Bürgerlicher Antiimperialismus und bürgerlicher Kommunismus als Revolutionsblockade. Zur Rojava-Debatte


Die Schlacht um Kobanê und die Rolle der USA



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Die Schlacht um Kobanê und die Rolle der USA

Fast forward zu Rojava und der Einmischung der USA. Auch hier folgt auf Seiten der ML-Propheten und Nahostexperten wieder Schematismus auf Schematismus, Schablone auf Schablone: Die USA wollen den Nahen Osten und die dort existierenden angeblich widerständigen Staaten spalten und nutzen dafür ethnische Konflikte aus. „Die Kurden“ sind ein Vehikel dieser Interessen. Unter dieser Schablone werden alle gravierenden Differenzen zwischen den unterschiedlichen kurdischen Fraktionen nivelliert („ist doch eh alles dasselbe“) und Geschichte interessiert einen erst recht gar nicht mehr. Schöne Schablone – und eine intellektuelle Bankrotterklärung für Marxist*innen.

Wer sich für Geschichte interessiert, wie sich das für Marxist*innen gebührt, der fragst zuerst nach: Warum unterstützen die USA eigentlich seit Jahrzehnten den Barzani-Clan – aber bisher noch nie die PKK oder PKK-nahe Organisationen? Warum und vor allem: wann kamen die USA dazu, PKK-nahe Kräfte doch zu unterstützen und in welchem Format?

Die Antwort auf die erste Frage halte ich kurz und reduziere mich auf das, was eigentlich zum ABC einer/s jeden aktiven Marxist*in betreffs dieser Frage gehören müsste, noch einmal kurz zu wiederholen: Der Barzani-Clan war von Anfang an dynastisch-bürgerlich ausgerichtet und installierte eine dynastisch-kapitalistische Ordnung im Nordirak, die prima mit allen Kapitalist*innen der Region und allen Imperialist*innen zusammenarbeitet und mit diesen auch oft genug gegen die PKK Krieg geführt hat. Die PKK hingegen war lange Zeit eine offen sozialistische Organisation, die nebst der nationalen Befreiung der Kurd*innen das Modell einer demokratischen Revolution, die sich in eine sozialistische hinein entwickelt, verfolgte. Zwar hat sich ideologisch einiges bei der PKK geändert, eine Herausforderung für die kapitalistische Ordnung der Türkei und ihrer Funktion im imperialistischen Gefüge der NATO bildet sie aber nach wie vor. Deshalb wurde die Türkei im Krieg gegen die PKK stets aktiv vom US-amerikanischen, aber auch vom bundesdeutschen Imperialismus und auch von Israel unterstützt.

Was hat sich nun geändert, wann fingen die USA an, PKK-nahe Organisationen, also YPG/J und PYD, zu unterstützen? Wenn man sich das genauer anschaut, dann ist das Erste, was einem unmittelbar auffällt, der Umstand, dass die USA die YPG/J und PYD lange Zeit nicht unterstützten. Noch in der Hochphase der Schlacht um Kobanê, also Ende 2014, als die Stadt vollständig vom IS umzingelt wurde und kurz davor war, überrannt zu werden, ließen sich die USA nur zu lahmen Solidaritätsbekundungen herab: Man habe zwar vollste Sympathie für den heroischen Kampf der Kurd*innen gegen den IS, die eigenen militärischen Prioritäten lägen aber darin, dafür zu sorgen, dass der IS keine sicheren Gebiete mehr besitzt, was bedeuten würde, dass die ökonomischen Quellen des IS, also die Ölförderungsanlagen und dergleichen, zerstört werden müssten (Jen Psaki, Sprecherin des US-Außenministeriums am 8. Oktober 2014).18 Ähnliches sprach am 12. Oktober 2014 der US-amerikanische Außenminister John Kerry: Was in Kobanê passiere sei tragisch, definiere aber nicht die Strategie der internationalen Koalition im Kampf gegen den IS. Der Fokus müsse auf den Irak gelegt werden.19 Das interessierte weder PKK, noch YPG/J und PYD. Keiner von ihnen verlangte im Ernst irgendwas von den USA. Worauf sie vor allem drängten, war, dass die Grenzen seitens der Türkei geöffnet werden, so dass PKK-Militante mit Waffen nach Kobanê hätten rübergehen und die Schlacht wenden können.20 Natürlich erlaubte die Türkei das nicht, stattdessen stellte sich Erdoğan hin und meinte genüsslich: „Kobanê ist bereits verloren.“ Die Ereignisse, die darauf folgten, und die Bedeutung, die sie für die Schlacht um Kobanê aber auch für die Türkei hatten, mögen Linke in imperialistischen Zentren wieder vergessen haben. Vielleicht aber haben sie sich in Wirklichkeit auch einfach nie dafür interessiert. In der Türkei weiß das allerdings noch jeder. Der serhildan, kurdisch für Volksaufstand, vom 6. bis zum 8. Oktober 2014 brachte die Wende. Hunderttausende Kurd*innen gingen in allen mehrheitlich kurdischen Städten im Südosten der Türkei/Nordkurdistan auf die Straßen und demonstrierten für Kobanê. Hier wurden zum ersten Mal Gräben ausgehoben und Barrikaden aufgebaut, die städtische Jugendmiliz der PKK, die YDG-H, lieferte sich schwere Auseinandersetzungen mit der türkischen Hizbullah, mehr als 50 Menschen starben. Die PKK sprach eindeutige Worte: Entweder geschieht was oder wir entfesseln die Hölle auf Erden.21 Erst hierauf änderten die USA ihre Haltung: Plötzlich fingen sie an, IS-Stellungen intensiver zu bombardieren, zaghaft einige Waffen und Munition über Kobanê abzuwerfen und sie sorgten dafür, dass 150 Peschmerga Barzanis mit schweren Waffen über die Türkei nach Kobanê geschleust wurden. Der PKK selbst wurde nichts erlaubt.

Das war ein recht kluger Schachzug des US-Imperialismus, der eigentlich auch im Sinne des türkischen Subimperialismus war: Die USA konnten es sich nicht leisten, ein unglaublich wichtiges NATO-Partnerland wegen der politischen Idiotie und Borniertheit eines bestimmten Regimes (Stichwort: „NATO-Betonmauer“) in einen ausufernden Bürgerkrieg degenerieren zu lassen, der die gesamte Ordnung des Landes in unberechenbarer Art und Weise destabilisiert hätte. Außerdem hatten sich die YPG/J und PYD bei allen demokratisch gesinnten Elementen der Völker der Erde einen Stand als Held*innen der Menschheit errungen. Unter solchen Umständen, wo also absehbar war, dass ein unerwünschtes revolutionäres Projekt nicht direkt zerschlagen werden konnte, optierte die USA für eine softere Option der Revolutionsbekämpfung, nämlich für den Versuch, die Revolution zu integrieren und von innen heraus zu zersetzen. Deshalb die Barzani-Peschmergas statt PKK-Guerillas.22

Nun hätten die PKK, YPG/J und PYD natürlich auch wählen können, zwecks Befriedigung unserer 1-2 ML-Apostel und Antiimp-Helden aus den imperialistischen Zentren, auf die militärische Unterstützung der USA zu pfeifen (als ob das die USA gejuckt hätte und sie sich dann nicht eingemischt hätten!23) und sich zu Abertausenden vom IS abschlachten zu lassen. Aus völlig unerfindlichen Gründen entschieden sie sich allerdings gegen diese Option. Die Rechnung der PKK und YPG/J dabei war und ist: Wenn die uns unterstützen, solange wir gemeinsame Ziele haben (Bekämpfung des IS), schön. Wenn sie uns nicht unterstützen, auch schön; wir machen unser Ding in jeder Hinsicht weiter, egal ob mit, ob ohne, oder vielleicht sogar gegen die. Und während die versuchen uns zu integrieren, nutzen wir das Minimum an Anerkennung, das uns dieser Integrationsversuch bringt, dazu aus, unser Projekt weiter zu festigen und sogar auszuweiten, zum Beispiel in den Nordirak hinein.

Sind die YPG/J und PYD Anhängsel des US-Imperialismus geworden?

Mit den Erzfeinden auf der Hochzeit zu tanzen braucht Disziplin, Willen und Macht. Man muss Karten in der Hand halten, die das Spiel bestimmen können, sonst geht man sang-, klanglos und vollständig unter. Wie zum Beispiel SYRIZA in Griechenland, die mit der EU tanzen wollte, aber nichts in der Hand hielt außer moralischen Appellen. Hat man die Macht, kann man tanzen und, wo man fähig genug ist, siegen. Wie zum Beispiel Lenin, als er das Angebot der OHL und später die Waffen der britischen und französischen Imperialisten gegen den deutschen Imperialismus annahm; oder Stalin, der sich auf die Koalition mit den antikommunistischen alliierten Imperialisten einließ, um erneut den deutschen Imperialismus zu vernichten, obwohl die Allierten anfangs megaglücklich darüber waren, dass der deutsche Imperialismus auf die Sowjetunion losging.

Von Anbeginn visierten Öcalan und die PKK an, alle nur erdenklichen zwischenimperialistischen Widersprüche auszunutzen und mit jedem Schweinehund Kontakte aufzunehmen, solange es nur die eigene Sache voranbringt oder die Schweinehunde gegeneinander ausspielt. Und das alles im vollsten und klarsten Bewusstsein darüber, dass fast alle involvierten Parteien das Revolutionsprojekt in Rojava bis ins Mark hassen und übelste Schweinehunde sondergleichen sind. Wäre man daran interessiert zu untersuchen, wie Öcalan, die PKK und YPG/J und PYD hierüber denken, hätte man sehr schnell fündig werden können. Augenscheinlich wollten oder konnten das unsere ML-Aposteln und Antiimp-Helden aus den imperialistischen Zentren nicht.

Sie sehen nicht einmal, dass die YPG/J und PYD mit allen Schweinehunden gleichzeitig tanzen, um sie gegeneinander auszuspielen und selbst davon zu profitieren, sondern kreischen immer dasselbe: „US-Imperialismus! US-Imperialismus! US-Imperialismus!“24 Dabei stellen sie mal kurzerhand die Behauptung auf, die Kurd*innen seien vollständig vom US-Imperialismus abhängig und verfolgten nur dessen Ziele:

Beim MLer Hans Christoph Stoodt heißt es: „PKK und YPG sind ein militärisch-politisches Bündnis mit den USA und ihren Verbündeten eingegangen, das weit mehr ist als eine zeitweilige taktische Übereinstimmung gegen den IS.“

Beim Antiimperialisten Jörg Ulrich heißt es: „Die Ausrichtung auf eine militärische Lösung der kurdischen Frage hat die kurdische Befreiungsbewegung letztlich zum Anhängsel der imperialistischen Intervention in Syrien und Irak gemacht. Die vorübergehenden blutig erkämpften militärischen Erfolge der YPG haben diese letztlich völlig abhängig von der militärischen Unterstützung der USA gemacht und sie hat dadurch auch große Teile ihrer politischen Selbstbestimmung abgeben müssen.“

… usw. usf. Aber wo ist die Begründung, wo die Argumente, Beweise, Beispiele für diese schweren Vorwürfe und Behauptungen, dass es um viel mehr ginge als Waffen und begrenzte Militärkooperation??! Nirgends! Die YPG/J haben viel mehr ex-sowjetische Waffen als amerikanische und auch die Russen haben für die Kurd*innen bombardiert. Heißt das, sie arbeiten vielleicht doch viel eher für den russischen als für die US-amerikanischen Imperialismus?! Oder für alle gleichzeitig? Verwirrung, wohin das Auge blickt, wenn man die bürgerlich-antiimperialistische Brille konsequent aufsetzt.

Aber das machen unsere deutschen „Nahostexpert*innen“ und „Antiimperialist*innen“ auch gar nicht. Für sie zählt: Hauptsache mal wieder irgendwas dahin geklatscht so frei nach dem türkischen Sprichwort „çamur at izi kalsın“ (sinngemäß übersetzt in etwa: „ Bewirf deine Feinde mit Schlamm und es wird zumindest einen Fleck hinterlassen.“) Es drückt sich darin nichts anderes aus als das kleinbürgerliche Ressentiment, dass man in der Weltgeschichte absolut gar nichts zu pfeifen hat, obwohl man sich selbst doch per unglaublich tiefer Einsicht in den „ML“ die Funktion der Avantgarde der proletarischen Weltrevolution zugeschrieben hat, es aber gerade diejenigen Linken sind, die in der Weltgeschichte mitmischen, die nicht „ML“ sind und für jene selbst zugeschriebene Weltrevolutionsführungsrolle irgendwelcher arroganter Linker aus imperialistischen Zentren im besten Fall ein müdes Lächeln übrig haben.

oder nutzen sie zwischenimperialistische Widersprüche aus?

Schauen wir uns zuerst einmal en détail an, was die kurdischen Kräfte denn selbst sagen, wie sie den Imperialismus und die Situation im Syrienkrieg einschätzen und mit wem sie warum und in welchem Umfang zusammenarbeiten.

Fangen wir an mit Öcalans politischer Haltung. Wer sich für diese interessiert, wird sich wohl den Inhalt der Gespräche anschauen, die Öcalan im Zuge des Verhandlungsprozesses mit dem türkischen Staat in den Jahren 2013 bis 2015 mit einer HDP-Delegation und mehreren staatlichen Vertretern auf der Gefängnisinsel Imralı geführt hat. Das über 400 Seiten starke Buch mit dem Titel Demokratik kurtuluş ve özgür yaşamı inşa (imralı notları), das fast alle Treffen von Januar 2013 bis März 2015 beinhaltet, wurde beim Mesopotamien Verlag in Deutschland im November 2015 herausgegeben. Öcalan spricht hier sehr eindeutige Worte zum Verhandlungsprozess, seinem Verhältnis zum türkischen Staat und zu Rojava. Unsere bürgerlichen Kommunist*innen und Antiimps interessieren sich offensichtlich hierfür nicht, denn sie haben die Weisheit mit Löffeln gefressen und brauchen sich das, was sie kritisieren, nicht genauer anzuschauen. Ich fasse im Folgenden Öcalans zentrale Ausführungen zu Rojava und „dem Imperialismus“ zusammen.

Von Anfang an weist Öcalan darauf hin, dass die im Syrienkrieg involvierten internationalen Kräfte beide Seiten (damit meint er im Allgemeinen Regime & Opposition) entlang ihrer jeweiligen Interessen mit Waffen aufrüsten werden und empfiehlt den kurdischen Kräften vor Ort, mit beiden Seiten auf Grundlage der eigenen Interessen Kontakt aufzunehmen.25 Konkreter sagt er, dass man die FSA wie auch das Regime zu Verhandlungen – in Genf26 – zwingen müsse, al-Nusra und Konsorten jedoch seien aus Rojava „rauszuschmeißen“.27 Mit Teilen der FSA könne man sich vielleicht auf der Linie Jarablus-Azaz-al Bab verbünden.28

Der Türkei droht er damit, dass er Verbindungen mit dem Iran intensivieren werde, falls sie sich nicht auf den Friedensprozess einlassen;29 der PKK-Führung in den Kandilbergen empfiehlt er ebenfalls mit dem Iran, Russland „usw.“ Kontakte aufzunehmen, das sei „ihr Recht, sie müssen überleben.“30 Aber weder vom Iran noch von Russland hält er viel und warnt die Genoss*innen vor allem vor dem Iran: Der Iran spiele ein doppeltes Spiel und sei türkei- wie auch kurdenfeindlich zugleich.31 Er versuche den Friedensprozess zu sabotieren und provoziere die Türkei stets dazu, den Krieg mit den Kurd*innen wieder aufzunehmen. Einerseits um die Kurd*innen im Allgemeinen und damit auch die kurdische Bewegung im Iran zu schwächen; andererseits aber, um die Türkei (mittels permanentem Krieg) zu schwächen. Öcalan droht hier dem türkischen Staat:32 Ist euch eigentlich nicht klar, was passiert, wenn dieser Lösungsprozess scheitert? Dann findet hier ein riesiger Krieg statt und wir werden auch vom Iran und von Israel Waffen annehmen müssen, während ihr immer mehr unausweichlich zu einer Puppe der NATO und der Gladio werdet. Ist euch nicht klar, was wir machen müssen, wenn ihr eure Syrienpolitik nicht ändert? Dann müssen wir näher an die Iran-Syrien Achse rücken. Der Iran hält schon den Irak und Syrien, wenn wir auch noch auf diese Linie umschwenken, wird er auch die Türkei übernehmen und die Türkei wird den jahrhundertealten Konflikt mit dem Iran endgültig verlieren.33 Öcalan drückt seine Befürchtung darüber aus, dass ein solcher Krieg, aber auch der Syrienkrieg, sehr schnell zu einem Stellvertreterkrieg ausarten kann.34

Zu Russland sagt Öcalan nicht viel mehr als das schon angeführte, weist aber Ende 2013 darauf hin, dass die Russen, im Gegensatz zum fehlerhaften Verhalten der Türkei, die Kurd*innen unterstützen und nach Genf einluden als Gegengewicht zu den USA und Israel.35 Damals, erinnert man sich, war die Sachlage noch ganz anders, das syrische Regime im Rückzug begriffen und eine internationale Militärintervention unter Führung der USA schien wahrscheinlich. In so einem Moment begriff Russland sehr genau, dass sich die Kurd*innen nicht zu Stellvertretern der USA machen lassen würden und als Gegengewicht zu den USA fungieren würden. Andererseits weiß Öcalan natürlich, dass die Russen ihr eigenes Interesse verfolgen: Er warnt die Genoss*innen Anfang 2014, dass sich Russland und die USA in Genf durchaus entsprechend ihren Interessen einigen könnten und ermahnt sie dazu, selbständig und mit ihrem eigenen Entwurf nach Genf zu gehen.36 Er macht sich keine Illusionen darüber, dass hier Russland irgendwie als revolutionärer Retter oder sowas fungieren könnte.

Was die USA angeht, ist Öcalan sehr eindeutig. Auf den Hinweis von Pervin Buldan, Mitglied der HDP-Delegation auf Imralı, dass ein US-Spezialist Öcalan lobe und darauf hinweise, dass niemand mehr Öcalan im alten Zustand (also in Haft) belassen könne, antwortet Öcalan lachend: „Amerika hat doch eh schon alles gemacht, was zu tun war. Sie haben uns den Krieg erklärt.“37 Seitenlang führt er in den Gesprächen aus, wie die NATO den türkischen Staat step by step ab den 1950ern übernommen und die Konterguerilla zuerst um die MHP herum, dann immer mehr mit Doğu Perinçek und der Gemeinschaft des Fetullah Gülen organisiert hat. Gefühlte zwei Dutzend Mal wiederholt er gegenüber dem Staatsvertreter bei den Gesprächen, dass die Putschistentruppe der NATO-Konterguerilla (Gladio) derzeit wie auch sonst immer dann am aktivsten wird, wenn es um die Lösung der kurdischen Frage geht. Mit allen Mitteln versuche diese Gruppe, diesmal am aktivsten in der Gülen-Gemeinschaft kristallisiert, den Friedensprozess zu beenden, den Krieg wieder aufzunehmen und Erdoğan zu stürzen. Er warnt den Staatsvertreter: Der einzige Weg der Abschaffung der Gladio sei die Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung des türkischen Staates. Ansonsten würde die Gladio versuchen, Erdoğan wegzuputschen. Ein Jahr nach dem Abbruch der Gespräche mit Öcalan fand dann auch genau das statt: Ein Putschversuch gegen das Erdoğan-Regime.

Aber fokussieren wir uns auf die Rojava-Debatte. Was Kobanê angeht, sagt Öcalan: Na sowas, bis dahin haben sich die USA keinen Zentimeter für Rojava interessiert, plötzlich redet Obama die ganze Zeit darüber.38 Damit lenke er einerseits bewusst von den Massakern in Gaza ab. Andererseits hätten die USA erst am kritischsten Punkt wirkmächtig interveniert, nämlich als Kobanê kurz davor stand zu fallen und die heftigsten Angriffe des IS über die Türkei stattfanden (29. November 2014). Hätte ein Einverständnis mit der Türkei stattgefunden, wäre die Belagerung von Kobanê schon am ersten Tag gebrochen worden. Stattdessen stünde die Türkei jetzt als böser Junge da, die USA aber als guter Cowboy. Es werde somit versucht, bei den Kurd*innen Hoffnung für den Westen zu wecken.39 Dieses Vorgehen der USA bewertet Öcalan wörtlich als „Operation“: Die USA und z.B. auch Frankreich versuchten sich jetzt als die Guten zu präsentieren und die Kurd*innen von Verhandlungen mit der Türkei abzubringen.40 Auf die Interjektion von Sırrı Sürreya Önder (Mitglied der HDP-Delegation), dass Azrael (der Todesengel), also die USA, bisher noch nie jemanden gerettet habe, und von Pervin Buldan, dass jetzt der Slogan „Biji Obama“ („Es lebe Obama“) entstanden sei, reagiert Öcalan zustimmend: Ja, diese Operation sei den USA gelungen.41 Dabei sei der IS doch offensichtlich ein Instrument der USA oder zumindest unter ihrer Kontrolle.42 Es sei deshalb im Prinzip auch egal, ob der IS vernichtet werde, denn ein zweiter IS werde gerade gezüchtet. In weiser Voraussicht sieht Öcalan Anfang 2015 diesbezüglich eine Wiederannäherung zwischen den USA und dem syrischen Regime und warnt die Genoss*innen davor: Die USA und Assad können jederzeit einzeln aber auch gemeinsam gegen euch vorgehen.43 Auch diese Voraussicht bewahrheitete sich, allerdings in dieser Form erst 1,5 Jahre später: Die Jarablus-Militäroperation der Türkei war offensichtlich mit allen internationalen Kräften abgesprochen und stellte eine – obzwar fragile – Interessenübereinstimmung dar. Kurz nach Öcalans Warnung jedenfalls gab es größere Auseinandersetzungen zwischen YPG und dem syrischen Regime in Hasêke: Laut HDP-Delegation hatten sich die Genoss*innen aufgrund der Warnungen von Öcalan auf eine solche mögliche Auseinandersetzung vorbereitet und konterten den Angriff. Öcalan ist der Meinung, dass der Iran hinter dieser Auseinandersetzung stand.44

Auch die PKK-Führung weiß sehr genau, dass alle im Syrienkrieg beteiligten Länder ihre eigenen Interessen verfolgen und niemand die Kurd*innen aus Menschenliebe oder so unterstützt. Besê Hozat, Ko-Vorsitzende der KCK, brachte das im Mai 2016 gegenüber dem LCM trocken auf den Punkt: „[W]as sie [Russland, USA, EU] gemeinsam haben [ist]: Eine pragmatische Politik, eine Kurd*innenpolitik, die auf ihren eigenen Interessen beruht. Das gilt für Russland genau so wie für die USA und die europäischen Länder.“45 Im Gegensatz zu unseren deutschen Nahostexpert*innen und ML-Heroes of the Universe weiß die PKK-Führung auch sehr gut, wie genau der US-Imperialismus die Revolution in Rojava unterhöhlen möchte und wer sonst noch Interesse daran hat: In einer Botschaft an Öcalan beim vorerst letzten Treffen mit ihm im März 2015 richteten sie ihm aus, dass die USA und Großbritannien gerade einen Schachzug gegen Rojava planen.46 Sie würden versuchen KDP-nahe Parteien zu stärken und die PKK-nahen Kräfte davon zu überzeugen, die Barzani-nahe ENKS ins Militär aufzunehmen (nach wie vor [sic!] ist in Rojava einzig und allein die YPG/J die anerkannte „offizielle Armee“). Sie würden dazu drängen, den kantonalen Status von Nordsyrien aufzuheben und Nordsyrien zu einem Föderalstaat zu machen, der sich an die KRG im Nordirak anschließen solle. Die PKK-Führung hebt hervor, dass die Imperialisten als „Argument“ hierfür einer massiven Offensive des IS bei Serekaniye zuschauen und nichts unternehmen würden. Sie weist ebenfalls darauf hin, dass sich die Koalitionskräfte hier erneut als Retter inszenieren und sie zu Zugeständnissen zwingen wollen. Öcalan stimmt der Einschätzung zu, lehnt alle Forderungen der Imperialisten (inklusive die Forderung eines unabhängigen kurdischen Staates!) ab und betont, dass die Imperialisten versuchen würden, das zu erreichen, was sie mit Kobanê gerade nicht erreichen konnten, sprich eine vollständige Integration der PKK/PYD in die Ziele und Zwecke der Imperialisten. Die PKK-Führung lässt übermitteln, dass sie sich auf eine solche Offensive vorbereitet hätten und sie derzeit zurückschlagen würden. Ihre abschließende Einschätzung ist die, dass sich die USA, EU aber auch die arabischen Staaten genau dann und immer vehementer gegen den demokratischen Konföderalismus richten und nebst der unmittelbaren Auslöschung des Projekts auch nach Wegen der Integration desselben suchen würden, umso stärker sich der demokratische Konföderalismus bei den Völkern verankert.47 Ebenfalls eine, wie die Geschichte seitdem gezeigt hat, zutreffende und punktgenaue Einschätzung.

Alle einzelnen, voneinander unabhängigen wichtigen Statements der PKK-Führung enthalten inhaltlich pi mal Daumen dasselbe und zwar von Anfang an. Hier eine Auswahl:

Murat Karayılan (damals Führer der PKK, heute Oberkommandierender der Guerilla, HPG) sprach schon im August 201248 davon, dass die kurdischen Kräfte genau so wie die Regimekräfte der Meinung sind, dass es zum wechselseitigen Nutzen ist, wenn sie nicht miteinander Krieg führen. Er weist darauf hin, dass sich die kurdischen Gebiete in ein Blutmeer verwandeln werden, falls sich die kurdischen Kräfte eindeutig für eine der beiden Hauptseiten des Konflikts entscheiden würden und erklärt, dass die von der „offiziellen“ Opposition unabhängig sind.

Sabri Ok, ein Mitglied des ZK der KCK und ehemaliger Verhandlungsführer nach 2009 in Oslo, schätzt im Juli 201349 die veränderte Situation in Syrien so ein: Er hält es für unwahrscheinlich, dass die jihadistischen Gruppierungen je Teil des Machtblocks in Syrien sein können, weil ihre Politik und Ideologie der gesellschaftlichen Struktur Syriens nicht entsprächen, sie deshalb niemals Stabilität herstellen können. Er schätzt ein, dass sich die Situation derart entwickelt, dass weder die Achse USA-EU noch die Achse Russland-China den Krieg in Syrien militärisch gewinnen können, weshalb es immer wahrscheinlicher erscheine, dass die internationalen Kräfte eine Übergangslösung vorschlagen werden im Rahmen dessen auch Elemente der syrischen Opposition in den Staat aufgenommen und ein reformerischer Übergang in ein neues Syrien eingeleitet werde. Ob das angesichts der de facto existierenden Opposition und ihres Vorgehens klappe, hält Ok wiederum für eher unwahrscheinlich und schwierig. Er sollte mit dieser Einschätzung recht behalten. Jedenfalls macht er nochmal den Punkt, dass die kurdischen Kräfte weder der einen, noch der anderen Seite zuzuordnen sind und sich mit allen Kräften an den Tisch setzen, die für ein demokratisches Syrien mit einer freiheitlichen Perspektive für die Kurd*innen einstehen.

Duran Kalkan, Gründungsmitglied der PKK, Verantwortlicher für die Kaderbildung der PKK und Vertreter des revolutionär-sozialistischen Flügels in der PKK, hebt einen Monat später50 hervor: Sie seien weder auf der Seite des Regimes noch auf der Seite des verlängerten Arms der internationalen Mächte, d.h. islamistische Banden und die „offizielle“ Opposition. Er macht klar: Forcieren sie den Krieg, dann forcieren wir ein Bündnis aller Völker gegen imperialistischen Krieg und Machtspiele für Freiheit, Demokratie und Brüderlichkeit. Auch er ist sich im Klaren darüber, dass sich alle regionalen und internationalen Kräfte an einem Punkt einig sind, nämlich darin, gegen das Revolutionsprojekt in Rojava zu sein.

Cemil Bayık, ebenfalls Gründungsmitglied der PKK, mit Besê Hozat gemeinsam die derzeitige Führung der PKK und der Vertreter der „Falken-“fraktion innerhalb der PKK, weist im Dezember 201551 darauf hin: Wir sind weder auf der Seite der USA noch auf der Seite Russlands. Versuchen sie in Rojava einzumarschieren, dann bekriegen wir alle Kräfte, die an der Invasion beteiligt sind und tragen zusätzlich den Krieg in die Türkei hinein.

Bei der Einschätzung seitens der PYD und der YPG sieht es nicht anders aus. Schon bei der Machtübernahme in Rojava 2012 erklärte der Hohe Kurdische Rat (29. Juli 2012): Wir verteidigen die Revolution, aber auf friedlichem Wege; außerdem lehnen wir Separatismus ab.52

Der Oberkommandierende der YPG, Sipan Hemo, sprach im März 201453 eindeutige Worte: Sie möchten ein Vorbild für ganz Syrien sein und hätten von Anfang an gegen die Türkei, die Saudis und die Imperialisten aber auch gegen Warlords und islamistische Banden gekämpft. Sie hätten gleichzeitig auch gegen das syrische Regime gekämpft und ihr Interesse sei die Stärkung der revolutionären Kräfte. Er weist darauf hin, dass die internationalen Kräfte ihre eigenen Ziele verfolgten und dafür den Tod von Millionen von Menschen in Kauf nehmen würden. Er spricht von „kollaborierenden Kurd*innen“ (damit meint er die Barzani-Fraktion), die mit dem Imperialismus zusammenarbeiten würden. Die imperialistischen Kräfte versuchten über jene kollaborierenden Kurd*innen und ihrem Nationalismus die Revolution zu negieren und ihre eigenen Interessen umzusetzen.

Salih Müslim, Ko-Vorsitzender der PYD, sprach erst kürzlich (10.09.16) wieder klare Worte in einem Interview mit der ARD54: Die USA und Russland seien Supermächte, die eigene Ziele verfolgen würden. Vor allem die USA seien seit Jahrzehnten Verbündete der Türkei im Rahmen der NATO und dergleichen, deshalb erwarte die PYD nicht, dass die USA auf ihrer Seite seien. Nur der Kampf gegen den IS sei es, auf den sie sich einigen könnten – wenn die USA es denn ernst meinten. Rhetorisch geschickt meint Müslim: Vielleicht sei es den Amerikanern ja doch nicht so wichtig mit dem IS, vielleicht würden sie ihn einfach weiterexistieren lassen wollen für andere Zwecke, vielleicht dafür, dass die Türkei Verwendung für ihn findet. Mit den Russen hingegen habe man schon am Anfang des Syrienkrieges Kontakt aufgenommen und pflege gute Beziehungen zum Außenministerium. Trocken und direkt meint er sodann: Die Amerikaner wissen ganz genau, was wir wollen und die Russen auch.


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