Rechtfertigung
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Biblischer Befund
r. ALTES Testament: Die alttestamentliche Gottesanschauung ist die Grundlage für die paulinische R.s-lehre. Gott ist ein Gott des Rechtes. Er hat Gerechtigkeit lieb (Ps 1 1,7; 3 3,5). Er ist selbst gerecht in seinem Handeln am Menschen, und er fordert Gerechtigkeit von ihm im Sinn eines rechten Lebens im Gehorsam gegen sein —» Gebot. Er belohnt die Gerechtigkeit und bestraft das Unrecht, denn er ist Richter. Nur der Gerechte gelangt zum —> Heil und zum Leben. Schon im AT ist sowohl die Gottesgerechtigkeit als auch die vom Menschen geforderte Gerechtigkeit nicht in erster Linie eine Eigenschaft, sondern das Handeln, das dem Gottesbund gemäß ist; Gerechtigkeit meint also nicht eine Seinsqualität, sondern das der Gottesbeziehung entsprechende Verhalten Gott und dem Mitmenschen gegenüber. Darum gibt es auch im AT schon in einem vorläufigen Sinn Glaubensgerechtigkeit. Wer vertrauensvoll im Gottesbund steht und damit auch dem Gebot Gottes gegenüber fest und treu bleibt, der ist gerecht (Hab 2,4). Gottes Recht und Gottes Gnade sind auch im Alten Bund geeint. Der Bund beruht auf der freien, gnädigen Zuwendung Gottes (Ex 33,18f.), und der Bundesglaube ist beides zugleich, Glaube an Gottes Gerechtigkeit und an seine Gnade.
2. im iudentum sind Recht und Gnade Gottes nicht mehr eins. Wer gute Werke tut, der empfängt den gerechten Lohn nach seinem Verdienst. Wer aber nur ungenügende Werke vorzuweisen hat, der bedarf zusätzlich der Gnade.
v neues Testament: Auch im NT steht fest, daß der Gotteswille erfüllt werden muß, und daß nur der Gerechte zum Leben gelangt.
Neu dem AT, dem Judentum, auch Qumran gegenüber ist dies, daß bei Paulus aus der Gesetzeserfüllung keine Gerechtigkeit und also kein Heil zu erwarten ist. Gerechtigkeit gibt es jetzt allein durch Gottes unverhofften und unverdienten richterlichen (forensischen) Freispruch, der im Glauben an den genugtuenden Sühnetod Jesu Christi angenommen wird. Um Jesu willen vergibt Gott die Sünde und stellt in einem souveränen, gnädigen Heilshandeln das durch menschliche Schuld zerbrochene Rechtsverhältnis zwischen sich und dem Menschen wieder her. In der Offenbarung dieser Gottesgerechtigkeit wird klar, daß der Versuch, auf dem Wege des —» Gesetzes Heil und Gerechtigkeit zu erlangen, nur in die Selbstbehauptung vor Gott hineinführt und zudem auf einem unrealistischen Optimismus beruht, den Paulus zerbrochen hat. Der Ort, wo Gott seine heilschaffende Gerechtigkeit wirkt und kundgibt, ist also das Kreuz (Röm 3,2 5L; 5,9f• / iKor 5,18; Gal 3,13). Dabei gehört zum Kreuz immer auch die -> Auferstehung (Röm 4,25). So wird Christus selber unsere Gerechtigkeit genannt (iKor 1,30; Röm
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. In der Rechtskundgabe im Kreuz Christi sind Gerechtigkeit und Gnade Gottes geeint. Die Strafe liegt auf Ihm zu unserem Heil (Röm 8,32; 4,25; 2Kor 5,21; Röm 8,3; iKor 1,30; 15,3; iPetr 2,24; 3,18; Joh 1,29). Es handelt sich also nicht um Gnade statt Recht, sondern eine heilige Gnade wird im Kreuz geoffenbart und gewährt. Entscheidend an der Gerechtsprechung des Sünders ist ihr Gegenwarts- und Vollständigkeitscharakter. Wer an ihn glaubt, ist gerecht (Röm 3,24-26; 5,1; 5,9; 8,30; 9,30; iKor
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, im Unterschied zum Judentum, das die Gerechtsprechung erst im Endgericht erwartet.
Ist die Gerechtsprechung auch schon Ge- rechtmachung? Um die Frage zu beantworten, muß beachtet werden, daß die Gerechtigkeit nicht eine Eigenschaft des Menschen ist, sondern ganz in seiner Beziehung zu Gott liegt. Wer sich im Glauben ganz auf Gott wirft, sich und seinen Ruhm preisgibt und all sein Vertrauen in das Werk Christi setzt, der ist damit in die rechte Beziehung zu Gott getreten. Sein Glaube wird ihm zur Gerechtigkeit gerechnet (Röm 4,3 -5), nicht
als Ersatz für die fehlenden Werke, sondern deshalb, weil so allein Gott wirklich geehrt wird. In diesem Sinn ist die R. des Sünders nicht nur ein Anrechnen der Gerechtigkeit Christi, sondern darin zugleich eine göttliche Schöpfertat. Der Mensch wird hineingezogen in die Gewalt der ein neues Leben in Glauben und Gerechtigkeit ermöglichenden Gottesgerechtigkeit. Entscheidend ist, daß Gott in der R. von seiner Forderung nichts nachläßt. Der Gerechtgewordene ist zum Gehorsam, zum Tun der Gerechtigkeit auf- geboten und nun auch ausgerüstet. Dem Gerichtsgedanken wird darum sein Ernst nicht genommen. Er ist im Gegenteil radikalisiert. —> Heilsgewißheit ist zwar in der R. als gegenwärtiges Gut geschenkt, aber gerade so gilt es jetzt erst recht, zu jagen nach dem Ziel im Tun des Willens Gottes (Phil 3,14). Die Gerechtigkeit bleibt insofern auch für den Gerechtfertigten immer noch zugleich Hoffnungsgut. Als gesicherter Gegenwartsbesitz könnte sie ihn ja allenfalls auch gottlos machen, was ein Selbstwiderspruch wäre. Nun aber kennt und vertraut er Gott und wartet darum zuversichtlich auf den endgültigen Freispruch im —> Gericht (Röm 5,2). Zu beachten ist, daß für Gott nicht das Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft besteht wie für den Glaubenden. Wen Gott in einem Schöpfungsakt gerecht spricht, den will und wird er auch vollenden (Röm 8,30). Das schließt für den Menschen die Furcht nicht aus, sondern ein (Phil
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, und auch der Glaubende geht dem Gericht nach den Werken entgegen (2Kor 5,10). In engem Zusammenhang mit der R. steht bei Paulus die Erlösung. Steht bei der R. der Gedanke des Rechtsverhältnisses zu Gott im Vordergrund, so bei der Erlösung die Befreiung des Menschen aus der Versklavung an die gottfeindlichen Mächte.
Als Drittes ist neben R. und Erlösung die Versöhnung mit Gott zu nennen. Bei ihr wird an die Beziehung der —» Liebe zwischen Gott und Mensch gedacht. In der Versöhnung ist darum über den Rechtszustand hinaus der Bund der Liebe wieder erneuert (Röm 5,5). Auch hier ist Gott der allein Aktive. Nicht der Mensch versöhnt sich mit Gott, sondern er wird versöhnt (2 Kor 5,18-21). Er muß nicht mehr Feind Gottes sein, nicht mehr schwach, Sünder, Gottloser, sondern geliebtes Kind. Die Versöhnung verläuft genau parallel zur R. mit dem Unterschied, daß sie jetzt schon als Gegenwartsgabe vollständig und also nicht noch zugleich ein zu erwartendes Hoffnungsgut ist wie die R. und die Erlösung. Auch hier wird aber der Mensch nicht überrollt, sondern Gott läßt bitten (2Kor 5,20). Auch hier sind das Objektive und das Subjektive zusammengeschlossen: die Versöhnung ist geschehen im Tode Jesu, und sie soll deshalb wirklich werden in jedem einzelnen, der das Wort hört und sich versöhnen läßt. Deshalb gilt von der Welt beides und beides mit vollem Gewicht: sie ist versöhnt, zugleich aber auch noch nicht versöhnt, bis alle das Wort gehört und angenommen haben.
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Kirchengeschichte
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DIE MITTELALTERLICHE KIRCHE hat die pauli- nische R.slehre bald nicht mehr rein bewahrt. Der Gedanke des menschlichen Verdienstes vor Gott machte sich wieder breit und schmälerte die alleinige Geltung der Gnade.
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LUTHER HAT DIE R.SLEHRE ERNEUERT Und das nicht nur als Theologe, sondern aus eigenstem Erleben heraus. Wie Paulus dem Judentum gegenüber, so erkennt Luther im Gegensatz zur katholischen Kirche, daß der Mensch sich vor Gott keinerlei Verdienste erwerben kann, und daß Gott in der R. des Sünders der allein Handelnde ist. Auch bei Luther zeigt sich in der R. die göttliche Gnade als völlig freies Erbarmen und ihr Werk als ein ganzes Werk, d.h. auch für ihn gehören R. und Gerechtmachung untrennbar zusammen. Die R. ist die Grundlage für ein neues Leben, wobei auch dieses ganz Gottes Werk bleibt. Luthers R.slehre ist theozentrisch zu verstehen: Gottes Absicht, den Menschen gerecht zu machen, geht voraus und ist Grund für die Gerechterklärung. Die R. ist nicht wie im Mittelalter ein Prozeß, an dem der Mensch verdienstvoll mitwirkt, sondern einmaliger Akt göttlicher Gnade. Das R.surteil ist aber für Luther stets verbunden mit dem Verwerfungsurteil: Der Mensch als solcher ist und bleibt Sünder. Allein um Christi willen betrachtet und behandelt Gott diesen Sünder als Gerechten. Der Glaubende beugt sich unter dieses doppelte Urteil Gottes (unter den Richtspruch des Gesetzes und den Freispruch des Evangeliums). Er weiß sich als Sünder in sich selbst, als Gerechten aber, sofern er in Christus ein neues Geschöpf sein darf. Deshalb müssen auch Buße und Demut bleiben. Der Gerechtfertigte hat seine Gerechtigkeit nicht als sicheren Besitz; der Emst des Gerichtes bleibt, aber er glaubt der göttlichen Verheißung und hofft auf die Vollendung. Luther hat (wohl doch im Unterschied zum NT?) zwischen R.sgewißheit und Heilsgewißheit als Gewißheit endgültiger Errettung unterschieden und erstere wohl stark, letztere aber nie ganz bejaht.
3. neuere zeit: Der Pietismus stellt die R. in den Zusammenhang mit der erlebbaren —» Wiedergeburt und -» Bekehrung. So wird auch an der R. die Erfahrung stärker betont als bei Luther, der die R. auch ohne und gegen alle —» Erfahrung allein ans Wort und damit an den Glauben bindet. Die Aktivität Gottes und die Passivität des Menschen wird aber auch vom Pietismus hervorgehoben und an der Gnade die die Sünde überwindende Macht gerühmt. Die R.sgewißheit ist persönliche Heilsgewißheit, und mehr Gewicht als auf die ständige Buße wird auf die reale Lebenserneuerung in der —> Heiligung gelegt. —» Kähler entwickelt die ganze christliche Lehre vom reformatorischen Grundartikel der R. aus. An der R. betont er die Zueignung der Versöhnung. Beim Gerechtfertigten unterscheidet er den nunmehr befriedigenden religiösen Stand der unmittelbaren Gotteskindschaft und den immer noch unbefriedigenden sittlichen Stand, welcher fortschreitende Heiligung erfordert. —> Schiatter unterstreicht, daß Gott in der R. als Wollender an uns handelt und in uns den guten Willen wirkt, so daß es nun zum Gehorsam des Lebens kommt. I daß die Voraussetzung eines schon bestehenden Gottesglaubens, an die Paulus und Luther anknüpfen konnten, heute vielfach wegfällt. Der heutige Mensch fragt weniger, ob Gott gnädig sei, als wie er erkannt und erfahren werden könne. Dennoch möchte gerade der heutige Mensch an eine Gerechtigkeit, zugleich aber auch an eine Gnade glauben können, und vielleicht hat er auch von beidem »Erfahrungen« oder wenigstens Ahnungen und vage Hoffnungen. Hier kann die Verkündigung einsetzen mit dem Hinweis auf das Kreuz, in dem die Macht der Gerechtigkeit und der Gnade zu unserem Heil geeint sind, nicht in unpersönlicher Weise im Sinn von Prinzipien, sondern als persönliche Liebestat des lebendigen Gottes. Es kann auch heute erkannt werden, daß die unbefriedigende und vielfach sinnlose Situation des menschlichen Lebens in der gestörten Gottesbeziehung ihren Grund hat, und daß nur Gott selber diese Beziehung erneuern und heilen kann.
Der Glaube und die Gewißheit der R. ruhen auch heute allein im Wort. Sie dürfen aber auch von Erfahrung begleitet sein, vor allem von der Erfahrung des —» Geistes, der die Gottesgemeinschaft schenkt und vertieft, und der zu realer Lebenserneuerung hilft.
Lit.: R. Hermann, Luthers These »gerecht und Sünder zugleich«, i960 - H. E. Weber, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus I/i .2; II,
I937 — 5I
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Schmid
Recke-Volmarstein, Adalbert Graf von der, *28. 5. 1791 Overdyk bei Bochum, fio. 11. 1878 Kraschnitz/Schlesien. Der Deutschen —> Christentumsgesellschaft und —> Wiehern innerlich verbunden, gründete R. 1819 ein Rettungshaus in Overdyk und 1822 eine ähnliche Anstalt in Düsseltal bei Düsseldorf, die den bezeichnenden Namen trug: »Gesellschaft der Menschenfreunde zur Rettung und Erziehung verlassener Waisen und Verbrecherkinder«. Nach 1847 zog er sich auf sein Gut Kraschnitz in Schlesien zurück und wirkte bei der Errichtung diakoni- scher Werke in Schlesien mit (Diakonissenhaus, Epileptiker-Anstalt) — »ein Mann, der mit seltener Hingabe gearbeitet, gesammelt, gedarbt und gebetet hat«.
Rothenberg
Reden, Friederike von, *1774 als F. v. Riedesel in Buchwald bei Hirschberg (Schle
sien), 11854. F. v. R. gründete 1815 eine Bibelgesellschaft, die zunächst nur die Orte der Umgebung mit Bibeln versorgen sollte, dann aber eine große Wirksamkeit entfaltete. Durch die —=► Brüdergemeine und J. E. —> Goßner beeinflußt, wurde F. v. R. mit dem Schloß Buchwald zum Mittelpunkt der schlesischen Erweckungsbewegung. Von Friedrich Wilhelm IV. unterstützt, gab sie die mit Erklärungen versehene »Hirschberger Bibel« von 1756 neu heraus und versandte sie an alle Schulen Preußens. Die Not der Weber in Schlesien forderte ihre aktive Hilfe heraus. 1837 sorgte sie für die Unterbringung der Zillertaler Flüchtlinge. Auch die Einrichtung der Predigtstelle Wang auf dem Brückenberg und die Aufstellung einer norwegischen Holzkirche geht auf ihre Initiative zurück.
Lit.: E. Reub, F. Gräfin von R., 1888
Rothenberg
Redern, Hedwig von, *23.4.1866 Berlin, +22.5.1935 Potsdam; Dichterin, Schriftstellerin. Seit dem Besuch einer Evangelisation E. -» Schrenks in Berlin 1887 in der —» Gemeinschaftsbewegung geistlich zu Hause, hat v.R. diese selbst mitgeprägt. Mitarbeiterin vor allem des Grafen von —» Bernstorff, Autorin mehrerer Lebensbilder mit einer Vorliebe für die mittelalterlichen Mystiker, Schriftleiterin einiger Zeitschriften, so 1899 bis 1935 des Kinderblattes »Wehr und Waffe«, Mitbegfünderin des Deutschen —> Frau- enmissions-Gebetsbundes, für den sie viel reiste, kommt v. R. namentlich als Dichterin und Übersetzerin zahlreicher Erwek- kungs- und Heiligungslieder Bedeutung zu. Bekannte Lieder u.a. »Hier hast du meine beiden Hände«, »Näher, noch näher«, »Weiß ich den Weg auch nicht«, »Wenn nach der Erde Leid«.
Lit.: H.v.R., Knotenpunkte. Selbstbiographie (o.J. nach ihrem Tod veröffentlicht) - A. Roth, H.v.R. Eine Zeugin durch Lied und Leid, r9s8
Balders
Reformation
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Luther und die Anfänge der Reformation Martin Luther, *10.11.1483 in Eisleben, +18.2.1546 in Eisleben. Schulbesuch in Mansfeld, Magdeburg und Eisenach, 1501 Jurastudium in Erfurt, 1505 auf Grund eines Gelübdes Eintritt ins Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt, 1507 Priesterweihe, Theologiestudium, 1508 Versetzung in den
Martin Luther
Konvent zu Wittenberg, dort gefördert durch den Ordensvikar Joh. von Staupitz. 1510 Romreise, 1512 Promotion zum Doktor der Theologie, dann Übernahme der biblischen Professur an der Hochschule Wittenberg.
In der Klosterzeit erlitt er schwere innere Anfechtungen. Gequält von einem tiefen Sündenbewußtsein, suchte er —> Heilsgewißheit in —> Askese und Buße, ohne von der Sündenangst frei zu werden. Die kath. Bußlehre verstand Gottes Gerechtigkeit vom —* Gesetz her: Das Gesetz als Gottes Gebot fordert vom Menschen eine zu erfüllende eigene Gerechtigkeit (gute Werke, Verdienste). Dem Sünder aber begegnet Gottes Gerechtigkeit als Zorn und Strafe, die bis zur Verdammnis geht. Wohl gewährt die Kirche durch Buße und Absolution Zugang zur Gnade. Die Gnade tritt heilend und ergänzend zur Gerechtigkeit hinzu, indem sie zur Erfüllung des Sittengesetzes hilft und Erlaß von Sündenstrafen bewirkt. Aber Gnade bleibt bezogen auf das Gesetz und die vom Gesetz geforderte Eigengerechtigkeit, die sie vollenden hilft. Jedoch die verzweifelte Erfahrung, daß die Vollkommenheit trotz heiligmachender Gnade und Ablaß nicht zu erreichen war, und die Einsicht in die unheiligen Zustände sogar in der Kirche, wurden vielen zur Anfechtung. Andere drängten nach immer mehr Gnadenmitteln zum Nachlaß von Sündenstrafen. Das Spätmittelalte* erlebte eine starke Steigerung des Reliquien- und Ablaßwesens, der Heiligenverehrung, der Wallfahrten, der Messgottesdienste und auch der Schenkungen, die der Kirche »um der Seelen Heil willen» zufielen.
Auf dem Hintergrund dieser Zeitverhältnisse ist die neue Erkenntnis zu sehen, die Luther beim Studium des Römerbriefes um 1512 aufgegangen ist: Er begriff, daß die Gerechtigkeit, die Gott im Evangelium offenbart und mitteilt, uns nicht nach unserer Gesetzeserfüllung beurteilt, und daß Gnade nicht etwas ist, was dazukommt, um unserem eigenen Gerechtsein nachzuhelfen und es zu ermöglichen. Die Gerechtigkeit, die Gott im Evangelium zuteil werden läßt, ist überhaupt nicht ein Zweites neben der Gnade, sondern sie ist die rechtfertigende Gnade selbst, die dem Glaubenden seine Sünde nicht anrechnet, sondern vergibt. Das ist die —» Rechtfertigung aus Glauben (nicht auf Grund von Gesetzeswerken), die dann 1530 vor dem Augsburger Reichstag in der Confessio Augustana als Bekenntnis der Evangelischen so umschrieben ist: »Weiter wird gelehrt, daß wir Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen mögen durch unser Verdienst, Werk und Genugtuung, sondern daß wir Vergebung der Sünden bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden, um Christus willen, durch den Glauben, so wir glauben, daß Christus für uns gelitten habe, und daß uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird . . .«. Das Gesetz Gottes dient dem Gläubigen wohl noch zur Erkenntnis der —> Sünde, aber Gott verurteilt ihn nicht mehr auf Grund der Gesetzesforderung, weil Christus unsere Verurteilung auf sich genommen hat. Christus hat die Seinen vom Fluch des Gesetzes losgekauft. Luther stützt sich hier ganz auf Paulus. Rechtfertigung aus —> Glauben ist Rechtfertigung auf Grund der Gerechtigkeit Christi. In der juristischen Ausdrucksweise der damaligen Theologie heißt das, daß Gott dem Glaubenden die Sünde nicht mehr »anrechnet», sondern die Gerechtigkeit Christi »zurechnet». Aber die religiöse Wirklichkeit, die hinter dieser Formulierung steht, ist das neue Leben in Christus. Der Glaube rechtfertigt ja nicht durch sich selbst, sondern weil »Christus sich durch ihn in dem Menschen gegenwärtig macht« (Althaus). Glaube ist der Anfang des neuen Lebens in Christus. Wenn Paulus Gal 2,19—21 sagt, er sei dem Gesetz gestorben (weil Christus den Tod, des Gesetzes Urteil über den Sünder, für ihn erlitten hat), und fortfährt, daß er nun auch am Leben des Auf erstandenen teilhat (»Christus lebt in mir«), so ist doch diese Teilhabe jetzt, im irdischen Leben, erst Vorwegnahme des Künftigen (»das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes«). Der Glaube ist also die Weise, in welcher der sterbliche Mensch jetzt schon in die Lebensgemeinschaft mit Christus ein- tritt. Dieses paulinische Zeugnis ist in allen seinen Stufen erneuert in der Theologie Luthers, aber dahinter steht zugleich seine eigene Glaubenserfahrung, seine Verzweiflung am Gesetz, die bis zum Gefühl rettungsloser Verlorenheit hinabging, und dann die am Bibelwort widerfahrene, befreiende und erhellende Heilsgewißheit der Gnade und Versöhnung in der gläubigen Zuwendung zu Christus. Die unerhörte Wirkung, die von Luther ausging, beruhte sicher in erster Linie darauf, daß er aus dem Neuen Testament die kirchengründende Botschaft des Evangeliums neu verkündet hat, aber wesentlich war doch auch, daß zugleich seine ganz persönliche Gotteserfahrung diese Verkündigung mitprägte und bewirkte, daß er Lehrer und Zeuge in einem war.
Aus der Tatsache, daß der gläubige Christ zwar noch im sterblichen »Fleisch« lebt, aber im Glauben dem neuen Äon, dem auferstandenen Christus zugehört, erklärt sich, warum Luther sagt, daß der Christ Gerechter und Sünder zugleich sei (simul justus et peccator). Weil und solange ein Mensch noch im Fleisch lebt, ist noch der Stachel der Sünde in ihm. Deshalb kann er auch jetzt, als Glaubender, nicht etwa eine eigene Gerechtigkeit aufrichten. Er lebt im Gegenteil immer noch und immer neu von der Sündenvergebung. Aber durch den Glauben, wegen Christus, lebt er wirklich in der Vergebung. Rechtfertigung aus Gnade ist Sündenvergebung. Die Konsequenz aus dieser Situation ist der innere Kampf des Geistes wider das Fleisch, das Ringen um das geistliche Wachstum im gleichzeitigen Ablegen des »alten Menschen«. Das führte zu einer Verinnerlichung der Frömmigkeit, wie sie für das Luthertum charakteristisch wird. Freilich, wenn auch der Glaube nicht hilft, eine eigene Gerechtigkeit des Fleisches aufzurichten, so treibt er doch das Werk Christi in uns und durch uns am Nächsten, wie es in der Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« heißt: »Sieh, also fleußet aus dem Glauben die Lieb und Lust zu Gott und aus der Lieb ein frei, willig, fröhlich Leben, dem Nächsten zu dienen umsonst«. Im Glauben empfängt der Christ das neue Leben des Auferstandenen und wird mit Gott versöhnt. Glaube aber wird durch die Predigt des Evangeliums, also durch das Wort gewirkt. Wort und —> Geist Gottes gehören zusammen. Auch das -» Sakrament lebt für Luther vom Wort, von der Verheißung der Sündenvergebung, zu welcher aber das sichtbare Zeichen hinzutritt. Eigentliche Sakramente sind nur —» Taufe und —> Abendmahl. Damit reduziert sich das geistliche —> Amt auf Predigt und Sakramentsverwaltung. Das bisherige, differenzierte System der priesterlichen Gnadenvermittlung ist aufgehoben.
Der Konflikt mit Rom begann am 31. 10. 1517 mit dem Anschlag von 95 Thesen, gegen den Ablaß gerichtet, an der Schloßkirche zu Wittenberg. Luther wurde in Rom angeklagt, wo man nach einigem Zuwarten den Prozeß gegen ihn eröffnete. Nach einem Verhör durch den Kardinal Cajetan und nach der Leipziger Disputation (1519) mit Dr. Eck verfaßte er 1520 die Schriften, die den eigentlichen Anstoß zur Reformation gaben: »An den christlichen Adel deutscher Nation . . .«, »De captivitate Babylonica eccle- siae praeludium« und »Von der Freiheit eines Christenmenschen«. Die erste ist ein Aufruf an Kaiser, Fürsten und Adel - also an die weltliche Herrschaft die Kirchenreform in die Hand zu nehmen. Die zweite ist eine Kritik der römischen Sakramentslehre und die dritte eine Neubegründung der christlichen Ethik vom reformatorischen Ansatz aus, d.h. vom Evangelium, nicht mehr vom Gesetz her.
Im gleichen Jahr fordert die päpstliche Bulle »Exsurge domine« Luther zum Widerruf auf. Dieser verbrennt die Bulle, zugleich auch die päpstlichen Dekretalen (Rechtserlasse) öffentlich zu Wittenberg. Sowohl die geistliche, wie die weltliche Obergewalt des Papstes wird durch diesen Akt demonstrativ in Frage gestellt. Die Antwort der Kurie ist der Bann durch die Bulle »Decet Romanum pon- tificem« vom Januar 1521. Aber nun muß der Reformator sich vor dem Reichstag ver-
Philipp Melanchthon
antworten, der unter Kaiser Karl V. in Worms tagt. Er bleibt bei seiner Überzeugung und bei seiner Berufung allein auf die Schrift. Im Wormser Edikt vom 26. Mai 1521 verhängt der Kaiser die Reichsacht über ihn, aber sein Landesherr bringt ihn auf die Wartburg in Sicherheit. Hier entsteht seine 1 522 erschienene deutsche Übersetzung des | Neuen Testaments, ein wichtiger Schritt nicht nur für die Verbreitung des Evangeliums, sondern auch zur Schaffung der deutschen Schriftsprache.
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Ausbreitung, Krisis und Stabilisierung der Reformation.
1. CHRONIK
1522: Nach Luthers Rückkehr von der Wartburg wird Wittenberg Zentrum der Reformation in Deutschland. Mitarbeiter Luthers: Philipp Melanchthon (Schwarzert, 1497-1560), urspr. Humanist, dann eng mit Luther verbunden; bereits 1521 Veröffentlichung der Loci communes (später mehrm. überarbeitete Zusammenfassung der Lehre Luthers); Nikolaus von Amsdorf (11565); Justus Jonas (fi 555), r 541-46 in Halle; Johann Bugenhagen (11558) hatte großen Einfluß auf die Organisation des Kirchenwesens in Norddeutschland.
1525: Bauernkrieg, hervorgegangen aus Bauernbünden, die schon vor der R. entstanden, sich jetzt aber z.T. auch auf Luther beriefen. Thomas Müntzer unterstützt die revoltierenden Bauern und wird nach deren Niederlage (Frankenhausen)Mai 1525 hingerichtet. Luther, aufgeschreckt durch schwere Gewalttaten und von Müntzer angegriffen, nimmt in 2 Schriften gegen die Bauern Stellung (»Ermahnung zum Frieden . . .«, »Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern«).
1529: Nachdem zwei Reichstage (Nürnberg 1524, Speyer 1526) zu keiner Entscheidung in der Religionssache führten, nun verstärkter Druck des Kaisers, dagegen die »Protestation« der ev. Stände (daher der Name »Protestanten«).
1529: Marburger Religionsgespräch. Luther und Zwingli können sich in der Abendmahlsfrage nicht einigen, da ersterer vor allem an der realen Gegenwart Christi im Abendmahl, letzterer am Abendmahl als Zeichen für das in Jesu Tod ein für allemal vollbrachte, geschehene Heilsereignis interessiert ist.
1530: Reichstag zu Augsburg. Vorlegung der protestantischen Bekenntnisse, d.h. der Confessio Augustana (CA, Hauptverf. Me- lanchthon), der Tetrapolitana (verfaßt von den Straßburgern Bucer und Capito) und der Fidei ratio (Zwingli). Kaiser Karl V. bestätigt das Wormser Edikt.
1531: Die ev. Stände schließen sich im Schmalkaldischen Bund zusammen.
1546/47: Schmalkaldischer Krieg, Erfolg des Kaisers, der auch vom protestantischen Fürsten Moritz von Sachsen unterstützt wird (aus polit. Gründen).
1548: Augsburger Interim. Den Protestanten wird bis zur Entscheidung durch ein Konzil nur der Laienkelch und die Priesterehe gewährt. Moritz von Sachsen wechselt die Partei, wodurch der Kaiser auf die Durchführung seiner Rekatholisierungspläne verzichten muß.
1555: Augsburger Religionsfriede. Der
Reichstag beschloß, daß künftig kein der alten Religion oder der CA zugehörendes Land wegen der Konfession mit Krieg bedroht werden dürfe. Die konfessionelle Entscheidung liegt beim Landesherrn (außer den Inhabern der Herrschaft über die geistlichen Fürstentümer), Reichsstädte erhalten Toleranz zugebilligt.
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DIE ENTSTEHUNG DER LUTHERISCHEN LANDESKIRCHEN
Wittenberg blieb das geistig-religiöse Zentrum der Reformation in Deutschland. Aber angesichts der überlieferten Verknüpfung der Kirche mjt der Wirtschaft (Grundbesitz, Abgaben)1, mit dem Recht, der Bildung, der Politik, war der Übergang von der lutherischen Lehre zur Bildung von protestantischen Kirchen ohne politische Maßnahmen gar nicht möglich. Im Unterschied zu Zwingli sah Luther den politischen Entscheid weder in seiner, noch in der Verantwortung der christlichen Bürgerschaft (Gemeinde). Die Durchsetzung neuer Ideen konnte auch im 16. Jh. nur auf dem Hintergrund der bestehenden sozialen und politischen Zustände erfolgen. Die Verhältnisse in Deutschland waren so, daß die politischen Maßnahmen nicht ohne die tatsächlichen Machthaber, die Fürsten, getroffen und vollzogen werden konnten. Höchstens in den freien Reichsstädten konnten Reformen, die über die Lehre hinausgingen, in Angriff genommen werden. Aber an der Stadt Magdeburg, die in dieser Sache zu weit ging, wurde 1551 die Reichsacht vollzogen. Die lutherische Lehre breitete sich nach 1520 sehr rasch in ganz Deutschland und bis nach Salzburg aus. Aber wo der Landesherr entschlossen am römisch-kath. Glauben festhielt, wurde sie spätestens in der Zeit der Gegenreformation wieder unterdrückt. Lutherische Kirchen entstanden dort, wo der Landesherr und städtische Obrigkeiten die Reformation durchführten und dann auch zu schützen bereit waren. Die Wittenberger Theologen wirkten freilich beratend und helfend bei der Reform des Gottesdienstes und der Schule mit (Luthers »Deutsche Messe« 1526, Kl. und Gr. Katechismus 1529, Traubüchlein und Taufbüchlein; Melanch- thons »Unterricht der Visitatoren« 1528).
1526 — 1529 wurde die kursächsische Kirche im Verlauf der Kirchen- und Schulvisitation schrittweise reformiert. Es entsteht der —> Gottesdienst mit Predigt, Gesang und Abendmahl, der beispielhaft auch für andere luth. Kirchen wurde. Desgleichen die Kirchenordnung: Der Landesherr, beraten vom Konsistorium (kirchl. Oberbehörde) und vom Superintendenten, ernennt die Pfarrer und führt Aufsicht über Gut und Lehre der Kirche. In seiner weitreichenden Funktion übt er das Amt eines »Not-Bischofs« aus. Lateinschulen und Universitäten werden die Ausbildungsstätten der Pfarrer, die somit dem Staat bzw. dem Landesherrn unterstellt sind, der sich aber noch als »christliche Obrigkeit« versteht. In Süddeutschland wirkte Johannes Brenz (1499 — 1570), der die Reformation in Schwäbisch Hall einführte; als Berater der württembergischen Herzoge hatte er wesentlichen Anteil an der württembergischen Kirchenordnung. In Hessen gründete Landgraf Philipp 1527 die Universität Marburg als erste von Beginn an protestantische Hochschule. Weitere luth. Kirchen entstanden in Pommern (1535), im Herzogtum Sachsen (1539) und in Brandenburg (1539). In Straßburg wirkten Bucer und Capito. MartinBucer (Butzer, 1491 — 1551), der stets zwischen Lutheranern und Zwinglianern zu vermitteln suchte, war in der Gnadenlehre stark von Luther beeinflußt, verstand aber das Verhältnis von Gesetz und Evangelium heilsgeschichtlich und war mit seiner Lehre vom Reich Christi ein Wegbereiter der reformierten Föderaltheologie. Er starb als Professor in Cambridge.
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THEOLOGISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN Im Bauernkrieg stützten die Bauern ihre Forderungen auch mit religiös-naturrechtlichen Ideen, z.T. von Hus und Wiclif beeinflußt. Ihnen schloß sich Thomas Müntzer an, der überzeugt war, daß die »Auserwählten« den Sieg zwar mit Gottes Kraft, aber mittels des Schwertes, erringen würden. Er verband spiritualistisches Prophetentum, welches den »Geist« vom »papierenen« Wort löst und in die innere Eingebung verlegt (—» Spiritualismus), mit einem atl.-gesetzlichen Christentum, das sich mit dem Gottesvolk identifiziert. Er bekämpfte Luther wie das Papsttum, aber wie letzteres beanspruchte er für sich, bzw. für die »Auserwählten«, beide »Schwerter«, d.h. die geistliche und weltliche Gewalt. Eben das hat Luther abgelehnt. Für Luther haben beide, Kirche und weltliche Herrschaft, ihren besonderen Auftrag und ihre besondere Vollmacht von Gott. Das Amt der Kirche ist Predigt und Sakrament, durch welche der Geist Gottes das —» Heil wirkt. Das weltliche Regiment aber soll den Frieden wahren und die Bösen strafen. Im Grunde wirft Luther dem Papst und Müntzer dasselbe vor, daß sie nämlich, wie er gegen Müntzer sagt, »die Sache nicht beim Wort lassen bleiben«, sondern diese mit weltlicher Gewalt vollführen wollen, wodurch sie der Sache Gottes gerade untreu würden: Das gilt für das Geschäft mit dem Ablaß, welches in den Menschen die trügerische Hoffnung erweckt, sie könnten
Menno Simons, der bedeutendste Vertreter
des Täufertums (1496-1561)
sich auf diese Weise das Seelenheil sichern. Das gilt aber auch für den Griff nach dem Schwert (Kreuzzüge, Bauernkrieg), der nur zu Mord und Gewalttat führt. Luthers Auffassung vom landesherrlichen Kirchenregiment, das auch die äußere Ordnung der geistlichen Verrichtungen einbegreift und nur die »Sache« des geistlichen Amtes, die Predigt des Evangeliums und das Sakrament, nicht antasten darf, erinnert an die Kirchenhoheit des Königs im Karolingerreich. Es ist interessant, daß sich die Reformation in jenen Gebieten ausbreitete, die einst karolingisches Missionsgebiet gewesen sind. Auch Luthers heimliches Mißtrauen gegen Zwingli hing damit zusammen, daß dieser Politik machte; für ihn war Obrigkeit, wie es für Sachsen auch zutraf, der Landesherr. Die Möglichkeit, daß der Christ als Bürger eines republikanischen Gemeinwesens selber politische Verantwortung übernimmt, lag ihm fern, wobei die Katastrophe des Bauernkrieges und das irre Täuferregiment in Münster (1534/35) abschreckend wirkten.
Dabei hat das Täufertum, das sich von 1524 an von Zürich aus über ganz Deutschland verbreitete, ein reformatorisches Anliegen radikal aufgenommen, nämlich die reine Glaubensgemeinde. Ungeklärt war zunächst das Verhältnis zur weltlichen Gewalt, das von der Ablehnung des Staates bis zum gewaltsamen »Königreich Zion» der Melchioriten in Münster schwankte (mit Gütergemeinschaft, Zwangs-Wiedertaufe u.a.): In Münster ging es 1534/3 5 um den für das Täufertum völlig unlogischen Versuch, die Königsherrschaft Christi mit eigener, weltlicher Macht zu errichten, wogegen diese für Luther in dieser Welt nur durch die Wirkung des Wortes geschehen kann, das Glauben weckt und aus dem Glauben Früchte des Geistes bringt. Die (Wie- der)Taufe lehnte Luther ab, weil ihre Verfechter aus seiner Sicht die Wirkung des Sakraments vom Menschen, bzw. vom Glauben des Menschen abhängig machten und dieses so seines Charakters als Gottes »eigenes Werk» zu berauben drohen. Wie es ihm im Abendmahl um die reale Gegenwart Christi geht, so in der Taufe um die reale Zuwendung der Gnade, deren Verheißung der Christ im Glauben jeden Tag neu ergreifen soll.
Auch im internen »antinomistischen» Streit (1527 und 1537) ging es um die radikale Anwendung von Luthers Glaubenstheologie. Johann Agricola lehrte, daß Buße ohne vorangehende Gesetzespredigt möglich sei. Luther stellte sich gegen ihn, weil er hier die Gefahr eines schwärmerischen Antinomismus heraufziehen sah. Luther möchte mit allem Nachdruck am Offenbarungscharakter des —» Gesetzes festhalten (H. J. Iwand).
Zum vorläufigen Abschluß kam die lutherische Bekenntnisbildung mit der Konkor- dienformel von 1577, die das Erreichte zusammenfaßt, aber auch bereits die beginnende Rückwendung zur scholastischen Schultheologie spüren läßt.
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DIE GEGENREFORMATION Die römische Kirche reagierte auf die Reformation mit einer inneren Reform, deren Grund das Konzil zu Trient (1545-1563) legte. Zugleich erfolgte der Versuch, durch Ketzerbekämpfung, vor allem aber mit der Hilfe katholischer Fürsten, das Verlorene wieder zu gewinnen. Hauptinstrument in diesem Einsatz war der 1534 von Igilätiüs von Loyola (1491 — 1556} gegründete Jesuitenorden (Societas Jesu), eine streng militärisch aufgebaute Organisation, die äußeren Gehorsam mit der durch Exerzitien erreichten geistlichen Disziplinierung verband. Die Jesuiten wirkten als Erzieher und Beichtväter an den Fürstenhöfen, als Lehrer an den höheren Schulen und als Verfolger der Ketzer (1542 Erneuerung der Inquisition). Seit 1549 ließ sichderOrden in Deutschland nieder. Im 1552 gegründeten Collegium Ger- manicum in Rom wurden deutsche Priester in jesuitischem Geist ausgebildet. Im habsburgischen Gebiet führten brutale Verfolgungen zur Vertreibung der Protestanten (Ferdinand II., Kardinal Khlesl, Erzbischof Firmian von Salzburg). Besonders hart waren die Verfolgungen auch in Bayern und in den geistlichen Territorien, wo in den nach 1570 grauenhaft gesteigerten Hexenverfolgungen (—> Hexenwahn) auch viele Evangelische unter dem Vorwand der Hexerei eingeäschert wurden. Die letzte und blutigste Auswirkung der Religionskämpfe war der dreißigjährige Krieg (1618-1648), nach welchem der Westfälische Frieden 1648 die konfessionellen Gebietsverhältnisse definitiv regelte.
Eine besondere Entwicklung vollzog sich in den Niederlanden, wo die protestantischen Nordprovinzen 1581 ihre Unabhängigkeit erklärten und diese unter Wilhelm von Ora- nien (1533-1584) und Moritz von Oranien im Kampf gegen Spanien auch behaupteten (1648 Haager Frieden).
In England wurde die noch katholische Kirche 1534 durch die Suprematsakte des Parlaments von der römischen Jurisdiktion gelöst, der König wurde als Oberhaupt der Kirche anerkannt. Im Common Prayer Book von 1549 und in den »39 Artikeln« von 1563 erhielt die Staatskirche ein stark calvini- stisch beeinflußtes Bekenntnis. Die Gegenreformation in England scheiterte mit der Hinrichtung der kath. Maria Stuart (1587) und der Vernichtung der spanischen Armada (1588) unter Elisabeth I. Im Innern erlebte England lange Zeit Auseinandersetzungen zwischen der episkopalistischen (und politisch absolutistischen) Kirche und den cal- vinistischen Puritanern, die unter Cromwell (1599—1658), 1653-1658 Protektor Englands, eine Periode verhältnismäßiger —» Religionsfreiheit erlebten.
Lit.: P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers,
1962 - H. J. Iwand, Gesetz und Evangelium, 1964 - ders., Luthers Theologie, 1974-F. Lau/E. Bizer, Reformationsgeschichte Deutschlands (Die Kirche in ihrer Gesch.), 1964 (mit ausf. Lit.)-H. Bornkamm, Luther, Gestalt und Wirkungen, 1975 - J. Haun (Hg.), Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers (Bibliographie), 1973 - B. Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation, 1977
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Ulrich (Huldrych) Zwingli Ulrich Zwingli, ‘1.1.1484 in Wildhaus, tu.10.1531 in der Schlacht bei Kappeln. 1494 Lateinschule in Basel, 1496 Lateinschule in Bern, dann 1500 Studium der freien Künste in Wien, 1502-1506 in Basel (magi- ster artium). Anfang des Theologiestudiums, 1506 aber bereits Pfarrer in Glarus, seit 1510 daselbst auch Schulmeister. Enge Verbindung mit dem Humanistenkreis um Erasmus. 1516 Leutpriester in Einsiedeln, intensive Studien der Paulusbriefe und der Schriften Augustins, Beginn der regelmäßigen Schriftauslegung noch im Sinn des humanistischen Rückbezuges auf die Quellen. Am 1.1.1519 begann seine Tätigkeit als Leutpriester am Großmünster in Zürich. Anfang der reformatorischen Predigt: Offene Kritik an kirchlichen und politischen Mißständen, wie den Praktiken des Ablaßhändlers Samson und dem Söldnerunwesen (Reislaufen, Annahme von Geldern fremder Mächte für das Recht zur Werbung von Söldnern). Er fordert freie Predigt des Evangeliums und die Priesterehe. Die kirchliche Hierarchie kritisiert er zunächst mehr wegen ihrer Geldgier und des Pfründenwuchers. Im Januar 1523 findet die erste Züricher Disputation statt, für die Zwingli 67 Schlußreden verfaßte. Der Rat beschließt, daß alle Prediger das Evangelium zu verkünden hätten. Oktober 1523 zweite Züricher
Disputation; sie leitete die Durchführung von Reformen bis 1525 ein. (Beseitigung der Bilder, Abschaffung der römischen Messe, der Orgeln, des Kirchengesangs, der Prozessionen, des Reliquien- und Bilderdienstes). Die Sittenzucht wird Sache des Rates. 1526 Badener Disputation (ohne Teilnahme Zwinglis), 1528 Berner Disputation, Zwingli wirkt mit. Durchführung der Reformation in Bern. 1531 Krieg Zürichs gegen die katholischen Orte der Innerschweiz. Zwingli zieht als Feldprediger mit und fällt in der Schlacht bei Kappel. Der (zweite) Friede von Kappel stabilisiert die konfessionellen Verhältnisse in der deutschsprachigen Schweiz. Zwinglis Nachfolger in Zürich wird Heinrich Bullinger (1504-1575), unter dem im Consensus Tigurinus die Einigung mit den Calvinisten in der Abendmahlslehre erfolgte (reale Gegenwart Christi, aber nicht substantielle Wandlung). Weitere wichtige Mitarbeiter waren Leo Jud (1482-1542), der entscheidenden Anteil an derZüricherBibel- übersetzung hatte, die 1529 als erste deutsche Vollbibel im Druck erschien (1531 neue' Ausgabe), und Heinrich Utinger, sowie Erasmus Schmid.
Um 152 5 erwachte in Zürich das Täufertum. 1525 gründete Jörg Blaurock in Zollikon die erste Täufergemeinde. Weitere Führer der Bewegung waren Konrad Grebel und Felix Manz. Die Täufer wollten eine heilige Gemeinde, die sich von der Welt löst. Sie forderten die Erwachsenentaufe als Glaubensund Bekenntnisakt. Die Taufe verliert ihren sakramentalen Charakter und wird zur bekenntnishaften Dokumentation eines vorausgegangenen inneren Prozesses, der Wiedergeburt und Rechtfertigung. Der Rat von Zürich griff hart durch und vertrieb die Anhänger der neuen Bewegung. Felix Manz, der gegen abgelegten Eid wieder in die Stadt zurückkehrte, wurde 1527 in der Limmat ertränkt. Aber die Täufer verbreiteten sich trotz harter Strafen in ganz Deutschland. Zwingli gründete die Kirche auf dem Wort. Wo das Wort gepredigt wird, wird Kirche, so wie es die im Geist Zwinglis abgefaßte erste Schlußrede der Berner Disputation von 1528 klassisch formuliert: »Die heilig Christen- lich Kilch, deren einig Houpt Christus, ist uss dem Wort Gottes geboren, im selben be- lybt sy, und hört nit die Stimm eines Frömb- den«. Kirche ist also die unter dem Wort versammelte Gemeinde. Für die Täufer aber wird Kirche vom Glaubens- bzw. Bekenntnisakt des einzelnen her verstanden. Hieraus ergab sich der Gegensatz.
Mit Luther konnte Zwingli sich in der Abendmahlsfrage nicht einigen. Ersterem geht es um die Realpräsenz des Leibes Christi im Abendmahl, wogegen Zwingli in Brot und Wein bloß ein Zeichen sah für den für uns gekreuzigten Leib Christi.
Zwinglis Reformation in Zürich war von ihrem Ansatz her eine Kirchenreform, die davon ausging, daß nichts gelten soll, als was aus der Schrift begründet ist. Aus der Konsequenz dieses Ansatzes wurde die Reform zur Reformation. Es ist wahrscheinlich, daß Zwingli den Begriff der Glaubensgerechtigkeit, wie Luther ihn lehrte, auch von diesem aufgenommen hat. Er begegnet u.a. 1525 im Kommentar über die wahre und falsche Religion (Kap. vom Evangelium), hingegen noch nicht in den Schlußreden von 1523. Die Reformation in Zürich begann aber mit den Schlußreden. Man darf die Reformation Zwinglis nicht vom lutherischen Ansatz her verstehen und beurteilen. Letzterer hat zwar in Richtung eines vertieften persönlichen Heilsverständnisses eingewirkt, ist aber nicht strukturbestimmend. Zum Verständnis der inneren Struktur der Züricher Reformation ist vielmehr auszugehen vom Begriff des Reiches Christi (regnum Christi). Das Reich Christi ist nicht nur innerlich, es ist auch äußerlich weit wirkend. »Regnum Christi etiam externum«. Es gibt keinen Bereich, der von diesem Reich ausgenommen wäre. Auch die Politik ist nicht ausgenommen. Der Christ, Pfarrer oder Magistrat, ist gehalten, den erkannten göttlichen Willen auch im öffentlichen Leben zu realisieren. Allerdings geschieht dieses Realisieren nicht unabhängig vom Wort. Zwingli vertraut darauf, daß das Wort sich auch im Bürger und Magistraten kräftig erweist. Christi Reich verbreitet sich also durch die Predigt auch in weltlichen, politischen Dingen. Zwingli ist sich der Sündhaftigkeit der Welt bewußt, auch der Sündhaftigkeit der Christen. Aber Christi Herrschaft wirkt durch das Wort eben in diese Sündhaftigkeit hinein, erneuernd, ordnend, Frieden stiftend. Zwingli setzt voraus, daß die Obrigkeit von Gott gesetzt ist. Aber wenn er als Prediger in Zürich an die Obrigkeit appelliert, um Reformen durchzuführen, so gilt dieser Appell einer christlichen Obrigkeit. Eine Gesellschaft, die sich unter das Wort Gottes stellt, d.h. in der gepredigt und das Wort gehört wird, ist Kirche und politische Gemeinschaft in einem. Man darf auch die Zwing- li'sche Reformation nicht zeitlos definieren, sondern muß sie von ihren sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen her betrachten. Ihre geschichtliche Voraussetzung ist die freie Reichsstadt, die als christliche Gemeinschaft, als lokales Corpus christia- num begriffen wird. Die genossenschaftliche Struktur der Stadtgemeinschaft trennt Obrigkeit und Bürgerschaft nur bedingt. Jeder ehrbare Bürger hat verantwortlich am Stadtgeschehen Anteil. In diesen Strukturen ist die Reformation in Zürich durchgeführt worden, als eine durch die Predigt aufgerufene und geweckte, aber von der Bürgerschaft in die Hand genommene und durchgeführte innere und äußere Erneuerung des Gemeinwesens. Das Verhältnis von Obrigkeit und Prediger ist vergleichbar dem Verhältnis von König und Prophet im Alten Testament. Die Freiheit der Predigt ist ebenso vorausgesetzt wie das ius reformandi der Obrigkeit. Der Prediger hat beim Wort zu bleiben. Es ist Sache der Obrigkeit, in ihrer Verantwortung zu prüfen und zu vollziehen. Christliche Gemeinde und Stadt sind nicht an sich eins, die Einheit wird vielmehr erst Ereignis, wenn die Stadt sich durch Gottes Wort anreden läßt, wenn sie durch dieses Wort in das Geschehen der Herrschaft Gottes hineingenommen wird. Regnum Christi ist also nicht ein Territorium, oder eine Ordnungsstruktur, sondern Aktivität, die von Gott in Wort und Geist ausgeht. Andererseits erschöpft sich diese Aktivität nicht in der Kirche, sondern sie wirkt hinein in die Welt zur Seligkeit. Summe des Evangeliums ist, nach der 2. Schlußrede, »dass unser herr Christus Jesus, warer gottes sun, uns den willen seines himmlischen Vaters kundge- thon, und mit siner Unschuld vom tod erlöst und gott versünt hat«. Beides, Gottes Willen tun und Gottes Gnade empfangen, gehört zusammen. Aber es ist nicht zu verkennen, daß die Zwinglische Reformation, insofern sie zunächst Kirchenreform vom Wort Gottes her sein wollte, vom ersteren ausgegangen ist.
Lit.: Hauptschriften, deutsch hg. v. F. Blanke, i94off. - G. W. Locher, Zwingli in neuer Sicht,
1969 - Christof Windhorst, Täuferisches Taufverständnis. Balthasar Hubmaiers Lehre . . ., 1976
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Calvin und der Calvinismus Johannes Calvin, *10.7.1509 zu Noyon
Johannes Calvin
(Frankreich), f 2 7.5.1564 in Genf, Sohn eines bischöfl. Sekretärs, College in Noyon, dann Kollegien in Paris (Magistergrad), Jurastu- dium in Orleans und Bourges (Licentiat), nachher humanistische Studien in Paris. 1533 Bekanntschaft mit evangelisch Gesinnten um Lefevre d'Etaples, insb. mit Guillaume Farel, der ihn später nach Genf holte. Wegen Mitarbeit an einer als ketzerisch empfundenen Rektoratsrede seines Freundes N. Cop mußte er Frankreich verlassen. Aufenthalt in Basel unter dem Pseudonym Martinus Lucianus. In Basel erschien 1536 die erste Ausgabe seiner Institutio reli- gionis Christianae (Unterricht in der ehr. Religion), die in ihrer abschließenden Fassung (15s9) dann den Ertrag der Reformation zusammenfaßte und zur bedeutendsten systematischen Darstellung der christlichen Lehre in jener Zeit wurde. 1536-1538 erster Aufenthalt in Genf, wo Farel und Peter Vi- ret, die später die Reformation in Neuenburg und in der Waadt durchführten, bereits wirkten. Genf hatte sich 1531 mit Hilfe Berns von Savoyen gelöst und war 1535 evangelisch geworden. 1538 mußten Calvin und Farel die Stadt auf Druck der gegnerischen Mehrheit im Rat verlassen. Calvin zog nach Straßburg, wo er mit Bucer und der deutschen Reformation (Melanchthon) in nähere Verbindung kam. 1545 Rückkehr nach Genf, wo er die Kirche streng nach seinen Grundsätzen reformierte. Gründung der
Genfer Akademie, weitreichender Einfluß (Schottland, Holland, Ungarn, besonders Frankreich).
Calvin war Reformator in der Zeit der Gegenreformation. Genf war immer eine bedrohte Stadt, und die ev. Kirche in Frankreich (Hugenotten), der er immer beistand, war eine Kirche unter dem Kreuz. Viele wurden als Ketzer verbrannt: Louis de Ber- quin 1529. 1535 Einäscherungen in Paris (vor Franz I.). 1546 Vierzehn Brände in Me- aux. 1553 Verbrennung von drei Studenten in Lyon. 1557 Anne de Bourg, u.a. Die Verfolgungen hielten an über die Zeit Calvins hinaus, bis zur blutigen Bartholomäusnacht (22.8.1572) und später zur Massenverfolgung unter Ludwig XIV. (1685 Aufhebung des 1598 von Heinrich IV. erlassenen Toleranzediktes von Nantes).
Calvin war Bibeltheologe. Seine Auslegungen erreichten weiteste Verbreitung. Theologisch knüpfte er an Augustinus, Luther, Bucer und Zwingli an, aber was er aufnahm, erhält innerhalb seiner Theologie einen neuen Stellenwert. Während bei Luther die persönliche Glaubenserfahrung mit dem Hintergrund des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium immer sichtbar wird, gehören Gesetz und Evangelium bei Calvin zusammen. Das Gesetz ist zwar insofern abgetan, als es uns nicht mehr verurteilt, aber es ist Zuchtmeister auf Christus, und seine Verheißung wird in Christus erst recht in Kraft gesetzt. Man muß darüber hinaus nach der Absicht der Verheißung des Gesetzes fragen. Diese ist erst in Christus offenbar, indem sie zugleich erfüllt ist: Es ist das neue Leben im Geist. In Christus leben, heißt nicht nur, nach dem Buchstaben einzelne Werke tun, sondern im Herzen ein neuer Mensch werden. Dies ist der volle Gehorsam, daß Christus in uns lebt, durch den Glauben, in der Kraft seines Geistes. In Gesetz und Evangelium offenbart sich ein und derselbe Gotteswille, dort (für uns) unerfüllbar, hier in Christus erfüllt.
Christi Werk ist in seiner dreifachen Gestalt der vollendete Gehorsam: Sein prophetisches Amt besteht darin, daß er Herold und Zeuge des Vaters ist, und er ist es auch in und durch uns, indem die Kraft des Geistes sich in der Verkündigung der Gemeinde auswirkt. Sein königliches Amt, d.h. seine ewige, geistliche Herrschaft, wirkt sich in uns dadurch aus, daß wir, auch unter dem Kreuz, »mit Gott in Gemeinschaft sind bis zur vollen Seligkeit«. Christi Königreich »ist ja nicht irdisch und nicht fleischlich . . ., sondern es ist geistlich und führt uns zum ewigen Leberi: So sollen wir denn in unserem Leben unter Elend und Mangel . . . und aller anderen Not fröhlich durchhalten und mit dem einen zufrieden sein, daß uns unser König nie verlassen wird, daß er uns nie seine Hilfe in unserer Not versagt, bis wir unsern Kampf durchgekämpft haben und zum Triumph gerufen werden; denn das ist die Art seiner Herrschaft, daß er uns alles das wiederschenkt, was er selbst vom Vater empfangen hat« (Institutio 2,15,4). Und sein priesterliches Amt besteht darin, daß er uns durch seine Heiligkeit mit Gott versöhnt, indem er sich selbst zum Opfer darbrachte. Durch sein Selbstopfer hat er uns nicht nur Gottes Wohlgefallen erworben, sondern er will, daß wir in ihm geheiligt werden. »In uns sind wir zwar befleckt, aber in ihm sind wir Priester. . .« (2,15,6).
Das Sein in Christus bedeutet also höchste geistliche Aktivität, nämlich das Hineingenommenwerden in seinen Gehorsam, sein Leiden, seine Heiligkeit und seine Vollendung. Das bedeutet, daß das Christsein sich nicht auf den Glauben beschränken kann, sondern sich auswirken muß im Gehorsam, in der Zucht und Ordnung, in den Diensten der Kirche. Wohl ist Kirche erkennbar an der Predigt des Wortes und am Dienst des Sakraments. Aber »diese beiden können nicht bestehen, ohne Frucht zu bringen und durch Gottes Segen gedeihlich zu sein« (4,1,10), darum geht es nicht an, ihre Autorität zu verachten und sich ihrer Zucht und Ermahnung zu entziehen.
Für die calvinistischen Kirchen gehören Bekenntnis und Kirchenordnung wesentlich zusammen. Es gibt Dienste (Ämter), die bleibend zum Gehorsam der Kirche gehören, wie das Hirtenamt (ministres, pasteurs, für Predigt, Sakrament und Seelsorge), das Lehramt (Docteurs, für den Unterricht), das Ältestenamt (für die Gemeindeleitung) und das Diakonenamt (für die Liebestätigkeit). Die oberste kirchliche Verwaltung wurde in Genf vom Konsistorium ausgeübt, dem die Pastoren und die Ältesten angehörten. In der französischen Kirche bildete sich dann aus der Verbindung mehrerer Gemeinden die Synode, in welcher jede Gemeinde durch Pfarrer, Älteste und Diakone vertreten war.
Gegenüber dem Staat mußte diese Kirche Freiheit nicht nur für Glaube und Predigt fordern, sondern auch für ihr Gemeindeleben, ihre Ordnungen und ihre Kirchenzucht. Aber wie Luther anerkannte Calvin, daß die weltliche Obrigkeit von Gott verordnet ist und ihre eigene, unmittelbar von Gott empfangene Vollmacht hat, Recht und Frieden zu schützen, aber auch der Kirche Schutz zu gewähren. Die calvinistischen Kirchen waren ihrer theologischen Intention nach ausgesprochen staats- und obrigkeitstreu. Erst im späteren Calvinismus hat sich dann unter dem Eindruck der grausamen Verfolgungen die Lehre vom Widerstandsrecht, sogar vom Tyrannenmord ausgebildet, und in diesen Zusammenhängen tauchte auch der Gedanke der Volkssouveränität auf (Th. Beza, De iure magistratum, 1574; F. Hottoman, Franco-Gallia, 1573; H. Languet, Vindicia contra tyrannos, 1576).
Ein entscheidender Aspekt des Glaubens ist für Calvin das Erkennen Gottes. »Welches ist die wichtigste Bestimmung (principale fin) des menschlichen Lebens?« heißt die erste Frage des Genfer Katechismus von 1541. Die Antwort lautet: »Gott zu erkennen«. Gott erkennen heißt aber zugleich, ihn ehren, und ihn ehren heißt, sein ganzes Vertrauen in ihn setzen und ihm dienen, ihm gehorchen und sein ganzes Heil in ihm suchen. Wo aber erkennen wir Gott? Der Grund alles Gottvertrauens ist, »ihn in Jesus Christus erkennen« (Fr. 14). Gott ist der souveräne Schöpfer und Ursprung, dessen Wille ist, sich zu verherrlichen in denjenigen, die er dazu nach seinem Vorsatz vorausbestimmt hat. In Jesus Christus verwirklicht und erfüllt er seinen Heilsratschluß. Christus ist die Erlösung in seinem Kreuz, die Genugtuung in seinem Opfer, die Heiligung in seinem neuen Leben, die Unsterblichkeit, die in seiner Auferstehung erschienen ist. In ihm liegt die Fülle aller Güter. »Unser ganzes Heil, alles, was dazu gehört, ist allein in Christus beschlossen. Deshalb dürfen wir auch nicht das geringste Stücklein anderswo ableiten. Suchen wir das Heil, so sagt schon der Name Jesus: es liegt bei ihm« (Inst. 2,16,19).
Lit.: Unterricht in der ehr. Religion (deutsch von O. Weber), 19632 - Auslegung der hl. Schrift, Neue Reihe, hg. v. O. Weber, 1937ff. - Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort ref. Kirchen, hg. v. W. Niesei, 1938 - W. F. Dank- baar, Calvin, 1959 - W. Niesei, Die Theologie Calvins, i9572-H. Scholl, Der Dienst des Gebets nach Johannes Calvin, 1968 - W. H. Neuser, Calvinus Theologus, 1976
Flückiger
Reich Gottes
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Biblischer Befund
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altes Testament: R. G. heißt im AT Königsherrschaft Gottes, wobei das Spätjudentum »Gott« durch »Himmel« ersetzt (vgl. Mt). Jahwe herrscht unumschränkt über Himmel und Erde (PS47; 95-99)- Insbesondere ist er Bundesherr Israels. Als König der Herrlichkeit gibt er dem Volke —> Heil und Gerechtigkeit in der Gemeinschaft mit ihm, Ps 24; 99,4; 85. An Davids Haus knüpft sich die Verheißung eines ewigen Königtums und Friedensreichs. Der Zionskönig wird auch Weltherrscher sein, 2Sam 7; Jes 9; Sach 9,9.10; Ps 2. Er ist der Menschensohn, dem Gott die Macht überträgt, Dan 7.
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neues Testament: Jesus ist der verheißene Messiaskönig. Er verkündigt das Evangelium vom Reich und verkörpert die Gottesherrschaft. Für den Juden war das R. G. einstweilen vor allem Forderung, bei Jesus ist es Heilsgabe, greifbar nahe in seinen Machttaten, Mt 12,28; Lk 10,9, zugleich aber auch noch verborgen unter der irdischen Niedrigkeit des Menschensohnes und seines Kreuzes. Offenbar wird Jesu Herrschaft bei seinem Kommen in Herrlichkeit, Mt 24,30. In die Gottesherrschaft kann man nur durch persönliche Buße, durch —» Wiedergeburt, Bekehrung und —» Glauben ein- gehen, Mk 1,15; Joh 3,3; Mk 10,15. So erkennt man seine Erwählung zum Kind des Reiches, Mt 13,38. Man bejaht dessen Erstanspruch Mt 6,33; Mk 9,47 und empfängt seine Gaben, Röm 14,17. Das Reich ist Ge- genwarts- und Hoffnungsgut zugleich, Mt 25,34. Ihm steht einstweilen entgegen das Reich Satans, dessen Werke Jesus zerstört, Mt 12,25h; ijoh 3,8. Das R. G. ist nun zugleich Reich Christi. Indem Israel den Messias verwirft, verscherzt es sein besonderes Anrecht an das Reich, Mt 8,12, bleibt aber dennoch Volk der Verheißung, Röm 9,4. I
des Satans siegen und ist nicht identisch mit der katholischen Kirche.
а. Die mittelalterliche Kirche und Gesellschaft hat sich verstanden als geistlich-weltliche Rechtseinheit (Corpus Christianum) unter dem unsichtbaren Haupt Christus und den sichtbaren Häuptern von Papst und Kaiser.
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Für luthergibt es das Corpus Christianum nicht mehr. Er unterscheidet das Reich Christi (regnum Christi) als Reich der Gläubigen und die staatliche Ordnung (regnum mundi; nicht identisch mit dem Reich Satans! —> Zwei-Reichelehre). Christus herrscht bei den Seinen durch seinen —» Geist, durch Wort und —> Sakrament. Es ist ein verborgenes Reich der Vergebung, der Freiheit und der —» Liebe, in das man durch Buße und Glauben gelangt.
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Calvin betont die Herrschermacht und Ehre Gottes und den Kampf gegen die Finsternis. Das Reich Gottes soll —» Kirche und Staat völlig durchdringen.
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Im Pietismus treten wieder die biblischen Erkenntnisse hervor. Das R. G. ist dynamisch, es will die Welt umgestalten und drängt zur -> Mission.
б. In der -> Aufklärung geht das Bewußtsein, daß es sich um das R.G. und Seines Heils handelt, verloren. Das »R.G.« wird nun rein moralisch verstanden (Kant).
7. -» schleiermacher sieht das Reich Christi als neues Gesamtleben, das die Schöpfung und die Persönlichkeit vollendet und von Christus seinen Ausgang nimmt.
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Grundsätzlich
Es ist festzuhalten, daß das R. G. niemals in unsere Hand übergeht, sondern mit all seinen Gütern Gottes gegenwärtige und endzeitliche Heilsgabe in Christus bleibt. Das Reich ist nicht Traum menschlichen Wün- schens und Höffens (Utopie), sondern Gottes gewisse Verheißung. Unsere Aufgabe am Reich ist Verkündigung als Ernstfall in Wort und Tat. Bloß irdische Gerechtigkeit ohne persönliches Heil in Christus bleibt außerhalb des Reiches Christi und seiner Zukunft. Das Reich erheischt sofortigen Gehorsam, vollendet sich aber nicht auf Grund steter Entwicklung, sondern in einem göttlichen Akt bei der Erscheinung Jesu Christi (—> Endzeit). Seine einstweilige Verborgenheit
bedeutet Anfechtung, soll aber die Dynamik von Glaube und Liebe nicht hindern, sondern beflügeln.
Lit.: G. Schrenk, Gottes Reich und Bund, 1923 -F. Hubmer, Weltreich und Gottesreich, 19715 - E. Staehelin, 56 Thesen über das Reich Gottes, 19662 - Stott/Runia, Das Himmelreich hat schon begon-
Reichgottesarbeiter, -Vereinigung
Reichgottesarbeitervereinigung ist ein Zusammenschluß von hauptamtlichen Predigern, Diakonen, Stadtmissionaren, Missionaren, Jugendwarten aus den Gemeinschaftsverbänden, den Freikirchen und den Landeskirchen. Gründung: 1903 in Kassel, jetziger Sitz: Denkendorf bei Stuttgart. Die Vorsitzenden: August —> Dallmeyer (1904-1934); Paul -» Wißwede (1934-1953); Ernst de Groote (1953); Heinrich Uloth (1953 -1971); Karl-Heinrich Bender (seit 1971).
Zweck: Pflege der Bruderschaft, Förderung zum Dienst, persönliche Seelsorge, gegenseitige Bruderhilfe. Verwirklichung des Zweckes: Haupt- und Regionalkonferenzen, theologische Studienwochen. Organ: »Der Reichgottesarbeiter« (erscheint zweimonatlich). Grundlage: Der Verein steht auf dem Boden der Hl. Schrift und der reformatori- schen Bekenntnisse. Er ist korporativ dem »Deutschen Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation e.V.« (—> Gna- dauer Verband) angeschlossen.
Heimbucher
Reichsbrüderbund, In Lissa/Posen wurde 1878 der Ev. Reichsbrüderbund gegründet, der aus den —» Evangelisationen der Schwaben M. Blaich (1820-1903) und J. Seitz erwachsen war. Im R. schlossen sich landeskirchliche Gemeinschaften in Ost- und Westpreußen, Pommern und Posen zusammen. Der 2. Weltkrieg beendete die Arbeit. - In Württemberg, wo Seitz um 1900 die ersten Gemeinschaften ins Leben gerufen hatte, weiß sich der »Württembergische Brüderbund« mit ca. 46 Gemeinschaften als Erbe des R. Nach Hans Brandenburg und Fritz Hubmer ist seit 1973 Friedrich Hänss- ler (Neuhausen bei Stuttgart) Vorsitzender. Die Gemeinschaften finden sich auf der Fil- derebene, im Remstal, im Schwarzwald, im Raume Kirchheim/Teck und im Bezirk Waldenbuch-Urach. Schwerpunkt ist seit Jahrzehnten die —»Jugendarbeit mit ca. 60 -»
Freizeiten im Jahr, Kurzbibelschulen und Seminaren.
Rothenberg
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