Soziale Frage
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DIE S.F. IM ZUSAMMENHANG DER INDUSTRIELLEN REVOLUTION
Als s.F. bezeichnet man zusammenfassend den mit der europäischen industriellen Revolution des 18. und 19. Jh.s verbundenen ökonomischen, gesellschaftlichen und geistigen Umbruch, der bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Situation der vorindustriellen Gesellschaft kann durch überwiegend von der Landwirtschaft bestimmte Struktur, ständische Ordnung und zentrale Stellung einer meist geheiligten Tradition gekennzeichnet werden. Mit der industriell-arbeitsteiligen Fabrikproduktion, die Handwerk und Manufaktur als den bisher überwiegenden Produktionstyp ablöste, änderte sich das gesellschaftliche Gefüge radikal (»Revolution«). Wesentliche Kennzeichen der industriellen Gesellschaft sind neben der mechanisierten Fabrikproduktion: Verstädterung, Trennung von Wohn- und Arbeitswelt, Änderung von Stellung, Form und Funktion der —> Familie, Expansion von Handel und Gewerbe, Verwandlung der Mehrzahl der Bevölkerung in unselbständige Arbeitnehmer, Untergliederung der Arbeitnehmerschaft in verschiedene Schichten wie Angestellte und Arbeiter, soziale Mobilität (gesellschaftlicher Auf- und Abstieg), Demokratisierung und Bürokratisierung. Der sich in relativ kurzer Zeit vollziehende Umbruch führte zu erheblichen Krisensituationen.
Arbeitslos gewordene Handwerker, Bauern und Landarbeiter strömten in die neu entstehenden großstädtischen Industriebezirke. Dem bisherigen Ordnungsgefüge und der damit verbundenen sozialen Sicherung entrissen, war dieses Industrieproletariat gezwungen, seine Arbeitskraft gegen minimale Bezahlung zu oft unmenschlichen Bedingungen (z.B. Kinderarbeit) bei fehlender sozialer Sicherung an die privaten Produktionsmittelbesitzer zu verkaufen. Es entstanden große gesellschaftliche Widersprüche und Spannungen. Denn im Gegensatz zu Demokratisierung und sozialer Mobilität als den Voraussetzungen und Kennzeichen der industriellen Gesellschaft verfestigte sich durch Vergrößerung des Kapitalbesitzes der Unterschied zwischen den Privateigentümern an Produktionsmitteln und dem abhängigen Industrieproletariat. Die soziale Lage der Arbeiterschaft bildet deshalb das Kernproblem der s.F. Heute geht der Streit darum, ob in einem sozialen und freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat die Klassengegensätze prinzipiell überwunden seien oder ob es dazu des Alternativmodells des —> Sozialismus bedürfe.
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KIRCHE UND S.F.
Der häufig zu hörende pauschale Vorwurf, die Kirche habe angesichts der s.F. versagt, wird den geschichtlichen Vorgängen nicht gerecht. Die offizielle Amtskirche freilich verhielt sich insgesamt passiv. Es kam zu einer weitgehenden Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft. Der entscheidende Fehler von Kirche und Theologie angesichts der s.F. lag aber nicht auf karitativem, sondern auf theologischem Gebiet. Die Amtskirche war von ihrer geschichtlichen Verfassung und ihrem Selbstverständnis her ganz in die ständische Ordnung eingegliedert. Der durch die industrielle Revolution bedingte Verfall der ständischen Ordnung und die mit den neuen Klassengegensätzen verbundene Not, wurden als Abfall von der göttlichen Natur Ordnung interpretiert, umso mehr, als er auch die traditionelle gesellschaftliche Position der Kirche unterhöhlte. Mit Hilfe der Ordnungstheologie wurde die ständische Gesellschaft zum gottgewollten Normalfall von Gesellschaft erklärt. Eine Heilung konnte man nur im Zurück erblicken. - Ganz anders verhielten sich einzelne Christen und Gruppen, die von der -> Erweckungsbewegung (z.B. J. H. -»■ Wiehern 1808-1881, Chr. Blumhardt 1842-1919) her kamen und aufgrund einer lebendigen —> Reich-Gottes-Hoffnung für die Zeichen der Zeit und die Zukunft aufgeschlossen waren. Wenn die Bindung der damaligen Amtskirche an die ständische Gesellschaft auch in diesen Kreisen nicht immer ganz durchschaut wurde, so war man sich doch dessen bewußt, daß man unglaubwürdig wird, wenn man den Armen das Evangelium verkündigen will, ohne ihnen zuvor in ihrer materiellen Not geholfen zu haben. Des weiteren hatte man erkannt, daß es nicht nur kirchlich-karitativer Hilfe, sondern ebenso staatlich-struktureller Gesellschaftsreformen bedarf, um die Not zu beheben (vgl. Wicherns berühmte Programmrede zur —»Inneren Mission auf dem Wittenberger Kirchentag 1848). Da sich die verfaßte Kirche abseits hielt, wurden freie —» Vereine und Kongresse zur normalen Organisationsform christlich-diakonischer und -sozialpolitischer Arbeit. Auf dieser Basis konnten die Gesellschaftsstrukturen zwar nur indirekt, z.B. über die Sozialgesetzgebung, beeinflußt werden, jedoch ist der moderne Sozialstaat zweifellos nicht ohne die Impulse aus der christlichen —> Diakonie denkbar.
Lit.: G. Brakeimann, Die s.F. des 19. Ih.s, 1975S — ders., Kirche, s.F. und Sozialismus, Bd. 1: Kirchenleitungen und Synoden über die s.F. und Sozialismus 1871-1914, 1977 (mit Bibliographie) -
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SXandes, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, 1973
Mayer
Sozialismus
1. BEGRIFF
Unter S. im weitesten Sinne versteht man eine Lehre, die größere soziale Gerechtigkeit in der Verteilung des Besitzes und des Einkommens fordert. Der S. bildet damit einen Gegensatz zum Liberalismus. Während der Liberalismus das Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen durch freie Entfaltung der einzelnen in einer gut funktionierenden Konkurrenzgesellschaft bei einem Minimum staatlicher Regulative erwartet, macht der S. gerade dieses Konkurrenzsystem mit seinen ungleichen Ausgangschancen (z.B. durch kapitalistische Produktionsweise, Erbrecht) für die Unfreiheit der Bevölkerungsmehrheit verantwortlich und will den wirtschaftlichen Prozeß durch bewußte Planung zum Wohle aller steuern.
S. darf nicht mit Kommunismus verwechselt werden. Während die Zentralidee des Kommunismus die allgemeine Gütergemeinschaft, also die Abschaffung des Privateigentums ist, will der S. das ->• Eigentum beibehalten, fordert vielmehr eine andere, gerechtere Verteilung des Eigentums. Zentralidee ist die des genossenschaftlichen Eigentums, vor allem an unbeweglichen Gütern.
Karl Marx (1818-1883) jedoch hat S. und Kommunismus in der Weise verbunden, daß er S. zur Vorstufe des Kommunismus erklärte, zur ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft nach der proletarischen Revolution. Seither herrscht Begriffsverwirrung. Während sich heute im Ostblock für den Marxismus-Leninismus die Bezeichnung »Wissenschaftlicher Kommunismus« durchgesetzt hat, sprechen die in westlichen und neutralen Ländern beheimateten Kommunisten weiterhin vom »Wissenschaftlichen Sozialismus«. Daher muß bei
der Rede über den S. immer zurückgefragt werden, ob und inwieweit die marxistische Ideologie vorausgesetzt wird.
2. VERTRETER SOZIALISTISCHER IDEEN VOR MARX
werden frühsozialisten genannt. Zu ihren führenden Köpfen zählten u.a. der französische Graf Claude H. Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837) und Robert Owen (1771-1858). Ihr soziales Engagement speiste sich aus radikal-demokratischen, moralisch-humanistischen und christlichen Motiven, verbunden mit dem Fortschrittsoptimismus der —» Aufklärung. Aufgrund der genannten Begriffsverwirrung werden oft auch Frühkommunisten als Frühsozialisten bezeichnet. Die wesentlich ältere Bewegung des Frühkommunismus kann von der persischen Sekte der Mazdaki- ten (um 500 n.Chr.) über die mittelalterliche Sekte der Patarener, die Wiedertäufer der Reformationszeit bis zur Französischen Revolution verfolgt werden. Hervorragende Köpfe waren u.a. Francois N. Babeuf (1760-1797), Louis A. Blanquij 1805-1881), Wilhelm Weitling (1808-1871) und Etienne Cabet (1788-1856). Ihnen allen war die Idee eines goldenen Zeitalters gemeinsam, das nicht nur, wie im griechischen Mythos, am Anfang der Menschheitsgeschichte steht, sondern an den Horizont der Zukunft projiziert, zum politischen Ziel erklärt wird und mit allen Mitteln, auch mit Gewalt, anzustreben ist.
Frühkommunismus war immer eine Angelegenheit von sektenhaften Zirkeln. Er ist seiner Herkunft nach der agrarischen Kulturstufe zuzuordnen. Der Frühsozialismus dagegen war Ergebnis der industriellen Revolution, er wollte eine Antwort auf die —» soziale Frage geben und wurde sehr bald zu einer Massenbewegung. Die politische Taktik von Marx bestand darin, seiner kommunistischen Überzeugung durch den Anschluß an die sozialistische Massenbewegung die notwendige Durchschlagkraft zu geben und dennoch zugleich die sozialistische Idee gegenüber der kommunistischen abzuwerten, indem er sie zur Vorstufe des Kommunismus erklärte.
Seit Marx ist der S. mit den Ideen des —» Marxismus verwoben. Es gab immer wieder Versuche, diese Klammer aufzubrechen. Vor allem Eduard Bernstein (1850-1932) hat den S. auf die evolutionär-demokratische Praxis konkreter Reformarbeit zurückführen und von der marxistischen Utopie mit ihrer revolutionären Praxis lösen wollen. Ähnliches beabsichtigt auch der »demokratische Sozialismus«, der an die Stelle der einmaligen proletarischen Revolution die stete Reformarbeit im Bick auf Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde setzen will. Diese Haltung wird von marxistischen Sozialisten und Kommunisten als »Revisionismus« verworfen.
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CHRISTENTUM UND S.
Versteht man S. im weitesten Sinn als ein Engagement für größere soziale Gerechtigkeit, so lassen sich sozialistische Ideen nicht nur ohne weiteres mit dem christlichen Glauben verbinden, sondern folgen geradezu aus diesem. Speiste sich schon der Frühsozialismus z.T. aus christlichen Motiven, insbesondere bei Philippe J. B. Buchez (1796-1865) und Pierre Leroux (1797-1871), so findet man nachmarxistisch eine Verbindung bei Christoph —» Blumhardt (1842 -1919) und bei der Schweizer »Religiös-sozialen Bewegung«, die von Leonhard Ragaz (1868-1945) und Hermann Kutter (1863-1931) getragen wurde und auch Karl Barth (1886-1968) beeinflußte. Blumhardt war von 1900-1906 Abgeordneter der damals als atheistisch geltenden Sozialdemokratischen Partei im Württember- gischen Landtag. Er sah im S. ein »Feuerzeichen« des sich nahenden —» Reiches Gottes, das der christlichen Gesellschaft Gericht ankündigt. »Und wenn die christliche Gesellschaft sich einem Gericht gegenübersieht, so möge sie nicht trotzen, sondern sich besinnen, was ihr von Wahrheit entgegentritt. Ja, es ist Wahrheit, daß der Geiz die Wurzel alles Übels ist.« In seinen späteren Jahren lebte Blumhardt zurückgezogen und bekannte sich zu der Einsicht, daß »das Allumfassende des S. in Christus, der allen Menschen gleich hoch gegenübersteht« iii der Gegenwart keinen »Boden zur Verwirklichung« habe.
Ragaz und Kutter knüpften an das realistische Reich-Gottes-Verständnis Blumhardts an, vor allem Ragaz ging aber in der Verbindung von Christentum und S. insofern einen Schritt weiter, als er meinte, auf dem Wege über die Vereinigung von Christentum und S. werde sich das Reich Gottes verwirklichen. An dieser Stelle wird die Verbindung von Christentum und S. problematisch, weil vom Menschen her vorgeschrieben wird, auf welchem Wege Gottes Reich in die Welt kommt. Sie wird weiterhin auch dann problematisch, wenn die Verknüpfung mit einem von der marxistischen Ideologie abhängigen S. versucht wird. Während sowohl der »Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands« (1924 -1933) wie der »Bund religiöser Sozialisten« (gegr. 1948 in Kassel) Christentum und marxistischen S. als eigenständige Größen ansehen, die sich lediglich gegenseitig ergänzen, indem der S. der Kirche seine Ziele als geeignete Mittel zur Realisierung des Willens Gottes verdeutlicht und umgekehrt das Christentum der sozialistischen Bewegung sittliche Kräfte zuführt und den Hoffnungshorizont lebendig erhält, erstrebt die internationale Bewegung »Christen für den Sozialismus«, die 1971 von Chile ausging, nach den Worten Dorothee Söll es eine direkte Verknüpfung von Christentum und S. als »neue christlich-sozialistische Identität«. Bei Solle wird S. im Sinne des Marxismus verstanden und das Christentum ideologisch umgedeutet. Wie weit das für alle oder den überwiegenden Teil der »Christen für den S.« gilt, läßt sich heute noch nicht überblicken. Die Differenz zwischen Christentum und einem marxistisch verstandenen S. bezieht sich vor allem auf das Menschenbild und die Zukunftserwartung. Während der vom Marxismus abhängige S. einen persönlichen Gott ablehnt und glaubt, wenn man die Gesellschaft ändere, würde auch der Mensch neu werden und mit geschichtlicher Notwendigkeit aus menschlicher Kraft ein innerweltliches kommunistisches Friedensreich entstehen, weiß das Christentum, daß der Mensch nur durch die Vergebung und den Glauben an Jesus Christus neu werden kann. Seinen Impuls zum Handeln schöpft der christliche Glaube aus der Erwartung des Reiches Gottes, das weder bloß zukünftig noch bloß jenseitig ist, jedoch nicht durch menschliche Anstrengung herbeigeführt werden kann, sondern allein durch Gottes schöpferischen Eingriff in die Weltgeschichte entsteht.
Lit.: G. Bartsch, Kommunismus, S. und Anarchismus. Wurzeln, Unterschiede und Gemeinsamkeiten, 1976 - A. Pfeiffer (Hg.), Religiöse Sozialisten (mit Bibliographie), 1976 - J. M. Lochmann, Christus oder Prometheus? Die Kernfrage des christlich-marxistischen Dialogs und die Christologie, 1972 - Christen für den S., Bd. 1 Analysen, Bd. 2 Dokumente, 1975
Mayer
Sozialismus, Religiöser
Religiöser Sozialismus (r.S.) - Gesamtbezeichnung für die im 19. Jh. in Europa und den USA aufkommenden Bestrebungen zur Überwindung der zwischen Christentum und sozialer Bewegung entstandenen Entfremdung. In den USA suchten die Kongregationalisten Washington Gladden (Applied Christianity, 1887) und Josiah Strong, der Unitarier Peabody (Jesus Christ and the Social Question, 1900) und vor allem der —» Baptist Walter Rauschenbusch (Christianity and the Social Crisis, 1907; Christianizing the Social Order, 1912; Theology of the Social Gospel, 1917) den religiösen Individualismus der Erweckungsfrömmigkeit zu überwinden und die Frohbotschaft als »soziales Evangelium« zu verstehen. - In England begründeten F. D. Maurice (1805-1872) und Ch. Kingsley (1819-1875) einen christlichen Sozialismus. - In Frankreich waren im 19. Jh. Saint-Simon (1760-1825) Lamennais (1782-1854) Vorläufer, im 20. Jh. Fallot (La religion de la soli- darite, 1908), Gounelle (Les principes reli- gieux essentiels du christianisme social, 1900) und W. Monod (L'Eglise peut-elle don- ner une äme ä la societe des nations?, 1936) Vertreter eines r.S. — Angeregt durch den schwäbischen Pietisten Chr. —» Blumhardt bildete sich in der Schweiz die r. s. Bewegung unter Führung von Kutter (Sie müssen, 1903), Ragaz (Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart, 1906) und anfänglich Karl -> Barth, E. Thurneysen u.a. Der r.S. konnte vor allem in Gebieten mit reformierter Tradition Fuß fassen und an den Gedanken von der Herrschaft Christi über die ganze Welt anknüpfen. Hinzu kommt das Verständnis des -> Reiches Gottes als einer diesseitigen sittlichen Größe (vgl. A. Ritschl). Ein dynamisches Offenbarungsverständnis ermöglicht es dem r.S., ein positives Verhältnis sogar zum atheistischen -» Sozialismus zu gewinnen: wenn auch Gott sich entscheidend in Jesus offenbart hat, so ist seine Selbsterschließung in der Geschichte damit nicht abgeschlossen, sondern findet ihre Fortsetzung in Reformation und sozialer Bewegung der Gegenwart. Auch wo sich Marxisten als Atheisten gebärden, gilt: Jesus ist Sieger! Nach 1918 bildeten sich in Deutschland drei r.S. Gruppen: in Baden der »Volkskirchenbund ev. Sozialisten«, in Berlin der »Bund rel. Sozialisten« und der
Kölner r.S. Arbeitskreis. Diese Gruppen schlossen sich 1924 zur »Arbeitsgemeinschaft der Rel. Sozialisten Deutschlands«, 1926 zum -» Bund der Relig. Sozialisten Deutschlands« zusammen (Ztschr. Der rel. Sozialist; seit 1949: Christ und Sozialist). In Deutschland traten theologisch führend hervor der Sozialethiker G. Wünsch und P. Tillich (1886-1965; Religiöse Verwirklichung, 1930; Die sozialistische Entscheidung, 1933 (eingestampft!) und 1948). Die öffentliche Wirkung war zunächst gering, da sich die Dialektische Theologie Barths u.a. gegen eine Gleichsetzung weltlicher Programme mit dem Reiche Gottes wandte und politisch der —» Marxismus vom Nationalsozialismus verdrängt wurde. Jedoch in der Arbeit der -» ökumenischen Bewegung und nach 1945 in der -» Ev. Kirche in Deutschland (Ev. Kirchentag, Ev. Akademien) sowie in der Aufgeschlossenheit der Sozialdemokratie für christliches Gedankengut (Godesberger Programm von 1959) hat sich r.S. Gedankengut durchgesetzt. Seit 1976 entfaltet der Bund der R.S. Deutschlands wieder eine regere Wirksamkeit. Der »Internationale Bund der R.S.« hat seinen Sitz in Bent- veld/Holland. - Auch in der Katholischen Kirche gibt es seit 1929 Ansätze einer r.S. Bewegung (Kath. Arbeitsgem. im Bund der R.S., Organ »Das Rote Blatt« der kathol. Sozialisten; Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Katholiken in Wien).
Lit.: Art. Rel.-sozial. Bewegung, Sozialismus II. in RGG, 3. Aufl. 1961 f. - H.-J. Birkner, R.S., in: W. Schmidt (Hsg.), Gesellschaftl. Herausforderung des Christentums, 1970, S. 29-38, G. Ewald (Hg.) Religiöser Sozialismus, Urban Taschenbücher (T- Reihe) r977
Schrey
Spätregenbewegung -» Perfektionismus III
Spener —» Pietismus III. a Spiritismus -» Aberglaube 7.
Spiritualismus
Der Spiritualismus, dessen Vorläufer in der mittelalterlichen Mystik zu suchen ist, trat greifbar, jedoch nicht einheitlich, in der Reformation auf. Thomas Müntzer, Hans Denck, Sebastian Franck und Caspar v. Schwenckfeld sind seine Hauptvertreter. Das Luthertum kennt spiritualistische Einflüsse, die über Valentin Weigel und Johann Arndt bis zu Jakob Boehme und dessen Schülern und schließlich bis zum —» Pietismus reichen. Im deutschen Pietismus haben vor allem Gottfried Arnold, aber auch die »wahren Inspirationsgemeinden« und andere religiöse Individualisten dem S. nahegestanden oder ihn repräsentiert, im englischen Puritanismus waren die Hauptvertreter die —> Quäker. Die —> Erweckungs- und —> Gemeinschaftsbewegung hat vielfach spiritua- listisches Gut bewahrt. - Grundlegend für den S. ist das Gegenüber von Äußerlichem und Innerlichem. Wirklich ist nur das vom Geist (Lateinisch: spiritus) Hervorgebrachte, das mit der »Welt« in eine solche Spannung gerät, daß beide Bereiche auseinanderbrechen. So entsteht eine dualistische Schau, die der äußerlichen »Mauerkirche« die innere »Geistkirche«, den äußeren —> Sakramenten den inneren Glauben, dem Buchstaben den Geist, dem geschichtlichen Jesus den inwendigen, im Herzen wiedergeborenen Christus gegenüberstellt. Die Kirchengeschichte kann nicht anders als ein Prozeß fortlaufender Verweltlichung bzw. als Verfall verstanden werden. Der Gegensatz von Buchstaben und Geist fördert im S. den Abbau der Autorität der Bibel entweder durch »geistliche«, d.h. typologisch-allego- rische Auslegung oder durch neue Geistoffenbarungen (inneres Licht oder inneres Wort), die entweder der Bibel zur Seite oder an deren Stelle gesetzt werden. Die Ablehnung der Kirche und der Sakramente kann zur Separation oder zur »inneren Emigration« aus der Kirche führen. - Eigentliche spiritualistische Gemeindebildungen gab es nicht, da dies wiederum äußere Ordnungen nach sich ziehen müßte. Auch die Schwenckfelder, die Inspirationsgemeinden und die Quäker bilden keine Ausnahmen. Die ersteren waren ursprünglich reine Lesegemeinden, die sich erst nach ihrer 1734 erfolgten Auswanderung nach Pennsylvanien zu einer kleinen selbständigen Kirche entwickelten. Die wahren Inspirationsgemeinden waren stets um inspirierte Propheten versammelt; jedoch ist diese Gabe in ihren Reihen seit geraumer Zeit ausgestorben, weshalb sie nur Lesegottesdienste durchführen (heute in Amana-Kolonien, Iowa/USA). Bei den Quäkern hat die Innerlichkeit keinen Rückzug aus der Welt, sondern eine aggressive Ethik zur Folge gehabt, die mehr als der S. das Gruppenbewußtsein hervorbringt. - Der Hl. Schrift ist der spiritualistische Dualismus von Geist und Welt fremd. Er be
ruht auf philosophischen (platonisch-neu- platonischen) Voraussetzungen. Der Hl. —» Geist der Schrift führt nicht in das »Prinzip Innerlichkeit«, sondern drängt zur Verleib- lichung in der sichtbaren Gemeinde und Welt.
Lit.: R. M. Jones, Geistige Reformatoren, 1925 -G. H. Williams (Hg.), Spiritual and Anabaptist Wri- ters, 1957
Geldbach
Spitta, Karl Johann Philipp, *1.8.1801 Hannover, 128.9.1859 Burgdorf; ev. luth. Pfarrer, Liederdichter. Nach einer Uhrmacherlehre studierte S. in Göttingen Theologie. Von seinen rationalistischen Lehrern unbefriedigt geblieben, wandte er sich der Erweckungstheologie (—> Tholuck) zu. Seine Tätigkeit als Hauslehrer seit 1824 in Lüne bei Lüneburg ließ ihn zum Bibeltheologen und Dichter geistlicher Lieder heranreifen. 1828 Pfarrgehilfe in Sudwalde, 1830 Garnison- und Gefängnisprediger in Hameln, 1837 Pfarrer in Wechold wurde er seiner besonderen seelsorgerlichen Begabung wegen 1847 als Superintendent nach Wittingen, 1853 nach Peine, 1859 nach Burgdorf berufen. Klarheit und schlichte Frömmigkeit kennzeichnen Leben und Lieder S.s (z.B. »Bei dir, Jesu, will ich bleiben«, »Es kennt der Herr die Seinen«, »O komm, du Geist der Wahrheit«).
Lit.: Handbuch zum Ev. Kirchengesangbuch Il/i, 1957, 282ff. - K. Hardeland, P.S., der Sänger von »Psalter und Harfe«, 1957
Balders
Karl Johann Philipp Spitta
Lit.: E. Schick, Chr. Fr. Spittler, 1956-E. Staehelin, Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Aufklärung und der beginnenden Erweckung, 1970 - ders., Die Christentumsgesellschaft in der Zeit von der Erweckung bis zur Gegenwart, 1974 Haag
Christian Friedrich Spittler
Spittler, Christian Friedrich, *12.4.1782 Wimsheim/Württ., f8.12.1867 Basel. S. wird nicht Theologe wie sein Vater, sondern »Stadtschreiber« in Steinheim und Schorndorf, von wo ihn K. F. —> Steinkopf 1801 als Sekretär der Deutschen ^ Christentumsgesellschaft nach Basel beruft. Durch ausgedehnte Korrespondenz wirkt S. in viele Länder hinein, während er in Basel eine der führenden Persönlichkeiten eines aktiven —» Pietismus wird. Sein Glaube und seine Organisationsgabe befähigen ihn, verschiedene Werke der Inneren und Äußeren Mission ins Leben zu rufen: Basler Bibelgesellschaft (1804), Basier Mission (1815), Rettungshaus für verwahrloste Kinder mit Lehrerseminar in Beuggen (1820), Taubstummenanstalt in Beuggen, später in Riehen (1830), Pilgermission St. —> Chrischona (1840), Kinderspital in Basel (1846), Waisenhaus in Lahr- Dinglingen (1849), Diakonissenanstalt in Riehen (1853), Syrisches Waisenhaus in Jerusalem (1860).
Sport
Die vielfältigen Formen körperlicher Bewegung haben in der Neuzeit zu einem organisierten Sportbetrieb mit Vereinen, Verbänden und internationalen Dachorganisationen, die feste Regeln setzen, geführt. Man kann grob den Hochleistungs- (oft Berufs-) und den Freizeit- und Wettkampfsport unterscheiden. Während der erstere ausschließlich auf stete Leistungsverbesserung gerichtet ist, sollte der Leistungsgedanke beim zweiten der Freude an der Bewegung bei zunehmender Bewegungsarmut, der Gestaltung länger werdende Freizeit und der Gemeinschaft bei wachsender Vereinzelung untergeordnet bleiben. Kirche und Theologie haben dem S. gegenüber lange Zeit abseits gestanden. Lediglich einzelne haben auf die Möglichkeit kirchlicher Arbeit durch S. hingewiesen, besonders der —> Christliche Verein Junger Männer, in dessen Reihen Basketball und Volleyball als »christliche« Spiele erfunden wurden. S. macht die Kirche auf die Leiblichkeit des Menschen aufmerksam und damit auf die schöpferische Entfaltung von Kräften im zweckfreien Tun, aber auch auf die Notwendigkeit der Förderung des Gemeinschaftssinns und der Gesundheitspflege - z.B. Sport als vorbeugende, heilende und rehabilitierende Maßnahme bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen - mit recht verstandener asketischer Lebensführung. Allerdings kann und muß die Kirche auch warnen vor den Gefahren des Spitzensports für den einzelnen Athleten (insbes. Kinder), der Kommerzialisierung, der Verrohung der Sitten bei nicht S.treibenden Zuschauern, wie auch der Wertung des S. als eine Ersatzreligion. - Die —» EKD hat ein Sportpfarramt, das in enger, kritischer Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sportbund neue Modelle für Familien-, Alten-, Versehrten- und Gefangenensport zu entwickeln sich bemüht.
Lit.: EKD (Hg.), S., Mensch und Gesellschaft, 19722 - E. Geldbach, S. und Protestantismus, 1975
Geldbach
Sprache Kanaans
I. Die pervertierte Sprache Kanaans Es gibt unter Christen eine entartete, widernatürliche, frömmelnde Sprache, die gespickt ist von Zitaten aus der Hl. Schrift und aus Werken großer Väter des Glaubens. Sie wird oft gesucht und gebraucht, um Probleme und Nöte zu übertünchen, um eigene Fehler und Unzulänglichkeiten zu verbergen und zu vertuschen. Ein solches Reden in abgeschliffenen Sprachstücken ist unecht und heuchlerisch. Diese pervertierte Sprache Kanaans stößt ab und macht den Redenden unglaubwürdig. Oft steckt hinter einer solchen Art zu reden die Angst vor der Wirklichkeit und vor der Sprache der Welt. Ihr gegenüber fordert Karl -» Barth mit Recht Ehrlichkeit der Sprache: »Sprich deine eigene Sprache! Tritt nicht in dem Königsmantel der Sprache Kanaans oder als kleiner Luther auf!«
n. Vom rechten Gebrauch der Sprache Kanaans
In Jes 19,18 bezeugt das Festhalten an der S.K.s bei jüdischen Gemeinden in Ägypten ihr Bleiben im Bekenntnis zum Gott der Väter.
Bezeichnet man das hebräische und griechische Sprechen der Hl. Schrift als Sprache Kanaans und teilt man zugleich die Überzeugung, daß die —» Bibel unübersetzbar ist, so muß eine nicht pervertierte Sprache Kanaans Bestandteil unseres heutigen Sprechens werden. Ein voreiliges oder gar saloppes Übersetzen und Interpretieren der biblischen Botschaft überdeckt die biblischen Wahrheiten mit dem Zeitgeist und höhlt die Inhalte des Glaubens aus. Wie für alle Gebiete, so gilt auch für den Christen: Jede spezifische Sache braucht eine spezifische Sprache. Die Botschaft vom Kreuz, die —> Wiedergeburt, die Bekehrung und die empfangene Gnade ist bis hin in die sprachliche Gestaltung des Zeugnisses unübersetzbar. Die echte Sprache Kanaans ist aber nicht fixiert in die Vergangenheit, sondern sie wird lebendig, indem sie in neue Zusammenhänge gestellt wird. Dabei ist das bewußte Verhältnis zur Vergangenheit bereits neue Erkenntnis, die sich in die Sprache der Welt einfügt. An dem falschen oder echten Gebrauch der Sprache Kanaans wird sichtbar, ob ein Christ bloß der Vergangenheit entlangfährt oder in die Zukunft Gottes unterwegs ist. Ohne die Sprache der Vergangenheit wird die Gegenwart sprachlos (Walter Killy). Ohne die Sprache der Welt wird die Sprache Kanaans verballhorntes Bibeldeutsch. Es gilt eine doppelte Freiheit zu gewinnen, die Freiheit zur Sprache Kanaans und die Freiheit zur Sprache der Welt.
Lit.: R. Bohren, Predigtlehre, 1972 Bräumer
Spurgeon, Charles Haddon, *19.6.1834 Kelvedon (Essex), t3i*i*i892 Mentone (Frankreich); englischer Baptistenprediger.
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LEBEN: Aus independentistischen Elternhaus kam S. am 8.1.1850 in einer Primitive -* Methodist Church zum Glauben. »Um Christ nach apostolischem Muster zu werden«, ließ ersieh am 3.5.i85obei den—» Baptisten taufen. Bereits 1851 Gemeindepastor in Waterbeach, predigte er von 1854 an in der Londoner Gemeinde New Park Street. r86i wurde wegen der großen Zahl der Predigthörer das Metropolitan Tabernacle mit 5000 Sitzplätzen eingeweiht; die Gemeinde wuchs jährlich um ca. 380 getaufte Mitglieder. Seit 1855 wurden seine Predigten wöchentlich in großen Auflagen über die ganze Welt verbreitet. 1856 begann S. mit der Ausbildung von Predigern am eigenen Pastors College (»Ratschläge für Prediger«, Neuaufl. dt. 1975), 1866/79 tnit der Betreuung von Waisenkindern (Stockwell Orphanage).
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VERKÜNDIGUNG: S.s. Verkündigung ist durch Eindeutigkeit ihres Inhalts und Reichtum in der Form gekennzeichnet. Er predigte »Gnade und Gehorsam«, d.h. die »zwei großen, parallellaufenden Wahrheiten von der göttlichen Unumschränktheit und der menschlichen Verantwortlichkeit«, deren Hauptnenner sein Altersbekenntnis wiedergibt, »meine ganze Theologie ist auf vier Worte zusammengeschrumpft: Jesus starb für mich«. Durch Selbststudium Theologe von hoher Bildung, hielt er als Erweckungsprediger an der —» Prädestinationslehre fest, ebenso an einer strengen Inspirationslehre (—» Bibel), deretwegen er r887 die Baptist Union verließ, selbst Baptist bleibend (»Wer seine Bibel liest, um Fehler darin zu finden, wird bald gewahren, daß die Bibel Fehler bei ihm findet«). Unter seinen schriftstellerischen Arbeiten ragt der 7-bändige Psalmenkommentar »Die Schatzkammer Davids« (dt. i894ff.) heraus. S.s. Sprache war für jedermann verständlich, eindringlich und humorvoll; er beherrschte meisterhaft die »Kunst der Illustration« (dt. um t905s), die sich aus einer geistlichen Betrachtung von »Bibel und Zeitung« (dt. 1881), Schöpfung und Geschichte nährte, und hat sich auch vor öffentlichen Stellungnahmen (u.a. zur Sklavenfrage) nicht gescheut, denn »Gottes Ehre ist unser Ziel. Wir suchen sie, indem wir uns bemühen, die Heiligen zu erbauen, die Sünder zu retten«.
Lit.: Von S.: Alles zur Ehre Gottes. Autobiographie, 1984 - Auf dein Wort, 19782 - Aus der Schatzkammer Davids, 19832 - Betet ohne Unterlaß, 1982 - Guter Rat für allerlei Leute, 19852 - Der gute Kampf des Glaubens, 1979 - Kraft der Verheißung, 1985 - Gehe in den Weinberg, 1984 - Ein Gramm Glaube wiegt mehr als Berge von Philosophie, 1985° - Es ist vollbracht, 1982 - Ratschläge rür Prediger, 19843 - Sein Haus hat offene Türen, 19853 - Ganz aus Gnaden, 198 58 - Es steht geschrieben, 19802 - Hast du mich lieb?, 1978 - Kleinode göttlicher Verheißungen, 198528; Miniaturausgabe, I98512 - H. Thielicke, Vom geistlichen Reden. Begegnung mit S., 1961 - P. Spangenberg Theologie und Glaube bei S., 1969 -J. Müller-Bohn, S. - ein Mann von Gott gesandt, 1978
Balders
Staat und Kirche -» Kirche und Staat Stadtmission
Von Anfang an wurde das Evangelium in den großen Städten verkündigt. Sie waren Zentren von Religion und Wissenschaft, Handel und Verkehr (Paulus in Korinth und Ephesus: Apg 18,1-iT; 19,8-11). - Im 19. Jh. brachte die Industrialisierung Menschenmassen in die Städte, die nun entwurzelt, entkirchlicht, entchristlicht und-vielfach - entsittlicht lebten. In Glasgow (Schottland) gründete David Nasmith 1826 die erste organisierte S., der 1835 die »London City Mission« folgte. Erweckte Christen, vielfach Laien, begannen in den nächsten 1 1/2 Jahrzehnten in den meisten englischen Großstädten diese Art kirchlicher Arbeit. - Auf dem Kontinent war J. H. -» Wiehern der »Vater der S.«, als er 1848 die Hamburger S. gründete, der nach zwei kleinen Anfängen 1877 die —» Berliner S. folgte. Hofprediger A.
Stoecker wurde ihr Leiter und gab ihr ihre Prägung. Sie ist für die meisten S.en im deutschsprachigen Raum Leitbild geblieben. Stoecker gab ihr die Losung: »Suchet der Stadt Bestes!« (Jer 29,7). Ihn trieb die geistliche Heimatlosigkeit der Massen: »Wenn die Menschen nicht mehr zur Kirche kommen, muß die Kirche zu den Leuten gehen«. - Stadtmissionare und später auch S.-Schwestern machten Hausbesuche, oft von Tür zu Tür gehend, fanden Arme, Elende, Spötter, Trinker, Verzweifelnde. Ihnen seelsorger- lich und fürsorgerisch zu helfen, war ihre Aufgabe. In den Stadtteilen entstanden S.- Säle, in denen —> Sonntagsschulen für Kinder, —» Bibelstunden, —> Evangelisationen und -» Gottesdienste gehalten wurden. Ungezählte wurden durch Stoeckers gedruckte Sonntagspredigten (Auflage: 130000) mit dem Evangelium erreicht. Es gehört zum
Wesen der S., daß sie beweglich ist. Missionarische und diakonische Aufgaben können ihre Form im Laufe der Zeit ändern oder durch andere, neue ersetzt werden. Hat die S. früher besonders den »Sonntagslosen«, z.B. Droschkenkutschern, Straßenbahnern und Polizisten gedient, so hat sich die Arbeit ausgeweitet: Hilfe für Strafentlassene, Alkoholiker, gefährdete Mädchen und Frauen, —»Mitternachtsmission, Seelsorge an Hotel- und Gasthauspersonal, Schaustellern, Nichtseßhaften und nach dem Kriege an Flüchtlingen. Kurrenden, Straßenmission, Gottesdienste in Parks und Schrebergärten (»Laubenmission«), Kinder- und Jugendarbeit gehören zur S. wie Alters- und Obdachlosenheime, —> Telephonseelsorge und »Foyers«, in denen man ausruhen kann und einen Seelsorger findet. — Neben regionalen »Arbeitsgemeinschaften ev. S.« in der BRD und DDR besteht seit 1973 eine »Europäische Arbeitsgemeinschaft ev. S.en«.
Lit.: M. Gerhardt, Ein Jahrhundert Innere Mission, 1948 - D. v. Oertzen, Ad. Stoecker, 1910 - Gott liebt diese Stadt. 100 Jahre Berliner Stadtmission, 1977 Möller
Stange, Erich, D. Dr., *23. 3. 1888 Schwepnitz/Oberlausitz, 112.3.1972 Kassel, ev. Theologe, Jungmännerseelsorger und Jugendführer. Theologie-Studium in Leipzig und Halle, Kontakte zur DCSV (—» Studentenarbeit); Luthertum und —» Erweckungsbewegung waren die Wurzeln seines theolo-
Erich Stange
gischen Arbeitens und seelsorgerlichen Handelns. 1921-54 hauptamtlich, 1962-64 ehrenamtlich Reichswart des »Reichsver- bandes der ev. Jungmännerbündnisse und verwandter Bestrebungen« (heute: CVJM- Gesamtverband). Verfasser umfangreichen theologischen Schrifttums, wirkungsvoller Redner. Weil er im Dienst an der jungen Generation seine Lebensaufgabe sah, lehnte er zahlreiche ehrenvolle Rufe (z.B. auf Professuren und ins Bischofsamt seiner sächsischen Heimatkirche) ab. 1933 war er zeitweilig Reichsjugendführer der ev. Jugend; wegen Diffamierung des Führers wurde er wieder abgesetzt, führte aber seine Arbeit im Reichsverband weiter. Nach dem 2. Weltkrieg baute er das Ev. Jungmännerwerk neu auf. 1954 in Fortführung seiner Aktivitäten auf ökumenischer Ebene (-» ökumenische Bewegung, CVJM-Weltbund) neben dem Schweden Hjelmquist für einige Zeit theologischer Leiter des Internationalen Instituts der CVJM auf Schloß Mainau. Initiator und Mitbegründer der -»Telefonseelsorge in Deutschland (1956). Bedeutsame Freundschaften u.a. mit Paul -» Humburg, Nathan Söderblom, Rudolf Alexander —» Schröder, John -» Mott.
Lit.: E. Stange, Er führt uns wie die Jugend, 1957 — ders., Ich suchte den Bruder-Ökumenische Reiseberichte, 1957 - Walter Arnold (Hg.), Wort und Wagnis - Festgabe zum 80. Geburtstag von D.E.S., !968 Kroll
Steinhausen, Wilhelm, *2. 2. 1846 So- rau/Niederlausitz, ^$.1.1924 Frankfurt/M. Maler und Graphiker. Von Ludwig —» Richter ausgehend, nahm S. stilistisch Anregungen von A. Böcklin, W. Leibi und Hans Thoma auf. Der vom ev. Glauben geprägte, seit 1877 in Frankfurt lebende Künstler schuf vor allem Bilder mit biblischen Themen, in denen es ihm um eine verinnerlichte Form der Darstellung ging. Seine menschlich-schlichte Jesusgestalt erscheint oft in deutschen Berglandschaften. Neben großen Wandgemälden in Frankfurt (Kaiser-Fried- rich-Gymnasium, Lukaskirche, Sachsenhausen, im letzten Krieg zerstört) entstanden ähnliche in Wernigerode und anderen Städten, daneben auch Glasfenster. Die Lithographien zur biblischen Geschichte wurden z.T. auf Konfirmationsscheine und Trau-Urkunaen übernommen. S.s zartgestimmte Landschaftsbilder wurden auch von kritisch Eingestellten bewundert.
Lit.: W. S., Aus meinem Leben 1912
Rothenberg
Steinkopf, Carl Friedrich Adolph,
*6.9.1773 Ludwigsburg, 129.5.1859 London. S. bekam bereits in seiner Stuttgarter Kindheit pietistische Anstöße, zog bei seinem Theologiestudium in Tübingen J. A. Bengels Reichs-Gottes-Theologie der von der -> Aufklärung bestimmten Neologie vor und pflegte lieber Umgang mit »Erweckten« als mit revolutionierenden Studenten. Als Sekretär der -» Christentumsgesellschaft in Basel (ab 1795) hatte er nicht nur viele Kontakte zu Gläubigen am Ort, sondern durch Korrespondenz mit den Zweigvereinen in ganz Europa. Ab 1801 wirkte S. in London als Pfarrer der deutschen lutherischen Savoy- gemeinde; aber seine überragende Bedeutung erhielt er als der große Stratege der britischen —> Erweckungs- und Missionsbewegung, die vor allem durch ihn auf Mitteleuropa Übergriff. Viele pietistische Erbauungszirkel wurden durch seine Kontinentreisen und Briefe zu missionarischen Zellen und Vereinen. Die Deutsche Bibelstiftung in Stuttgart (früher Württ. Bibelanstalt, gegründet 1812) und die Basler Mission (gegr. 1815) zeugen bis heute von seinem rastlosen Eifer für die Ausbreitung des —> Reiches Gottes.
Lit.: W. Eisenblätter, C.F.A.S. (1773-1859) - Vom englischen Einfluß auf kontinentales Christentum zur Zeit der Erweckungsbewegung, Diss. Zürich 1974
Eisenblätter
Sterbehilfe, Sterbedienst —*• Tod Sterben -» Tod
Stillen im Lande, Die
Der nach Ps 3 5,20 geprägte Ausdruck taucht zur Bezeichnung des Freundeskreises um Gerhard Tersteegen (1697-1769) auf. Gleich ihm wollten seine Freunde in stiller Abgeschiedenheit, Anbetung, Meditation und Versenkung ihr Leben führen. Tersteegen, von der quietistischen Mystik beeinflußt, gab durch Lieder und Bücher (Geistliches Blumengärtlein, Geistliche Brosamen, Fromme Lotterie) Anleitung. Zwar blieben die St.i.L. unorganisiert, doch bilden sie die Brücke zwischen —» Pietismus und —» Erweckungsbewegung; am Niederrhein, im Wuppertal, im Siegerland und in Württemberg war ihr Einfluß besonders spürbar. Der letzte große Vertreter war H. -» Jung, der in seinem Namenszusatz »Stilling« seine Zugehörigkeit zu den St.i.L. ausdrücken wollte. - Ihr Protest richtete sich vor allem gegen den Rationalismus. Schon Tersteegen hatte eine Schrift gegen den »Philosophen von Sans-Souci« geschrieben, was Friedrich d. Großen zu dem Ausruf veranlaßte: »Können das die St.i.L.?«.
Lit.: O. Weber und E. Beyreuther (Hg.), Die Stimmen der Stillen, 1959
Geldbach
Stimme des Glaubens
Das Missionswerk St. d. G. wurde i960 in Konstanz von Pfarrer F. Schönemann begründet. Zielsetzung der Arbeit ist die Ausbreitung des Evangeliums durch Rundfunksendungen (gegenwärtig über Radio Luxemburg). Das Missionswerk arbeitet auf überkonfessioneller Basis und gibt die Monatszeitschrift »St. d. G.« heraus.
Red.
Stockmayer, Otto, *21. 10. 1838 Aa- len/Württ., 112.4.1917 Hauptwil/Schweiz. Ev. Theologe. Nach dem Theologiestudium und einer Begegnung mit Jungfer -h> Trudel wurde S. Erzieher in der Schweiz, wo er seine —» Bekehrung erlebte. Er trat in die freie Kirche des Waadtlandes ein (A. —> Vinet) und wurde 1862 Pfarrer in Tavannes, 1866 in Genf, 1872 in Auberson bei St. Croix. Auf der —> Oxford-Konferenz »zur Förderung einer schriftgemäßen Heiligung« 1874 stark von der —» Heiligungsbewegung angesprochen, sah er als Reiseprediger seine Aufgabe
Otto Stockmayei
darin, die Gemeinden aus Sattheit und Bequemlichkeit herauszureißen und die umgestaltende, bewahrende und vollendende Gnade zu bezeugen. Die Lehre von der Vollkommenheit (-» Perfektionismus) bekämpfte er ebenso wie die -» Pfingstbewe- gung. 1878 richtete er im Schloß Hauptwil ein Erholungs- und Seelsorgeheim ein, wo es auch zu körperlichen Heilungen kam. Die Lehre von der Entrückung einer besonderen Auswahlgemeinde widerrief er öffentlich 1909. Er gehörte zu den Vätern des —> Gna- dauer Verbandes
Lit.: A. Roth, O.S., 19382 - H. v. Sauberzweig, Er der Meister, wir die Brüder, 1959
Rothenberg
Stoecker, Adolf, *11.12.1835, 17.2.1909, ev. Theologe und Politiker. 1874 als Hof- und Domprediger nach Berlin berufen, übernahm er seit 1877 mit großer Tatkraft auch die Leitung der -* Berliner Stadtmission. Mit der Eiskeller-Versammlung am 3.1.1878 begann sein gegen Sozialdemokratie, Liberalismus und Judentum gerichtetes politisches Wirken. Die Gründung einer christlich-sozialen Arbeiterpartei erwies sich als Fehlschlag. Lange Jahre gehörte S. dem Preußischen Landtag und dem Reichstag an. Die Feindschaft —» Bismarcks und Kaiser Wilhelms II. führte 1890 zu seinem Ausscheiden aus dem Hofpredigeramt. Seither an der Spitze des Ev.-sozialen Kongresses, geriet S. in Gegensatz zu den »Jungen« um F. Naumann. Nach seinem Ausschluß aus der konservativen Partei deklarierte Wilhelm II.: »S. hat geendigt. Politische Pastoren sind ein Unding. Christlich-sozial ist Unsinn. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, aber die Politik aus dem Spiele lassen.« S. arbeitete weiter in der Berliner Stadtmission und seit r897 in der Freien kirchl.-sozialen Konferenz. Seine durch über drei Jahrzehnte veröffentlichten, wöchentlichen Pfennigspredigten wurden zuletzt in 130000 Exemplaren verbreitet. - S. war zeitlebens heftig umstritten. Sein politisches Konzept war konservativ, seine Theologie nicht nur wegen seines Antisemitismus unzureichend. Er wollte durch Sozialreformen die »abgefallenen« Massen zu Kirche und Monarchie zurückführen. Die tieferen Probleme des industriellen Zeitalters hat er nicht wahrzunehmen vermocht. Seine Größe aber liegt darin, daß er die Notwendigkeit eines politischen Engagements in der sozialen Frage begriffen hatte. Angesichts der Nöte seiner Zeit ist S. mutig »in den Abgrund gesprungen, ohne die Tiefe zu ermessen«.
—» Sozialismus, religiöser
Lit.: Christi.-sozial. 18902 - Reden u. Aufsätze, 1913 - W. Frank, Hofprediger A.S. 19352 - K. Ku- pisch, A.S., 1970
Rohkrämer
Strafe —> Seelsorge
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