Gesammelte Aufsдtze zur Dramaturgie



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Und ebenso klar setzt Steiger auseinander, wie sich unter dem Einfluß einer anderen Weltanschauung bei Shakespeare eine andere dramatische Technik ausbilden mußte. «Die Shakespearesche Tragödie hat keine so vornehme Vergangenheit wie die altgriechische. Die mittelalterlichen Mysterien und Fastnachtspiele, in denen wir die Urahnen des neueren Theaters zu erblicken haben, huldigten beide den wackeren Grundsätzen des Goetheschen Theaterdirektors im : sie wollten vor allen Dingen die Leute unterhalten. Die Mysterien sollten die Andächtigen für die Langeweile der Predigt entschädigen, und in den Fastnachtspielen durften die werten Mitbürger über die Dummheit und Gemeinheit ihrer lieben Nachbarn lachen.» Nicht die feierliche Erhebung zu den Göttern, sondern das Ergötzen an den weltlichen Dingen wurde Ziel des Schauspiels. «Die Hauptsache war also, daß man den Leuten recht viel zu schauen gab; denn hatte nur das Auge fortwährend seine Beschäftigung, so brauchte den Dichtern und Spielern um den Erfolg nicht bange zu sein. Je mehr traurige und lustige Abenteuer, erhabene Reden und gemeine Spaße miteinander abwechselten, um so besser! ... Shakespeare fand also ein wirkliches Schauspiel vor, von dem das Publikum verlangte, daß es ihm die Großtaten der Geschichte, die Abenteuer der Helden und die Narreteien der lieben Nachbarn leibhaftig vor Augen stelle. Er hatte also nicht, wie die griechischen Dichter, musikalische Empfindungen und lyrische Gedanken zu versinnlichen, sondern äußere Geschehnisse und Abenteuer, Mordtaten und Schelmenstreiche zu verinnerlichen.»

Wie Shakespeare dabei verfuhr, das zeigt so recht, daß er ein Kind seiner Zeit war. Er lebte in einer Epoche, in welcher die Beobachtung auf das Große, auf das Äußere ging. Die großen

Haupt- und Staatsaktionen, die weithin sichtbaren Handlungen waren es vor allem, auf die damals das Auge der Menschen gerichtet war. «Könige und Helden wandeln über die Bühne riesengroß, und die Narren werden den Königen gleich. Alles wächst ins Ungeheure. Nur die Zeiten und die geschichtlichen Entfernungen schrumpfen nach eigenmächtiger Perspektive zusammen. Wir spüren deutlich, daß wir im Zeitalter des Teleskops leben.»

Auch die Naturwissenschaft war damals von diesem Geiste beseelt. Was dem bloßen Auge sichtbar war, wurde untersucht. Man wußte nichts von dem Mikroskopisch-Kleinen, aus dem die neuere Wissenschaft die Gesetze des Großen erforschen will. Hätte Shakespeare die feinen Seelenschwingungen, in welche die Menschen durch die Außenwelt versetzt wurden, von der Bühne herab zeigen wollen: niemand hätte ihn verstanden. Niemand hätte sich aus der Wirkung auf das Innere des Menschen, die äußeren Ursachen, die Handlungen von selbst vergegenwärtigt. Das ist heute anders geworden. Der moderne Dichter hat sich den mikroskopischen Blick des modernen Naturforschers angeeignet. «Wir sehen zuviel: darum müssen wir das Gesichtsfeld verengen. Eine einzige Menschenseele mit unseren Blicken auszuschöpfen, deucht uns eine Danaidenarbeit. Darum haben wir in der Dichtung auch keine Könige und Heiden nötig; der ärmste Teufel von Arbeiter kann uns unter Umständen interessanter sein. Denn wir wollen ja nicht die Kronen und die Purpurmäntel abmalen, sondern nur Seelen, lebendige Menschenseelen - und wer weiß, ob wir unter dem Purpur eine finden würden - wenigstens so eine, wie wir sie brauchen, eine Seele, in der sich das große, zerrissene Jahrhundert abspiegelt? »

Henrik Ibsen schneidet sich deshalb ein mikroskopisches Präparat aus dem Menschenleben heraus und läßt uns alles übrige aus diesem erraten. Damit ist die Grundlage seiner dramatischen Technik gekennzeichnet. Ganz allmählich arbeitet er sich zu dieser Technik durch. Im «Bund der Jugend», in den «Stützen der Gesellschaft», im «Volksfeind» sucht er noch ein makroskopisches Bild, ein möglichst vollständiges Handlungsgemälde vorzuführen; später schildert er nur noch das Innere der Seelen, welche dieses

Gemälde erlebt haben, und eröffnet uns den Rückblick auf das Gemälde. Wie wenig geschieht in den «Gespenstern»! Vormittags besucht ein Pastor eine Witwe, er soll am folgenden Tage ein Asyl einweihen, das dem Andenken des verstorbenen Gatten gewidmet ist. Das Asyl brennt ab; der Pastor reist unverrichteter Dinge ab; und nach seiner Abreise wird der Sohn der Witwe blödsinnig, -Was aber geht während dieser mageren Handlung in den Seelen der Beteiligten vor! Der Rückblick in eine reiche Vergangenheit, in ein überreiches Drama eröffnet sich uns.

Nun hat Ibsen ein besonderes Geheimnis der dramatischen Technik. Er bringt uns in dem eingeschränkten Wirklichkeitsausschnitt, den er uns vorführt, andeutungsweise alles vor Augen, was wir brauchen, damit unsere Aufmerksamkeit auf die ganze in Betracht kommende, aber nicht dargestellte Handlung gelenkt wird.

Steiger macht auf einzelne solche andeutende Züge aufmerksam. «Fürs erste rückt er uns durch die innere Spannung des dramatischen Vorganges und die plastische Kraft der geschickt stilisierten Naturlaute die zitternde Seele seiner Menschen so nahe, daß wir deren Erinnerungsbilder selber wie gegenständlich empfinden.» Ist das aber geschehen, so braucht er ein zweites Mittel. Er läßt uns auf der Bühne einen äußeren Vorgang erleben, den wir nur noch hinter die Bühne zu verlegen brauchen, damit sich die dramatische Wirklichkeit in Phantasie verwandelt, «und wir haben tatsächlich beides, Vergangenheit und Gegenwart in gleicher Weise miterlebt. Die Vergegenständlichung des Erinnerungsbildes und die Verinnerlichung der Bühnenwirklichkeit arbeiten sich so gegenseitig in die Hände, um ebenso starke sinnliche Wirkungen zu erzielen wie der Augenschein des früheren Theaters. Ein klassisches Beispiel dafür finden wir im ersten Akt der . In der bewegten Erzählung der Frau Alving tritt uns die ganze Vergangenheit des Hauses so leibhaftig vor Augen, als sähen und hörten wir den verstorbenen Kammerherrn selbst im Blumenzimmer mit seiner Dienstmagd schäkern. Da auf einmal hören wir wirklich vom Blumenzimmer her die flüsternden Stimmen Oswalds und Reginens und sehen, wie sich Frau Alving, blaß wie der Tod, langsam vom Stuhl emporrichtet und, wie versteinert

nach der Türe deutend, die halberstickten Worte lallt: Gespenster! Das Paar im Blumenzimmer geht um!» Da haben wir in einer unmittelbar gegenwärtigen Handlung zugleich mittelbar eine vergangene dramatisch verkörpert vor uns.

An diese Eigenheit der Ibsenschen Technik muß die Regiekunst bei Darstellung seiner Werke anknüpfen. Unter diesen Gesichtspunkten verwandelt sich die Frage der dramatischen Technik in eine dramaturgische. Was man Ibsen-Stil auf der Bühne zu nennen berechtigt ist, muß an diesem Punkte einsetzen. Denn die Schauspielkunst hat nun einmal die Aufgabe, zu verkörperlichen. Sie muß mit äußerlichen Bühnenmitteln vorführen, sichtbar für die Sinne, was dem Dichter in der Phantasie vorschwebt. Die Parallelvorgänge - der eine der Wirklichkeit, der andere als Erinnerungsbild — muß die Bühnenkunst herausarbeiten. Wie das im einzelnen Falle zu machen ist, muß dem Bühnenpraktiker anheimgegeben werden. Sicher ist nur, daß wir befriedigende Aufführungen Ibsenscher Dramen erst erleben werden, wenn der Bühnen-Stil in dieser Richtung ausgebildet wird. So lange das nicht der Fall ist, werden diese Bühnenwerke auf den Zuschauer immer nur wie dramatisierte Novellen wirken. Wir müssen eben einsehen, daß es auch bei diesen Dramen nicht auf das Was ankommt, sondern auf das Wie. Um das Was zum Ausdrucke zu bringen, könnte Ibsen auch jede beliebige andere Dichtform wählen. Er braucht die Bühne, weil er Kunstmittel anwendet, die über das bloße Erzählen hinausliegen, die verkörperlicht werden müssen, wenn sie in ihrer ganzen Kraft wirken sollen.

Wieder treffend bemerkt Steiger: «Die dramatischen Doppelbilder, von denen das zweite das erste blitzschnell in Erinnerung ruft, sind nicht etwa eine Erfindung Ibsens, aber dieser Dichter muß sich ihrer bei seiner modernen Technik vorzüglich bedienen. Vielleicht bedarf es nur eines leisen Winkes, und der eine oder der andere unserer Regisseure wird zum Schatzgräber, der aus dem tiefen Schachte Shakespearescher Dichtung verborgene Herrlichkeiten auf die Bühne schleppt. Bei Ibsen geht ja keiner achtlos an diesen Doppelbildern vorüber. Denn hier müssen sie jedem, der nicht blind ist, sofort in die Augen fallen.»

DAS DRAMA ALS LITERARISCHE VORMACHT

DER GEGENWART

In seinem anregenden Buche «Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik» (Leipzig 1898) bespricht Friedrich Spielhagen neben anderem auch die Vorherrschaft, welche das Drama in der Gegenwart ausübt. Ein theoretisches Werk Spielhagens wird derjenige, der sich für ästhetische Fragen interessiert, immer mit Freuden lesen. Ein Künstler von reicher Erfahrung, feinem Denken und vornehmem Geschmack spricht aus einem solchen Buche zu uns. Ein reifes, abgeklärtes Urteil, das in langjähriger eigener Kunstübung gewonnen ist, muß auch von demjenigen mit gespanntester Aufmerksamkeit gehört werden, der eine andere Anschauung hat als der Urteilende. Friedrich Spielhagen ist im allgemeinen nicht gerade gut auf die moderne dramatische Produktion zu sprechen; im einzelnen wird er immer der erste sein, der einer wirklichen Begabung Verständnis und Anerkennung entgegenbringt.

Vieles von dem, was er sagt, sollte auch bei den gehorsamsten Bekennern neuerer Richtungen rückhaltlose Zustimmung finden. Denn es ist wahr, daß die heutige literarische Vormacht auf mannigfachen Irrtümern beruht: auf Irrtümern von seiten der Dichter, auf Irrtümern von seken des Publikums.

Ein Grundirrtum ist der, daß man mit den Mitteln der Dramatik alles sagen zu können glaubt, was man sagen will. Eine tiefere ästhetische Bildung wird aber stets zur Anerkennung der Wahrheit führen, daß gewisse Stoffe nur eine romanhafte und nicht eine dramatische Behandlung vertragen. Das Drama verträgt keinen Stoff, der sich nur zur novellistischen Behandlung eignet. Deshalb sind manche moderne Dramen nur dramatisierte Novellenstoffe. Durch solche Mißgriffe im Stoffe, beziehungsweise in der Behandlung eines Stoffes, entstehen dramatische Gebilde, die unbefriedigt lassen, weil wichtige Dinge fehlen, die notwendig sind, wenn wir vollständig verstehen sollen, was sich im Verlauf der dramatischen Handlung ereignet. Und wenn sich der Dramatiker bemüht, solche Dinge zu bringen, so sehen wir auf der

Bühne, was wir auf ihr nicht vertragen. Mit vollstem Recht bemerkt Spielhagen: «Die Verwechslung der dramatischen mit der epischen Kunst ... tritt ... manchmal auf das ergötzlichste zutage. So in der Kleinkrämerei der szenischen Anweisungen in usum der Regisseure und Schauspieler. Da wird uns kein kleinstes Möbel, kein Kaffeetassenuntersatz geschenkt. Der Stand der Sonne, die atmosphärische Stimmung, ein Blumenduft, der durch das Zimmer weht — das alles sind Dinge von immenser Bedeutung. Da wird jeder Person ihre minutiöse Schilderung mit auf den Weg gegeben: ob sie lang oder kurz, dick oder dünn ist; ob ihr Schädel breit oder oval, welchen Ausdruck ihre Physiognomie in der Ruhe, welchen sie in der Bewegung zeigt, und daß sie beim Gehen, Stehen, Sprechen, Lächeln diese oder jene Gewohnheit hat. Man möchte den Herren immer zurufen: wenn euch diese Dinge schon einmal so ans Herz gewachsen sind, schreibt doch gleich nur Romane und Novellen, wo ihr in dergleichen epischen Details schwelgen könnt!»

Aber bei aller Sucht, im Detail zu schwelgen, kann das Drama doch nicht jene Entwickelung von Charakteren und Handlungen bieten, welche die epische Darstellung mit Recht für sich in Anspruch nimmt. Hervorstehende, charakteristische Momente, die sich zu einem künstlerischen Ganzen mit Anfang, Mitte und Ende zusammenschließen, muß das Drama darstellen. Alles Reden über die Unnatürlichkeit eines solchen Ganzen kann nicht überzeugend wirken. Spielhagen erwidert auf solches Reden: «Ich muß dabei immer an die Anekdote von jenem jüdischen Schächter denken, der sein Messer, wie es das Ritual erfordert, schartenlos geschliffen zu haben glaubte, und dem der weise Rabbiner es unter einem Vergrößerungsglase zeigte, wo dann die schartenlose Schneide wie eine Säge erschien. Sich mit der Natur in einen Wettlauf einlassen, ist immer mißlich — sie hat einen gar zu langen Atem. Und die Sache wird absurd, wenn die Konkurrenz ebenso zweckwidrig wie aussichtslos ist. Die Zwecke der Natur und der Kunst decken sich nun und nirgends. Die Natur ist ohne die Kunst noch immer sehr gut fertig geworden; und wenn die Kunst in Naturnachahmung aufgeht, ist sie nichts weiter als eine

Natur aus zweiter und toter Hand, wofür jedes Panoptikum die schauerlichen Beweise liefert.»

Zwei Irrtümer also sind es, auf welche vieles in der modernen Dramatik sich aufbaut: die Verkennung der Grenzen von Epik und Dramatik und der Aberglaube, daß die Natur wirklich nachgeahmt werden könne. Diese Irrtümer sind auf Seiten der Autoren vorhanden.

Nicht minder bedeutsame Schäden zeigt das Verhalten des Publikums gegenüber dem Theater. Man will der eingehenden, alle Entwickelungsglieder eines Vorgangs bloßlegenden epischen Darstellung nicht mehr folgen. Man will sich in ein paar Stunden mit einem Problem befassen, sich oberflächlich von ihm erregen lassen. Nicht allseitigen, künstlerischen Genuß, sondern flüchtigen Hinweis sucht man. Die Neigung zu intensiver Vertiefung nimmt immer mehr ab. Und die Kreise, die eine solche Neigung haben, sind durch die hohen Theaterpreise von dem Besuche der Theater fast ganz ausgeschlossen. Das Schicksal eines dramatischen Kunstwerkes ist heute von Faktoren abhängig, die nicht entscheiden können über künstlerischen Wert oder Unwert. Nur zu wahr sind folgende Sätze Spielhagens: «Jenes innige Verhältnis, das einmal zwischen dem Publikum und dem Produzenten (Dichtern und Schauspielern) stattfand, jenes eindringende Verständnis, das aus der stetigen, herzlichen Teilnahme resultiert — sie sind, wenigstens in den Großstädten von heute, nicht mehr möglich. Wie sollten sie es auch sein, in einem aus einer kleinen Zahl wirklicher Liebhaber und einem überwältigend großen Kontingent von bis ans Herz kühlen, medisierenden Müßiggängern, kokettierenden Müßiggängerinnen und durchreisenden Fremden bunt zusammengewürfelten, beständig wechselnden Publikum! Das Bedenklichste dabei ist: eben dieses Publikums mehr als verdächtiges Votum ist maß- und ausschlaggebend für den ganzen dramatischen Markt. Was es approbiert, wird die Runde durch alle Provinzstädte machen, was es verworfen, hat nirgends einen vollen Kurs. Es gibt da Ausnahmen — ich weiß es wohl, aber die Regel ist es.»

Die fachmännische Kritik wirkt nicht klärend und bessernd auf diese Verhältnisse ein. Denn heute sind die einzelnen Kritiker zu

sehr im Banne irgendeiner ästhetischen Richtung. Einer unbefangenen Hingabe an die künstlerischen Qualitäten sind nur wenige fähig. Die meisten fragen, ob ein Werk zu den Vorstellungen paßt, die sie sich von der Kunst gebildet haben. Treffend ist auch da wieder Spielhagens Charakteristik: «Es entsteht für ganze kritische Kreise ein Zustand wie beim Tischrücken, wo die Manipulierenden den Tisch von einer höheren Macht geschoben glauben, während sie doch selbst die Schiebenden sind unter dem Einfluß eines leisen, von ihnen faktisch nicht wahrgenommenen Druckes, der vom Nachbar zur Rechten (oder Linken) ausgeht, der wieder von seinem Nachbar zur Rechten (oder zur Linken) influiert wird und so weiter die ganze Runde herum.»

Tatsache ist, daß ein Drängen aller jüngeren Dichter nach der Bühne hin stattfindet. Der Umstand, daß beim heutigen Publikum eine Theateraufführung bedeutend schneller auf Verständnis stößt als ein vielbändiger Roman, ist für dieses Drängen maßgebend. Aber noch etwas kommt in Betracht. Auch die Kunst hat heute, wie viele andere Zweige des Lebens, einen sozialen Charakter angenommen. Unsere Dramatiker wollen nicht bloß für den ästhetischen Genuß schaffen; sie wollen zu der Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse das ihrige beitragen. Ein Glied der sozialen Entwickelung soll die Kunst sein. Da aber von dem Drama weit stärkere Wirkungen ausgehen als vom Roman, so wählen die Jungen dieses. Sie sehen dann die Wirkung sozusagen von heute bis morgen erwachsen. Und unsere Zeit will schnellebig sein. Man will sehen, wozu man etwas beiträgt. Daher kommt auch die Begünstigung der dramatischen Kunst durch die Publizistik, den Staat und die Gesellschaft, von der Spielhagen spricht: «die Begünstigung, welche die theatralische Kunst als eine schmuckhafte (gerade wie die bildenden Künste) von oben herab erfährt, wie viel Tausende jährlich auf ihre reichere Ausstattung verwendet werden, die dann doch indirekt auch wieder der dramatischen Produktion zugute kommen. Wie diese selbst wieder, ebenfalls von oben herab, sobald sie den dort beliebten Tendenzen sich geiügig erweist, protegiert wird, was ja wohl nicht immer zu ihrem Seelenheil gereichen mag, immerhin doch ihr weltliches Ansehen erhöht

und ihr nach höheren Regionen schielende, oder auch nur herdenmäßig einem Anstoß gehorsame Scharen zuführt. Wie man weiter die Produktion durch periodisch verteilte Preise zu ehren und aufzumuntern versucht. Wie groß der Raum ist, der ihr in den Feuilletons der Tagesblätter eingeräumt wird. Wie stattlich die Zahl der Revuen, Monatsschriften, die sich ganz ihrem Dienste widmen. Wieviel bereits die höheren Klassen der Gymnasien für ihr Verständnis durch Kommentationen unserer Klassiker, durch Stellung von Thematen über dramatische Dinge und so weiter tun. Welche beredten und begeisterten Lobredner und Interpreten die dramatische Kunst auf den Kathedern der Universitäten findet.» Alle diese Unterstützungen werden auf die dramatische Kunst aus dem Grunde verwendet, weil sie ein wichtiges Glied in der sozialen Entwickelung ist.

NEUE UND ALTE DRAMATIK

Jetzt soll es plötzlich anders werden. Anderthalb Jahrzehnte sind die Prediger der «Moderne» nicht müde geworden, uns zu sagen, daß es in den Bahnen, die Schiller und Goethe eingeschlagen haben, nicht mehr weitergehen kann. Die klassischen Formen, das Monumentale auf der Bühne, die Stilisierung müsse aufhören. Die reine, unverfälschte Natur müsse zu ihrem Rechte kommen. Doch das ist nun fünf Jahre her. Seitdem haben diese «Modernen» entdeckt, daß es Nerven gibt. Da sagten sie: Nerven, die sind modern. Moderne Dramen müssen auf die «Nerven» wirken. Wir haben diesen Modernen ruhig zugehört. Denn sie sagten: wir wollen die neue Kunst entdecken, dazu müssen wir uns erst austoben. Vorläufig machen wir vielleicht Dummheiten, aber das Gute wird schon kommen. Ja, es ist aber nicht gekommen. Jetzt auf einmal fangen diese «Modernen» an, uns zu sagen, daß Goethe doch recht gehabt hat. Das geht zu weit. So lassen wir uns denn doch nicht behandeln. Wir haben bis jetzt geschwiegen. Wir haben

gerne mitangehört, wie uns die Leute den Naturalismus gepredigt haben. Wir haben schließlich auch noch den Symbolismus über uns ergehen lassen. Aber daß jetzt die Leute, die uns mit dem Brustton ihrer Überzeugung das Lied sangen: mit Goethescher Kunst ist es zu Ende, daß diese Leute jetzt kommen, um uns zu belehren, was Goethe gewollt, gedichtet, gedacht hat — das lassen wir uns nicht gefallen. Wir haben immer gewußt, was Goethesche Kunst ist. Wir haben auch gewußt, daß es noch etwas geben kann, was anders ist. Und schliesslich selbst das haben wir gewußt, daß Goethe am Ende des vorigen Jahrhunderts gelebt hat, und daß am Ende dieses Jahrhunderts die Menschheit andere Bedürfnisse hat als die Zeitgenossen Goethes. Wenn aber unsere Zeitgenossen kommen und uns darüber belehren wollen, was die echte Kunst im Sinne Goethes ist, und daß wir uns zu dieser Kunst bekehren sollen, dann wollen wir doch einmal ein ernstes Wörtchen reden. Einzelne unserer jüngeren Literaten entdeckten vor ein paar Tagen Goethe. Mehrere schreiben jetzt sogar Goethes Kunstregeln ab und lassen sie in modernen Revuen drucken. Sie fangen an, etwas ganz Gescheites zu schreiben. Und belehren uns darüber, was echte Kunst im Sinne Goethes ist. Ich will diesen Herren ein Geheimnis verraten. Was sie uns sagen, ist uns herzlich gleichgültig. Es sagt uns nämlich bloß höchst banale Dinge. Aber diese Herren sind begabt. Sie werden in ihrem Goethe-Verständnis noch weiter vorrücken. Deshalb darf man sie nicht zu strenge beurteilen. Heute sagen sie uns Dinge, die wir entbehren können, denn wir haben sie im Blute; sie sind für uns Trivialitäten. Morgen werden sie aus Goethe manches herauslesen, was uns fremd, neu ist. Einer von diesen Begabten hat vor kurzem einen Zeitschriften-artikel geschrieben «Zurück zu Goethe». Daß es denn doch gut ist, an die Kunstmaximen Goethes zu erinnern, hat er gesagt. Er hat einzelne Zeitgenossen angeführt, die mit ihm die gleiche Gesinnung haben. Manchen hat er dabei unrecht getan. Denn wenn heute eine wirklich künstlerische Natur auf Goethe zurückgeht, so hat das den wahrhaftig leicht zu durchschauenden Grund, daß Goethe manches Gute doch geschrieben hat. Goethe gegenüber kommen Standpunkte eben gar nicht in Betracht.

Lange haben wir zugesehen. Aber daß sich jemand herausnimmt, dasselbe zu sagen, was wir immer sagten, das vertragen wir denn doch nicht.

Das alles schreibe ich, ohne Namen zu nennen. Denn Namen kommen dabei gar nicht in Betracht. Jeder, welcher die Kritik der jüngsten Tage verfolgt hat, weiß, daß jetzt plötzlich die Vorkämpfer der «Moderne» uns belehren wollen, was Goethesche, was klassische Kirnst ist. Vielleicht ist gerade jetzt der Zeitpunkt, diesen «Modernen» zu sagen, daß sie endlich auf dasselbe gekommen sind, was wir längst wußten. Bisher haben wir zugesehen, weil wir dachten: nun kommt es. Endlich aber wollen wir die Faust nicht mehr in der Tasche ballen. Endlich wollen wir offen sagen, daß wir zwar an jedes neue Genie, aber nicht an abstruse Redensarten glauben. Die Theoretiker der «Moderne» haben uns schon genug begabte Leute auf einen Holzweg geführt. Das darf nicht weitergehen.

Sowenig, wie der Botaniker die Pflanze in ihrer Entwickelung beeinflußt, sowenig soll der Kunsttheoretiker, der von neuen Richtungen spricht, die schaffenden Leute beeinflussen, die sich und nicht den Theorien folgen sollen.

Das istt so hoffe ich, deutlich gesprochen. Ich spreche das nicht als Konservativer oder Reaktionär. Aber ich spreche es deswegen, weil es mir endlich zu toll wird, immerfort von Dingen reden zu hören, die neue sein sollen, und die es doch nur deshalb sind, weil ihre Bannerträger das Alte nicht kennen.

Wenn heute jemand den pythagoräischen Lehrsatz entdeckte, so würde man ihn auslachen. Wenn heute jemand Kunstformen und Kunstwerte entdeckt, die nicht minder auf ein gewisses ehrwürdiges Alter hinweisen können, so spricht man von «modernen Anschauungen ».

Es ist doch notwendig, daß man etwas gelernt hat! Und nur der sollte von «Moderne» reden, der weiß, was ihr Gegenteil ist. Im übrigen liebe ich alles Gegenwärtige.

PUBLIKUM, KRITIKER UND THEATER

Über diesen Gegenstand hat einmal Paul Bourget geschrieben. Und die guten europäischen Über-Kritiker sagen, daß Bourget das Gras auf dem Grunde der Seele wachsen hört. Also muß man schon die Ohren spitzen, wenn Bourget redet. Nun sagt Bourget: wer ein lyrisches Gedicht, eine Ballade oder einen Roman schreibt, der kümmert sich nicht um das Publikum. Sein Kunstwerk wird um so besser werden, je weniger er sich um das Publikum kümmert. Er schreibt, wie es den Neigungen seiner künstlerischen Seele gemäß ist. So ist es aber durchaus nicht beim Theaterdichter. Dieser muß wissen, daß sein Stück für eine Anzahl von zweitausend Personen, die im Theater anwesend sind, bestimmt ist. Er muß sich dessen bewußt sein, daß diese Menge deswegen ins Schauspielhaus geht, um ein paar Stunden in angenehmer "Weise hinzubringen. Das Publikum hat den Tag über gearbeitet, im Bureau, auf der Börse, im Parlamentssaal. Dieses Publikum hat ganz bestimmte Sympathien und Antipathien. Es hat «heilige Gefühle», die es nicht verletzt sehen will; und es will sich vor allen Dingen nach der harten Arbeit des Tages nicht auch noch geistig anstrengen. Auch hat dieses Publikum ganz bestimmte Sitten und Leidenschaften. Es wird nur Gefallen finden an Stücken, die im Sinne dieser Sitten und Leidenschaften gehalten sind. Es gilt nun für den Theaterdichter, mit seinen Stücken genau dasjenige zu treffen, was dieses Publikum gerne hört und gerne sieht. Er wird Idealist sein, wenn er glaubt, ein idealistisch gesinntes Publikum im Theatersaale anzutreffen; und er wird gemein sein, wenn er der Ansicht ist, daß ein gemeines Publikum berufen sein wird, ihm Beifall zu zollen oder sein Stück auszuzischen.


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