Gesammelte Aufsдtze zur Literatur



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Viel ist zu erwarten von einem Geiste, der so begonnen. Sache derer, die von «moderner Bildung» sprechen, müßte es sein, das Schaffen dieses Genius zu verfolgen.

DAS MÄDCHEN VON OBERKIRCH Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Goethe

Einleitung

In der Weimarischen Goethe-Ausgabe ist zum erstenmale das Dramenfragment «Das Mädchen von Oberkirch» gedruckt. Nur der erste Auftritt, den wir hier vorlegen, ist ausgeführt. Der zweite bricht mitten in einem Satze ab. Zu den beiden Personen des ersten Auftrittes tritt der Geistliche Manner. Wir erfahren, daß der Baron sowohl wie Manner ehedem sich der revolutionären Bewegung angeschlossen hatten, aber zurückgeschreckt worden sind durch die Greuel der Schreckensmänner. Im Laufe des Gespräches zeigt sich, daß auch Manner Marie liebt. Der Baron erklärt, daß er das Mädchen schon früher, in den «Zeiten des blühenden Glückes» «unter Bedingungen» zu der Seinigen habe machen wollen. Jetzt stützt er sich in erster Linie auf den Vorteil, den ihm und seiner Familie

die Verbindung mit einer der edelsten Töchter des Volkes bringen würde. Er glaubt mit diesem Vernunftgrunde eher bei der Gräfin durchzudringen, als wenn er bloß seine Liebe, den eigentlichen Beweggrund, sprechen ließe. Manner findet, daß der Pöbel sich durch die Verbindung keineswegs gewinnen lassen werde, ebenso wenig wie durch das Benehmen des Prinzen, der sich den Namen der «Gleichheit» gab. «Die fürchterlichen Jakobiner sind nicht zu betrügen, sie wittern die Spur jedes rechtlichen Menschen und dürsten nach dem Blute eines jeden.» Als Manner sieht, daß sein Nebenbuhler durch diese Vorstellungen nicht wankend zu machen ist, fragt er diesen noch, ob er denn mit Marie einig sei. Der Baron muß bekennen, daß er noch nicht einmal daran gedacht habe, sich dieser Einwilligung zu vergewissern. Das Fragment bricht ab in dem Augenblicke, wo die Gräfin sich geneigt erklärt, mit dem Baron zu beraten, was in der gefährlichen Lage, in der sich die Familie befindet, das nützlichste sei.

Für die Fortsetzung liegt nur ein ganz ärmliches Schema vor.

A. 1. Baroneß (so wird die Gräfin in dem Schema genannt), Baron. 2. Baroneß, Baron. 3. Baroneß, Baron, Manner. 4. Baroneß, Baron, die Sansculotten. B. 1. Baroneß, Marie. 2. Baroneß, Marie, Manner. 3. Municipalität. C. 1. Baroneß, Baron. 2. Baroneß, Marie. 3. Marie.


  1. Marie, Manner. 5. Marie. D. 1. Marie (mit dem Blatt). 2. Die Municipalität. 3. Das Münster. 4. Menge, Zug.

  2. Anrede als Vernunft. 6. Anbetung. 7. Angeboten, Gemahl. 8. Umwendung. 9. Gefangennehmung. 5. Marie, Baron, Manner (beratschlagen sie zu retten), Sansculotten dazu.

Gustav Roethe, der Herausgeber des Dramenfragmentes in der Weimarischen Ausgabe, hat in den «Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen» (Philologisch-historische Klasse 1895, Heft 4) eine Abhandlung veröffentlicht, in der er seine Ansichten über die Entstehungszeit und den Inhalt des «Mädchens von Oberkirch», wie er Goethe vorgeschwebt hat, veröffentlicht. Die Entstehungszeit hat Roethe zweifellos richtig bestimmt. In dem Stücke ist von dem unglücklichen Fürsten Philipp Egalite die Rede, der am 6. November 1793 hingerichtet worden ist; ferner von dem Vernunftkult, der am 10. November 1793 in Paris zum erstenmale gefeiert und noch in demselben Monate in Straßburg nachgeäfft worden ist. Die Idee zu dem Drama ist also nach dieser Zeit entstanden. Die andere Zeitgrenze ergibt sich aus der Erwägung, daß das «Mädchen von Oberkirch» vor der «Natürlichen Tochter» entstanden sein muß. Beide Dichtungen sind Spiegelungen der Revolutionsereignisse in Goethes Geist. Aber die «Natürliche Tochter» stellt eine reifere Stufe dar. Goethe behandelt nicht mehr die Äußerungen der revolutionären Bewegung in einer außerhalb des Ursprungsortes der Revolution gelegenen Gegend; er sucht die sozialen Strömungen, die der großen Umwälzung zugrunde liegen, in Paris selbst auf. An der «Natürlichen Tochter» fing Goethe im Dezember 1799 an zu arbeiten. Zwischen 1794 und 1799 ist also der Plan zum «Mädchen von Oberkirch» entstanden. Bis hierher hat Roethe gewiß Recht. Die Tagebücher Goethes geben keinen Aufschluß über die Entstehung des Fragmentes. Roethe geht noch weiter und möchte aus Untersuchungen über den Prosastil Goethes, aus der Vergleichung der

Figuren in den «Aufgeregten» (1793 oder 94) und in den «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter» (1794-95) mit denen im «Mädchen von Oberkirch» schließen, daß das Fragment den erstgenannten Dramen nahestehe und bald nach ihnen entstanden sei. Auch meint er, die Auffassung der Revolution sei in «Hermann und Dorothea» geklärter als im «Mädchen von Oberkirch». «Hermann und Dorothea» ist vor dem 9. September 1796 konzipiert. Daher soll das Dramenfragment 1795 oder 96 niedergeschrieben sein. Erwägungen darüber, ob ein Dichter bestimmte Stilwendungen gebraucht oder nicht, ob eine Figur in einem Werke reifer erscheint oder nicht, rühren aber von einer zu mechanischen Auffassung von dem Entwicklungsgange her, wenn es sich nur um einen Zeitraum von 7 Jahren handelt.

Für die hypothetische Bestimmung des Fortgangs der Handlung zieht Roethe die Geschichte von Straßburg heran, ohne auf diesem Wege zu einem Resultate zu gelangen. Auch der Umstand, daß die Handlung der «Göttin der Vernunft» von Heyse mit der des Goetheschen Stückes im wesentlichen übereinstimmt, ergibt nichts. Denn Heyse hat auf eine Anfrage Roethes (siehe die genannte Abhandlung S. 510) geantwortet, daß es ihm bei seinen Quellenstudien «mehr um die Stimmung der Zeit, als um genauere historische Fakta» zu tun war, und daß sein Drama auf freier Erfindung beruhe. So sieht sich denn Roethe genötigt, die mutmaßliche Handlung dadurch zu konstruieren, daß er das Schema interpretiert. Solche Interpretation hat aber immer etwas Bedenkliches. Nichts spricht dafür, daß Goethe das hingeworfene Gedankenschema bei der Ausarbeitung nicht in wichtigen Punkten umgestoßen hätte.

Wer da nachkonstruiert, setzt sich der Gefahr aus, etwas zu konstruieren, was in der vermeintlichen Form nie zum Dasein gekommen wäre. Und wollte er sagen: aber für den Augenblick der Abfassung ist die Konstruktion richtig, so ist darauf zu erwidern: niemand kann wissen, wie viele Möglichkeiten, einen der hingeworfenen Punkte auszugestalten, dem Dichter mehr oder weniger klar durch den Kopf gegangen sind. Wer versuchen will, das Dramenfragment nach dem Plane zu Ende zu denken oder zu dichten, mag es tun. Er muß sich nur klar darüber sein, daß er es nicht mit Goethes, sondern mit seinem eigenen Werke zu tun hat.

EIN WIENER DICHTER

Vor einigen Wochen fiel mir in Wien das damals eben erschienene Buch «Ashantee» von Peter Altenberg in die Hände. Ich kannte das erste Werk dieses Dichters, «Wie ich es sehe». Als es erschienen war, ging unter den jungen Wiener Literaten ein Jubel los, wie wenn der Dichtung nun ein neues Land erobert worden wäre. Wie wenn aus den Tiefen der Seele Töne heraufklängen, die bisher noch von keinem Ohre gehört worden sind. Ich konnte den Jubel nicht recht begreifen. Das ist mir in den letzten Jahren oft so gegangen, wenn ich hörte, da oder dort sei wieder ein gewaltiges Genie erstanden. Alte bekannte Weisen fand ich oft, wo die unbedingteste Originalität verkündet wurde. Auch mit Peter Altenberg war es nicht anders. Ich fand

in «Wie ich es sehe» eine wirkliche Dichtung. Etwa vier Fünftel des Buches waren für mich unverdaulich; aber der Rest führte mich in Seelentiefen, die mir zwar nicht neu waren, in die ich dem Künstler aber mit sehnsüchtiger Liebe folgte. Er sprach von vielem Alltäglichen; aber er wußte ihm einen seltenen Glanz zu leihen; das Gemeine wird vornehm, wenn es aus seinem Munde kommt. Einen wahren Dichter, aber keinen von den großen, glaubte ich in Peter Altenberg zu erkennen. Von den Tiefen der Natur, von den Abgründen, den großen Leiden und Freuden der Menschenseele weiß Peter Altenberg nicht zu singen. Was den Menschen, der sich in die ewige Weltharmonie vertieft, am meisten interessiert, scheint ihm fremd zu sein. Das Kleinliche, das Unbedeutende, was an der Oberfläche der Dinge lebt, verklärt er dichterisch. Für philosophische Naturen ist er ungenießbar. Er hat ihnen nichts zu sagen. Für sie ist gar nicht vorhanden, wovon er spricht. Es ist ihnen das Zufällige, das Wertlose, das sie nichts angeht. Von den «ewigen Ideen» dringt kein Licht in Altenbergs Augen. Aber das nicht Ewige, das Zufällige leuchtet in seiner Hand wie in der Piatos die «ewigen Ideen». Man muß eine gute Stunde haben, wenn man an Altenberg Gefallen finden soll. Man muß in der Stimmung sein zu tändeln, wollüstig in dem Kleinlichsten, dem Unbedeutendsten zu schwelgen. Wenn man nichts Rechtes mit seiner Zeit anzufangen weiß, dann greift man am besten zu seinen Büchern. In einer solchen Stimmung nahm ich auch sein neuestes Werk «Ashantee» vor. Und fand wieder den kleinen Dichter, den ich in «Wie ich es sehe» gefunden hatte. Ich schwelgte wieder in den wollüstigen Empfindungen, die das Unbedeutende, die Oberfläche der Dinge

erregen. Nicht ganz aufrichtig aber schienen mir diese Empfindungen zu sein. Altenberg macht sich zuweilen etwas vor. Wenn ein ganz Kleines doch kein Gefühl in ihm erregen will, dann wird er zum Komödianten der Seele. Er spielt sich Empfindungen vor, die er nicht hat. Denn Altenberg ist sehr kokett. Und nicht nur die Koketterie erinnert bei ihm an die Empfindungswelt der entarteten Frauennatur. Er hat einen ausgesprochen weibischen Zug. Ja, ich finde einen noch größeren Mangel bei ihm. Ihm fehlt das Knochengerüste des Geistes. Wie ein Kind, das mit verkrüppelten Knochen zur Welt kommt, wirkt er auf mich. Er scheint zu glauben, daß auch nur der kleinste Gedanke den Dichter schändet.

Bald nachdem ich Altenbergs Buch gelesen hatte, fand ich in der Wiener Wochenschrift «Die Zeit» einen interessanten Aufsatz von Hermann Bahr über die Dichtung. Ich kann nichts dafür, aber mir ist alles interessant, was Bahr schreibt. Er ist kein Kritiker wie andere. Er geht nicht um die Schöpfungen herum, über die er spricht. Er kann mit einer beneidenswerten Behendigkeit in ihr Inneres kriechen. Und wenn er dann drinnen ist, dann sagt er oft Dinge, die so aufklärend über die Kunstwerke sind wie Keplers Gesetze über die Natur der Planeten. Ich dachte mir, auch über Peter Altenberg wird Hermann Bahr etwas Lichtbringendes sagen können. Als ich seinen Aufsatz zu lesen anfing, war ich ganz beschämt. Solch einen Erfolg wie Peter Altenberg wünscht sich Bahr. «Gleich der Liebling der Kenner und bei den Leuten des bloßen Verstandes so verhaßt zu sein. Selig wandelt er, vielgeliebt, so dahin und lacht die dumme Menge der < Gescheiten > aus, die ihn nicht begreifen dürfen, die ihn hassen

müssen; denn er ist der reine Künstler, der nirgends die Region des bloßen Verstandes streift; diesem fehlen die Organe für ihn...» Nun wußte ich, wie es mit mir steht. Zwar hasse ich Peter Altenberg nicht. Aber ich bekam doch die Empfindung, daß mich sein Kritiker zu der dummen Menge der «Gescheiten» rechnen wird, die Altenberg «nicht begreifen dürfen». Hermann Bahr will nun in seinem Aufsatz zu den dummen «Gescheiten» oder den «Barbaren, wie Barres sie genannt hat, über Herrn Peter» sprechen. Und was erzählt der Kritiker den Barbaren? Daß jeder Mensch in seiner Jugend von Posa und Max geschwärmt und später im Leben gefunden hat, daß es in Wirklichkeit, auf der Straße, im Kaffeehause keinen Posa und keinen Max gibt. Und daß ein Drama, dessen Personen naturwahr geschildert sind, uns nicht befriedigt. Daß wir nicht zufrieden sind, wenn wir die Wäscherin und den Kellner, die wir aus dem Leben kennen, auch auf der Bühne antreffen. Die Wirklichkeit will doch idealisiert sein, wenn sie künstlerisch wirken soll, so lehrt Hermann Bahr. Aber was müssen wir tun, so fragt er, da wir doch in der Wirklichkeit keine Idealfiguren wie Götz oder Posa antreffen? Was die «dummen Gescheiten» tun sollen, um die Kunst zu entdecken, das hat Hermann Bahr mit wenigen Worten gesagt: «Nun, da weiß ich ihnen einen Lehrer. Da brauchen sie bloß zu unserm Herrn Peter zu gehen. Er hat das Glück, die Menschen zu Heben. Er sieht jeden Kommis mit seiner Liebe an, und so kann er den Max und den Posa in jedem Kaffeehause finden. Er hat den großen Blick der ewigen Liebe. Ich hätte ihnen das eigentlich kürzer sagen können, ich hätte bloß sagen sollen: er ist ein Dichter.»

Als ich das gelesen hatte, da fühlte ich mich doch wieder nicht so ganz als Barbar. Im Gegenteil. Hermann Bahr muß die elementarsten Wahrheiten, die trivialsten Dinge sagen, um die «Barbaren» zu Herrn Peter emporzuheben. Wie Bahr über Herrn Peter könnte man über die unbedeutendsten Dichterlinge sprechen. Aber am Schlüsse des Aufsatzes kommt Bahrs wahre Empfindung zum Durchbruch. «Aber er ist nicht der naive Dichter, der nicht Gemeines sagen kann, weil es doch unter seinem Blick immer gleich zum Edlen verwandelt wird. Nein, unser Peter hat das Gemeine oft erblickt. Dann scheint der Dichter in ihm zu schlafen, er hört die nichtigen Reden der Leute und schaut ihre irdischen Gebrechen an. Es sind Pausen in seiner Liebe. Wird sie endlich wach, dann schreit er auf so selig, als ob nun auf einmal alle mesquinen Dinge unter dem Strahl seiner Güte verklärt wären, und in ihrer Verklärung muß er sich immer verwundert erinnern, wie arm sie doch eben noch gewesen sind. Er hat die Eigenheit, es dem Gretchen niemals zu vergessen, daß sie eben noch, bevor seine Liebe erwachte, eine dumme kleine Wäscherin war. Er ist ein Dichter, der fortwährend darüber staunt, daß er ein Dichter ist. Dies macht ihn uns Heb wie ein gutes Kind.» Das ist ja dieselbe Meinung, die ich mir auch über Herrn Peter gebildet habe. Der Dichter erwacht in ihm, wenn er die mesquinen Dinge in einem schönen Lichte schimmern sieht, das von ihrer Oberfläche ausgeht. Aber diese Schönheit ist eine zufällige. Man geht einen Schritt weiter, und dasselbe Ding, das erst noch wie ein Kristall gestrahlt hat, erscheint in seiner matten Gemeinheit. Könnte Herr Peter das wahrhaft Ewige in der dummen kleinen Wäscherin sehen und erschiene sie ihm dann

als Gretchen: er müßte die dumme kleine Wäscherin völlig vergessen. Was mich von Hermann Bahr unterscheidet, ist also nur, daß ich bei dem «reinen Künstler», dem Herrn Peter, nicht übersehen kann, daß er für das Ewige in den Dingen, für das Rückgrat des Lebens keinen Sinn hat. Ich kann einmal den Glauben nicht aufgeben, daß man ganz «gescheit» sein kann und doch künstlerisch empfinden, ja sogar künstlerisch schaffen kann. Warum sitzt denn die «dumme Menge der Gescheiten» andächtig im Theater, während Gerhart Hauptmanns «Versunkene Glocke» gespielt wird?

RUDOLF STRAUSS: «NOVELLEN-PREMIEREN»

Wien 1897

Vieles Beachtenswerte sagt ein Wiener Schriftsteller, Rudolf Strauß, in einer eben erschienenen kleinen Schrift «Novellen-Premieren». Nichts erheblich Neues. Zum Teil Dinge, die in Gesellschaften von Literaten jeden Abend am Biertische besprochen werden. Wie oft wird geklagt über die reichen Dilettanten, die sich nur gedruckt sehen wollen und deshalb für ihre wertlosen Bücher von den Verlegern nicht nur kein Honorar verlangen, sondern für die Ehre, auf den Büchermarkt zu kommen, erhebliche Geldopfer bringen! «Sie drücken durch ihr massenhaftes Angebot die Honorare tief herab, und die Begabten sehen sich genötigt, des täglichen Brotes wegen eilige Bücher zu machen, die hinter ihrem tatsächlichen Können sehr

weit zurückzustehen pflegen», bemerkt Strauß. Und nicht weniger absprechend leuchtet er den Kritikern dieser Literaturzerstörer heim. «Und das Traurige an der Sache ist, daß diese Dilettanten allerseits gefördert werden, daß man gedanken-, oft gewissenlos sie unverdient begünstigt. Meist führen ganz junge Leute das kritische Zepter, die gerne selber erst empor möchten und von den gut Besprochenen Gewinn und Vorteil sich verheißen. Es ist ganz merkwürdig, von welchen Gesichtspunkten solch junge Leute die Werke oft betrachten. Da hat selbst einer von ihnen einen ganz dilettantischen Roman geschrieben, den er gerne irgendwo unterbrächte, und nun führt er um die Bücher des von ihm gewünschten Verlages einen wahren Eiertanz auf, preist sie, erhebt sie, weiß gar nicht genug des Guten. Dort wieder bilden sie eine festgefügte Clique und folgen dem Prinzip des gegenseitigen Auf-lobens. In mächtigen Fanfarenstößen rufen sie die Gläubigen zur Andacht für den Dichter, und das Publikum läßt sich wohl einmal, zweimal, dreimal täuschen, aber am Ende sieht es doch ein, daß es betrogen, daß es zum Götzendienst verleitet ward, verliert alles Zutrauen, alle Lust und geht über die Bücher hinweg wie über die Kritiken.» Und die Redakteure? Sie geben jungen Leuten, denen alle Reife zum Kritiker fehlt, die Bücher zum Rezensieren. Sie tun dies nur darum, weil « die Bezahlung mit der Mühe in gar keinem Verhältnisse steht und weil sich höchstens Anfänger mit diesen kargen Pfennigen begnügen, Leute, die sich noch eine Ehre daraus machen, wenn sie nur gedruckt sind, und die nur außerdem ein kleines Nebengeschäft noch erhoffen. Bedeutendere Literaten geben sich zu diesen kurzen, zehn Zeilen langen Buchkritiken gewiß

selten her. Die Arbeit, die es kostet, die vielen, oft so widerlichen Neuerscheinungen zu lesen, ist ja so riesig groß, daß jeder halbwegs nur Begabte sie Heber wohl eigenen Sachen zuwenden wird. ... Die traurige Folge dieser Verhältnisse ist die völlige Apathie, die im Publikum allmählich gegen alles Geschriebene herrschend geworden ist, eine Apathie, die nur vor dem Theater haltmacht. ... Meisterwerke der Novellistik und des Romans gehen spurlos unter, und erst wenn ein Drama den Autor bekannt gemacht hat, kehrt man sich manchmal seinen längst erschienenen und früher nicht beachteten Erzählerwerken zu.» Strauß macht wieder auf die ebenfalls oft besprochene Tatsache aufmerksam, daß Sudermann mehrere seiner glänzenden Geschichten, darunter «Das schimmernde Bekenntnis», «Frau Sorge», längst geschrieben hatte, als sein Name durch den Theatererfolg der «Ehre» erst bekannt wurde. Aus dieser Tatsache der völligen Indifferenz des Publikums erklärt sich auch der seltsame Zug nach der Bühne, der wie eine fixe Idee sich aller Schriftsteller bemächtigt hat; jener wunderliche Zug, der geborene Novellisten und Erzähler auf die so glatten und schlüpfrigen Pfade der Dramatik weist. So alltäglich diese Wahrheiten heute sind: ich möchte doch auf das Büchlein von Strauß hinweisen, denn hier spricht einer, dessen Entrüstung neu ist, der sich noch nicht bis zur Resignation gegenüber diesen Erscheinungen «durchgerungen» hat und der noch an die Möglichkeit glaubt, Wandel in diesen Dingen zu schaffen, ja, der sogar Vorschläge zur Besserung macht. Er fordert die Rezitatoren auf, sich der neuerscheinenden Werke der Erzählerkunst anzunehmen und «Novellen-Premieren» zu veranstalten. Einem größeren Publikum

sollen die guten Werke der Novellistik vorgeführt werden wie im Theater die Schauspiele. Und durch diese Art der Veröffentlichung soll die Presse, die Kritik veranlaßt werden, neuerschienene Werke der Erzählerkunst mit demselben Ernste zu behandeln wie neue Dramen. Die Rezitationskunst kann, nach Straußens Ansicht, dadurch nur gewinnen. Denn weder das Drama noch die Lyrik ist ihr hold. Jenes fordert eine Verkörperung, die durch das Organ der Sprache allein nicht zu leisten ist, sondern die Gesamtheit der Bühnenmittel verlangt; diese geht aus zu intimen Regungen hervor, um einer vielköpfigen Menge vorgeführt zu werden, die von den verschiedenartigsten Stimmungen während des Vortrags beherrscht wird. Voll Hoffnung spricht Strauß von seinem Vorschlage. «All die Erzählerkräfte, die das Drama bisher in seinen Bann gezogen, sie können sich nun befreit und mit siegsicherer Zuversicht ihrem natürlichen Schaffenskreis wieder zukehren. Denn aller Glanz und aller Ruhm, den die Bühne ihnen bot, er zeigt sich ihnen lockend und golden auch bei der Novelle. Ja, selbst die stolze, bebende Freude über den Jubel einer begeisterten Menge - ein jeder Novellist kann sie bei diesen Premieren finden.» Ob wenigstens ein kleiner Teil dieser Hoffnung sich erfüllen wird? Wünschen möchte man es. Und deshalb sei die Schrift allen denen empfohlen, die mit ebensoviel frischer Entrüstung und ebenso großer Zuversicht erfüllt sind wie Strauß.

THEOSOPHEN

Vor kurzem ist eine Übersetzung des tiefsinnigen indischen Gedichtes «Bhagavad-Gita» von Fran^ Hartmann erschienen. Das Gedicht enthüllt die tiefsten Erlebnisse, die die Auserwählten, die Priesternaturen eines sinnigen Volkes in besonderen Zuständen hatten. Wie im Traume gingen diesen Priesternaturen die Lösungen derjenigen Lebensfragen auf, deren Beantwortung sie ihrer Veranlagung nach bedurften. Nicht durch abstraktes Denken, auf das wir Abendländer nun einmal angewiesen sind, sondern durch mystisches Schauen, durch Intuition suchten diese orientalischen Wahrheitssucher zu ihren Zielen zu gelangen. Es wäre vergebens, wenn wir Abendländer es ihnen nachmachen wollten. Unsere Natur ist von der ihrigen verschieden; und deshalb muß auch der Weg ein anderer sein, auf dem wir zum Gipfel der Erkenntnis und zur Höhe einer freien Lebensführung gelangen. Nicht so denken die Theosophen. Sie sehen mit Achselzucken auf die ganze europäische Wissenschaft; lächeln über deren Verstandes- und Vernunftmäßigkeit und verehren die morgenländische Art des Wahrheitssuchens als die einzige. O, es ist köstlich, die überlegen sein wollende Miene zu beobachten, wenn man mit einem Theosophen in ein Gespräch kommt über den Wert abendländischer Erkenntnisse. «Das ist alles Außenwerk»; die «Vernunftgelehrten gehen nur um eine Sache herum und beschauen ihre Oberfläche»; «wir hingegen leben in der Sache drinnen; wir leben sogar in Gott selbst drinnen; wir erleben die Gottheit in uns». So etwa sind die Redensarten, die man zu hören bekommt. Und man wird kaum davonkommen, ohne daß einem der

Stempel eines «beschränkten Verstandesmenschen» aufgedrückt worden ist, wenn man nur mit wenigen Worten verrät, daß man von der Minderwertigkeit der abendländischen Wissenschaft doch nicht in gleicher Weise denken kann. Aber man tut nicht gut, ein solches Bekenntnis so bald abzulegen. Ich rate vielmehr jedem, der mit einem Theosophen zusammenkommt, sich zunächst vollständig gläubig zu stellen und zu versuchen, etwas von den Offenbarungen zu hören, die ein solcher von morgenländischer Weisheit vollzogener Erleuchteter in «seinem Inneren» erlebt. Man hört nämlich nichts; nichts als Redensarten, die den morgenländischen Schriften entlehnt sind, ohne eine Spur von Inhalt. Die inneren Erlebnisse sind nichts als Heuchelei. Es ist billig, Phrasen aus einer immerhin tiefsinnigen Literatur aufzunehmen und mit ihnen die ganze abendländische Erkenntnisarbeit wertlos zu erklären. Welche Tiefe, welche Innerlichkeit in der angeblich dem oberflächlichen Verstände, dem äußerlichen Begriffe angehö-rigen Wissenschaft des Abendlandes steckt, davon haben die Theosophen keine Ahnung. Aber die Art, wie sie von den höchsten Erkenntnissen sprechen, die sie nicht haben, die mystische Weise, in der sie unverstandene fremde Weisheit vorbringen, wirkt verführend auf nicht wenige Zeitgenossen. Und die Theosophische Gesellschaft ist über ganz Europa verbreitet, hat in allen größeren Städten ihre Anhänger; und die Zahl derer, die sich lieber dem dunklen Gerede vom Erleben der Gottheit im Innern zuwenden als der klaren, lichten, begrifflichen Erkenntnis des Abendlandes ist nicht gering. Dabei kommt den Theosophen zugute, daß sie in der Lage sind, gute Beziehungen zu den Spiritisten und ähnlichen sonderbaren Geistern zu

halten. Sie sagen zwar auch von den Spiritisten, diese behandeln die Erscheinungen der Geisterwelt äußerlich; während sie selbst sie nur innerlich, ganz geistig erleben wollen. Aber sie lehnen es nicht ab, mit den Spiritisten Hand in Hand zu gehen, wenn es gilt, die freie, auf Vernunft und Beobachtung allein sich stützende freie Wissenschaft der Neuzeit zu bekämpfen.

WIEDER EIN GEIST AUS DEM VOLKE

Karl Weiß-Schrattenthal, dem vor drei Jahren die Entdeckung der Johanna Ambrosius geglückt ist, hat eben wieder einen «Dichter und Denker aus dem Volke» an das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Diesmal ist der Entdeckte ein bayrischer Schuhmacher, Franz Wörther. Wer für die Dichtung der Ambrosius ein aufrichtiges Interesse gehabt hat, der sollte ein solches auch für diesen Schuster empfinden. Ich habe mir gelegentlich der Ambrosiushetze meine Meinung über die Ursachen eines derartigen Interesses gebildet. Damals ging der Dichter und Literarhistoriker Karl Busse wie ein Stier auf diejenigen los, welche warme Worte für die ostpreußische Dichterin hatten. Ich glaube, der Grund seines Verhaltens ist darin zu finden, daß Busse nicht den richtigen Gesichtspunkt hat finden können, von dem aus die Lober der Ambrosius geurteilt haben. Busse hat sich auf einen naiven Standpunkt gestellt und hat die Gedichte als solche unmittelbar auf sich wirken lassen. Das haben die Lober nicht getan. Sie


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