Evangelisches Gemeindelexikon



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August Herrmann Francke


Durch ihn gelang der entscheidende Durch­bruch des P. in Brandenburg-Preußen, dem mächtigsten deutschen Territorialstaat mit­ten in der jämmerlichen deutschen Klein­staaterei. Durch sein Wirken in Halle/Saale entstand der hallesche P., die »geschichtlich bedeutsamste Form, die dem P. gelang«. Die Sammlung der verratenen, von den Heimatkirchen vergessenen deutschen Einwandererströme in Nordamerika, vor al­lem in Pennsylvanien, zu einer lutherischen Kirche hat er angebahnt und damit die bishe­rige Begrenzung des Luthertums auf Europa gesprengt. Heinrich Melchior Mühlenberg (1711-1787), von Halle ausgesandt, ist dort die Zentralgestalt. Die erste, nicht mehr sporadische ev. Missionsarbeit in Indien durch die in Halle ausgebildeten Theologen Bartholomäus Ziegenbalg (1682-1719) und Heinrich Plütschau (1677-1746) ist nur durch Franckes Einsatz möglich geworden. Sie wuchs sich zu einer ökumenischen Ar­beitsgemeinschaft zwischen der lutheri­schen Staatskirche von Dänemark-Norwe­gen und der Kirche von England zusammen mit Halle aus.

Die wagemutigen pietistischen Theologie­kandidaten aus Halle ließen sich überall hinrufen: nach Rußland zum Aufbau des pe- trinischen höheren Schulwesens, als däni­sche Missionare nach Südindien, als Schul­pädagogen nach England und in den Orient.

Die seit der Reformation abgerissenen Fäden zur russisch-orthodoxen Kirche, wie auch zu den orientalischen Kirchen wurden wieder geknüpft. Eine ökumenische Diakoniege­meinschaft kam mit den großen anglikani­schen Kirchen-Gesellschaften in der Be­treuung der unglücklichen 15 000 Pfälzer in London zustande, die Religionsunterdrük- kung und Hungersnöte aus ihrem Land trie­ben. Den in Sibirien gefangenen heimweh­kranken schwedischen Kriegsgefangenen konnte Francke durch baltische pietistische Adlige am Zarenhof die Postverbindung mit ihrer Heimat vermitteln. Unter ihnen brach eine Erweckung aus; sie trugen nach ihrer Entlassung den P. mit nach Schweden. Halle lieferte schließlich dem brandenbur- gisch-preußischen Staat eine Fülle gut durchdachter Reformpläne für die ganze Breite des öffentlichen Lebens. Preußentum und P. rückten zusammen.

Wie kam Francke zu so weitgehender Wir­kung? In Lübeck als ein Sohn eines Juristen geboren, der 1666 in den Dienst Ernst des Frommen in Gotha trat, wuchs er im Mittel­punkt eines ökumenischen Luthertums und pädagogischer Reformbestrebungen auf, die zu einer wichtigen Vorstufe für ihn wurden. Nicht nur seine glänzende Sprachbegabung wiesen ihn für die akademische Laufbahn aus. Durch seine Bekehrung in Lüneburg 1687 wurden in ihm ungeahnte Kräfte freige­legt. Es kam durch ihn in Leipzig zu einer Studentenerweckung. Von Leipzig und dann von Erfurt vertrieben, vermittelte ihm Spe- ner eine Pfarrstelle und eine zunächst unbe­soldete Professur an der neu eröffneten Uni­versität Halle. Mit seinen pietistischen Freunden Joachim Justus Breithaupt (1658-1732) und Paul Anton (1661-1730), später auch Joachim Lange (1670-1744), führte er an der theologischen Fakultät die von Spener geforderte Reform des Theolo­giestudiums durch. Die Bibelwissenschaft wurde zum eindeutigen Mittelpunkt. Theo­logiestudenten aus ganz Deutschland und dem Ausland strömten nach dieser größten Fakultät.

Als Gemeindepfarrer in Glaucha bei Halle legte er mit der Eröffnung einer Armen­schule den Grund zu einer schnell wachsen­den Schüler- und Studentenstadt, die Welt­ruf erlangte. In einer erschreckenden Radi­kalität, in ihren Wurzeln aus seelsorgerli- chen Motiven mit entsprungen, verzichtete

Francke bei diesem Aufbau seiner Schul­stadt, die schließlich 3 000 Schüler, Schüle­rinnen und Studenten versorgte, auf jegliche staatliche wie kirchliche Unterstützung.

Kategorisch lehnte er alle Bettelbriefe ab. Er vertraute Gott. In einer seine Umgebung be­ängstigenden Weise lebte er dabei in den An­fangszeiten buchstäblich von der Hand in den Mund. Durch eine in ganz Europa be­rühmte kleine Broschüre hat er seine Erfah­rungen bei diesem »Glaubensexperiment« weitergegeben. »Von den Fußstapfen des noch lebenden und liebreichen und getreuen Gottes zur Beschämung des Unglau­bens .. .« Dem Zweifel hielt er entgegen: Realist ist, wer mit Gott rechnet. Ungezähl­ten hat er damit wieder Mut gemacht. Später hat er durch wegweisende wirtschaftliche Unternehmungen großen Stils in eigener Regie neben einem nicht abreißenden Ga­benstrom gewisse regelmäßige Einnahmen gewonnen. Francke ist mit der Bibel und mit Johann Arndts »Wahrem Christentum« auf­gewachsen, verbunden mit einem ehrlichen lutherischen Grundbekenntnis. Er war zu­gleich ein typischer Vertreter der Barockzeit, die eine nie versagende Freude an immer neuen Plänen zur Weltverbesserung hegte.

Die Staats- und Gesellschaftsutopien des 16. und T7. Jh.s wurden aufgegriffen. Francke hat sich von den Staats- und Sozialutopien Johann Valentin Andreas und den pädagogi­schen und ökumenischen Gedanken eines Johann Arnos Comenius (1592-1670) anre­gen lassen und plante eine Generalreform der Welt aus den Kräften eines erweckten Christentums, »eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Deutsch­lands, in Europa und in allen Teilen der Welt«. Halle sollte ein Zentrum dafür bil­den. Diese Pläne ließen sich nur in Anfängen verwirklichen. In seinen Theologiekandida­ten, die er als Lehrer in sein Schulwerk ein­spannte, sah er seine geeignetsten Mitarbei­ter. Wegweisend war auch sein Waisenhaus, das erste in Europa, das mit den Tochter­gründungen in vielen Ländern erstmalig den schauerlichen Ruf der Waisenhäuser als Brutstätten früher Kindersterblichkeit ver­lor. Zusammen mit dem Freiherrn Carl Hil­debrand von Canstein (1667-1719) gelang die Gründung der ersten deutschen Bibelan­stalt, die billige Bibeln unter das Volk brach­te.

Die ganze radikale, praktisch-nüchterne, von einem verhaltenen Enthusiasmus be­seelte Weltzugewandtheit über alle mysti­schen Einschläge hinaus will als ein echter Versuch einer Zurückwendung zum Ur­christentum mit seinem Ruf zur Brüder­lichkeit wie zur lutherischen Reformation verstanden sein. Der Barockpietismus hat freilich durch die auf genommenen optimi­stisch-aufklärerischen Einschläge seiner Weitsicht zu spät die destruktiven Momente der Aufklärungszeit entdeckt. Er wurde zur Seite geschoben. Er ist zudem wesentlichen Fragen ausgewichen, die die —> Aufklärung stellte. Francke fand auch keine ebenbürti­gen Nachfolger in Halle.



  1. NIKOLAUS LUDWIG VON ZINZENDORF (1700-1760). Ihm gelang es, durch alle auch staatspolitischen Bedrohungen die Herrnhu­ter —» Brüdergemeine, deren Begründer er wurde, als selbständige Freikirche, die ihre wesentlichen Impulse dem P. verdankt, si­cher hindurchzuführen. Aus niederösterrei­chischem Hochadel stammend, wurde er als Sohn eines kursächsischen Kabinettsmini­sters in Dresden geboren, wurde bei seiner Großmutter, die Spener wie Francke eng verbunden war, erzogen und danach Zögling des halleschen Pädagogiums, speiste am Tisch Franckes und wußte von all dessen Aktivitäten. Doch den Bekehrungsp., den halleschen Bußkampf, der sich dort entwik- kelte, akzeptierte er nicht. Wenn er auch





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