Der polarisierte Wahlkampf war überschattet von einer Gewalteskalation, insbesondere durch das Attentat vom 10.10.2015 in Ankara, bei welchem über 100 Menschen starben. Nebst Attacken vor allem auf Mitglieder und Parteilokale der pro-kurdischen HDP wurden mehrere HDP-Mitglieder festgenommen. Überdies wurden Mitglieder aller drei parlamentarischen Oppositionsparteien wegen Verunglimpfung von Amtsvertretern und Beleidigung des Staatspräsidenten angezeigt. Insbesondere im Südosten des Landes war infolge der verschlechterten Sicherheitslage und der darauf folgenden Errichtung von speziellen Sicherheitszonen und der Verhängung von Ausgangssperren ein freier Wahlkampf nicht möglich. Die zunehmende Anwendung von Bestimmungen des Anti-Terrorismus- und des Strafgesetzbuches während des Wahlkampfes führte dazu, dass gegen eine große Anzahl von Journalisten, Benutzern Sozialer- und Informationsmedien Untersuchungen wegen Verleumdung oder Terrorismusverdacht eingeleitet wurden. Zudem gab es Fälle von Gewalt gegen Medienhäuser und Journalisten (OSCE/ODHIR 23.10.2015, vgl. OSCE/ODHIR 2.11.2015). Laut Medienbeobachtung seitens der OSCE Wahlbeobachtungsmission bevorzugten drei von fünf Fernsehstationen, darunter das öffentlich-rechtliche, die Regierungspartei AKP (OSCE/ODHIR 2.11.2015).
Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdo?an als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015, vgl. DF 28.7.2015). Das innenpolitische Klima hat sich im Zuge der Gewalteskalation verschärft. Führende Regierungspolitiker wie Bülent Ar?nç sprachen von der "dreifachen Bedrohung" der Türkei, nämlich durch die PKK, die linke Terrorgruppe DHKP-C und durch den sog. Islamischen Staat (Standard 30.7.2015).
Staatspräsident Erdo?an verfolgt weiterhin das Ziel der Umgestaltung des politischen Systems zu einer Präsidialrepublik. Ende Jänner 2016 bezeichnete Erdo?an das bestehende parlamentarische System als Anomalie und überholt. Ziel sei es ein Referendum über das Präsidialsystem abzuhalten. Um ein solches abhalten zu können, bedarf es 330 von 550 Stimmen im Parlament. Mit 367 Stimmen kann auch ohne Referendum die Verfassung geändert werden. Szenarien sprechen davon, dass die AKP unter Erdo?an, die nach den Novemberwahlen über 317 Sitze verfügt, vorzeitige Neuwahlen ausschreiben könnte, wenn die parlamentarische Opposition ein Referendum verweigert (HDN 29.1.2016; vgl. DF 27.1.2016). Anfang Februar 2016 verkündete Ministerpräident Ahmet Davuto?lu, dass ein Parlamentsausschuss, zusammengesetzt aus je drei Vertretern der vier Parlamentsparteien, innerhalb von sechs Monaten eine neue Verfassung ausarbeiten soll, die die Überführung in ein Präsidialsystem bilden würde (HDN 2.2.2016).
Quellen:
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Sicherheitslage
Die Sicherheitslage hat sich im Juli 2015 laut Europäischer Kommission dramatisch verschlimmert, kurz nachdem die PKK verkündete, das Ende des Waffenstillstandes zu erwägen, welcher im März 2013 besiegelt wurde (EC 10.11.2015). Betroffen war in erster Linie der Süd-Osten des Landes.
Den Wendepunkt für den Konflikt zwischen der PKK und der Türkei stellte Ankaras verspätete Reaktion in Hinblick auf die militärische Hilfe der syrischen Kurden in der Grenzstadt Kobane dar. Die Blockade der Hilfe für das vom sog. Islamischen Staat (IS) belagerte Kobane durch die türkische Regierung führte im Oktober 2014 zu Massenprotesten in den mehrheitlich kurdischen Provinzen im Südosten, bei denen 50 Menschen ums Leben kamen. Die Regierung erklärte ihr Zögern damit, dass sie sowohl den sog. IS als auch die PKK und deren syrische Schwesterpartei PYD als Terrororganisationen gleichen Ranges betrachte. Auf kurdischer Seite entstand die gängige Ansicht, dass die türkische Regierung insgeheim den sog. IS unterstütze (ICG 17.12.2015).
Obgleich die türkischen Behörden in der Vergangenheit erfolgreich Angriffspläne durchkreuzten, bleibt die Terrorbedrohung hoch. Terroristische Gruppen, inklusive kurdische Gruppen, der sog. Islamische Staat und linksextreme Organisationen setzen die Planung und Ausführung von Angriffen fort. Somit sind weitere Anschläge absehbar, die sich mehrheitlich gegen den Türkische Staat richten. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass einige Anschläge auch die Interessen des Westens und den Tourismus zum Ziel haben werden (GOV.UK 28.1.2016, vgl. EDA 28.1.2016). Landesweit ist weiter mit politischen Spannungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen (AA 4.3.2016a).
Bei einem Selbstmordattentat in der mehrheitlich von Kurden bewohnten türkischen Kleinstadt Suru? nahe der syrischen Grenzen wurden am 20. Juli 2015 über 30 Menschen getötet sowie über hundert verletzt. Die Getöteten waren TeilnehmerInnen eines rund 300 Personen zählenden Anti-IS-Treffens, organisiert von der linksgerichteten, pro-kurdischen Föderation der Sozialistischen Jugendverbände (SGDF) (Standard 20.7.2015, vgl. Jazeera 20.7.2015). Als Reaktion kam es in mehreren türkischen Städten zu Solidaritätskundgebungen mit den Opfern des Anschlages. In Istanbul demonstrierten Zehntausende. Die Polizei nahm hunderte DemonstrantInnen fest und löste - wie auch in anderen Städten – die Kundgebung mit Gewalt auf (Standard 21.7.2015). Nach dem Bombenanschlag in Suru? und der darauf folgenden Ermordung zweier Polizisten durch die PKK, die sich allerdings später davon distanzierte (TZ 29.7.2015), eskalierte die Lage. Die türkische Armee griff Stellungen der PKK in der Türkei und im Nordirak an (Anadolu 1.8.2015). Kritiker bezichtigten die Regierung u.a. im Kampf gegen das syrische Regime auch radikale Islamisten mit Waffen zu versorgen und die Augen vor Dschihadisten zu verschließen, die über die Türkei nach Syrien reisen (WZ 21.7.2015). Misstrauen gegenüber der Regierung herrscht vor allem unter den Kurden. Während die Regierung hinter dem Suruç-Massaker einen Vergeltungsanschlag des IS sieht, machten Vertreter der pro-kurdischen Partei HDP und andere Regierungskritiker die Regierung für den Anschlag mitverantwortlich. Zum Misstrauen trug auch bei, dass vier Anschläge auf HDP-Büros im Zuge des Wahlkampfes für die Parlamentswahlen im Juni 2015 nicht aufgeklärt wurden (NZZ 21.7.2015). Bis Ende Juli wurden über 1.300 Personen festgenommen, wobei rund 850 beschuldigt wurden, Verbindungen zur PKK zu haben, aber nur circa 140 dem sog. Islamischen Staat (IS) nahezustehen (Reuters 30.7.2015). Der Staatspräsident forderte das Parlament auf, die Immunität von Abgeordneten aufzuheben, denen er persönlich Verbindungen zur PKK unterstellt (SD 30.7.2015; vgl. HDN 5.8.2015).
Selahattin Demirta?, Co-Vorsitzender der HDP, hat mehrfach die türkische Regierung und die PKK zur Einstellung der beiderseitigen Angriffe aufgerufen (Spiegel 29.7.2015). Die EU und die USA riefen die Türkei dazu auf, verhältnismäßig auf die PKK-Angriffe zu reagieren und den Friedensprozess nicht zu gefährden (TZ 4.8.2015; vgl. Qantara 5.8.2015).
Der Konflikt eskalierte im September 2015, da nebst den Kampfhandlungen auch die politisch und ethnisch motivierte Gewalt hinzutrat. Als zwischen dem 6. und 8. September 30 Soldaten und Polizisten infolge von Bombenanschlägen der PKK getötet wurden, griffen militante türkische Nationalisten in 56 Provinzen und Bezirken Parteibüros der pro-kurdischen Partei HDP an. Am Höhepunkt der Ausschreitungen stürmten 500 Leute das HDP-Hauptquartier in Ankara und verwüsteten bzw. versuchten dieses niederzubrennen. Es kam darüber hinaus zu gewaltsamen Übergriffen auf Personen und Geschäftslokale kurdischer Provenienz. Im anatolischen K?r?ehir wurden mehr als 20 Geschäfte angezündet. Linienbusse, die in die kurdischen Provinzen verkehren, wurden wie ihre kurdisch-stämmigen Insassen physisch attackiert (Al Monitor 13.9.2015, vgl. WSJ 12.9.2015). In Istanbul riefen bei einer Demonstration, die vom Jugendverband der rechts-nationalistischen Parlamentspartei MHP organisiert wurde, laut Medienberichten tausende Demonstranten: "Wir wollen keine Militärintervention, wir wollen ein Massaker" (Welt 10.9.2015, vgl. WSJ 12.9.2015).
Am 10.10.2015 explodierten vor dem Hauptbahnhof in Ankara zwei Bomben, wo sich gerade die Teilnehmer einer Friedenskundgebung sammelten. Rund 100 Menschen wurden dabei getötet und rund 500 verletzt. Die Demonstration wurde vom linksstehenden Gewerkschaftsverband, Konföderation der Revolutionären Arbeiter-Gewerkschaft (DISK), der Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten (KESK), sowie der Berufsverbände der Ärzte und Architekten organisiert. Die pro-kurdische Parlamentspartei HDP schloss sich der Kundgebung an (Standard 10.10.2015, vgl. FNS 19.10.2015). Unmittelbar nach dem Anschlag waren kaum Polizisten vor Ort. Erst nach 15 Minuten seien vermehrt Sicherheitskräfte eingetroffen, berichteten Augenzeugen. Dann hätten sie Tränengas gegen Menschen eingesetzt, die den Verletzten helfen wollten. Im Gegenzug wurden Polizisten von wütenden Demonstranten als "Mörder" beschimpft und mit Holzstangen angegriffen (FNS 19.10.2015). Der türkische Regierungschef Ahmet Davuto?lu verdächtigte unmittelbar nach dem Anschlag den sogenannten Islamischen Staat, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und zwei linksextreme Gruppierungen, nämlich die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) und die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) (HDN 10.10.2015). Zwei Tage nach dem Anschlag räumte der Regierungschef ein, dass der sogenannte Islamische Staat als Hauptverdächtigter gilt, da es offensichtliche Parallelen zum Selbstmordanschlag in Suru? gäbe (TZ 12.10.2015, vgl. Standard 12.10.2015, Guardian 12.10.2015).
Am 12.1.2016 kamen bei einem Selbstmordanschlag im Zentrum Istanbuls mindestens zehn Menschen, vorwiegend deutsche Touristen, ums Leben. Die türkischen Behörden gingen von einem Attentat der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) aus (HDN 13.1.2016, vgl. Standard 12.1.2016).
In den Kurdengebieten der Südost-Türkei wurden laut Armee seit Beginn der Dezember-Offensive gegen die PKK in den drei Städten Cizre, Silopi und Diyarbak?r Insgesamt 448 PKK-Anhänger getötet. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen wurden mehr als 160 Zivilisten in den Städten, in denen eine Ausgangssperre verhängt wurde, getötet (Standard 10.1.2016). Laut der "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (T?HV) wurden seit Mitte August 2015 in 19 Distrikten von sieben Städten, vorwiegend in Diyarbak?r, ??rnak, Mardin und Hakkâri, Ausgangssperren verhängt, wovon rund 1,38 Millionen Menschen betroffen waren. Die Lage hat sich seit Mitte Dezember 2015 verschärft. Innerhalb von 29 Tagen sind mindestens 79 Zivilisten, darunter 14 Kinder, ums Leben gekommen; teilweise in deren Häusern oder Wohnungen, etwa durch Raketenbeschuss; vereinzelt auch außerhalb der Sperrbezirke (T?HV 9.1.2016). Laut Human Rights Watch ist die humanitäre Lage in den betroffenen Gebieten prekär. Die Bevölkerung ist von der medizinischen sowie von der Lebensmittel-, Wasser- und Stromversorgung abgeschnitten (HRW 22.12.2015). Staatspräsident Erdo?an verkündete in seiner Neujahrsansprache, die PKK "bis zum Ende" bekämpfen zu lassen und mit den Säuberungen weiterzumachen. Laut Erdo?an seien 2015 3.100 Terroristen und 200 Sicherheitskräfte getötet worden (Spiegel 31.12.2015).
Am 17.2.2016 sprengte sich ein Selbstmordattentäter im Regierungsviertel von Ankara in die Luft. Ziel war ein Militärkonvoi. Bei dem Anschlag kamen 29 Menschen ums Leben. Nur wenige Stunden nach dem Anschlag deuteten Regierungschef Davuto?lu und Staatspräsident Erdo?an auf die syrische Kurdenmiliz YPG als mutmaßliche Drahtzieher des Attentats und riefen die USA abermals dazu auf, ihre Unterstützung für die YPG einzustellen. Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) bestritten jedoch jedweden Zusammenhang mit dem Angriff. Schlussendlich bekannte sich die PKK-Splittergruppe ‘Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) zum Anschlag (FNS 1.3.2016).
Quellen:
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