poli­zeiknüp­pel zurückgetrieben. Dabei wurden etliche Personen verletzt und 5 Personen verhaftet.

Im Viertel Kavacik von Beykoz in Istanbul wurden am 22.09.94 15 "geceko­ndus" durch die Stadtver­waltung von Beykoz abgeris­sen. Die Familien zogen aus Protest vor die Stadtverwal­tung. Der Bürger­meister Yücel Celik­bilek behauptete, daß die nieder­gerissenen Häuser unbewohnt gewesen seien, kündigte aber an, daß im Falle, daß es Ge­schädigte gebe, diesen von der Stadt­verwaltung geholfen werde.

Wie mir von meinen Gesprächspartner in Izmir ver­sichert wurde, sollen zumindestens die abgerissenen Häuser im Stadtteil Tintin (Salihli) mit Baugeneh­migung errich­tet worden sein, d.h. hinter dieser Aktion wurde die Willkür des MHP-Bürgermeisters vermutet, der keine Kurden in seiner Stadt haben wolle. Unter meinen Kontakten in Istanbul, Izmir und Adana war zwar niemand, dessen Haus in letzter Zeit zerstört worden war, aber das Schild am Ortseingang des "Kurden-Viertels" Yamanlar in Izmir (5) macht deutlich, wie real die Gefahr für kurdische Bewohner von "gecekondus" ist, ihre Wohnun­gen zu verlieren.

Bei meinen Gesprächen kam nur in einigen Fällen die Sprache auf die wirtschaftliche Lage der Betroffenen vor der Flucht. In et­lichen Fällen wurde deutlich, daß die Flüchtlinge in der Heimat über ein gesichertes Einkommen verfügt hatten und ohne die "Leiden des Krieges" nicht in den Westen der Türkei geflohen wären. Bezeichnend waren die Antworten auf meine an manchen Orten gestellte Frage, ob und wie häufig die Familien nach der Flucht Fleischgerichte zu sich genommen haben. (6) Fast standardgemäß kam die Ant­wort, daß sie in der Heimat häufig Fleisch essen konnten (evtl. Tiere aus der eigenen Haltung schlach­teten), aber nach der Flucht entweder gar kein Fleisch oder ein paar Brocken Hühnerfleisch (an Feiertagen) zu sich genommen hatten. Alle Gesprächspartner waren sich einig, daß sie lieber heute als morgen wieder in die Heimat zurückkehren wollten.

Als Resümee ergibt sich die Schlußfolgerung, daß (ohne den Krieg) für die überwiegende Mehrzahl der Flücht­linge an ihrem Herkunftsort keine existentielle Gefährdung bestanden hat. Nach ihrer Flucht sind viele von ihnen als Bewohner von "gecekondu"-Vierteln vom Abriß ihrer Häuser bedroht. Sie werden bei der Ar­beitssuche benachteiligt. Die Mehrzahl von ihnen sind ungelernte Landwirte und haben in den Städten der Westtürkei fast nur die Möglichkeit, sich als Tagelöh­ner (im Bauge­werbe oder als Lastenträger) oder als Straßenhändler zu verdingen. Die schon aus dem Jahre 1993 gemeldeten Behinderungen von vorwiegend kur-dischen Straßenhänd­lern haben gerade in Orten mit natio­nalistisch aus­gerichteten Bürgermeistern (nach den Wahlen im März 1994) zugenommen.

Die Gesamtheit der Schwierigkeiten (allgemeine Ar­beitslosigkeit, niedrige Löhne für Gelegenheitsarbeit, Benachteiligung bei der Arbeits­suche, Behinderung der Straßenhändler) haben dazu geführt, daß viele der Flüchtlingsfamilien unterhalb des Existenzminimums leben müssen.

Dieses Resümee wird auch durch eine Zeitungsmeldung aus dem August 1994 deutlich:

Die Familien Yaman und Benek waren vor einiger Zeit von Sirnak nach


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