Gesammelte Aufsдtze zur Literatur



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Leipzig 1892, C. E. M. Pfeffer

Wenige Erscheinungen der gegenwärtigen philosophischen Literatur können sich an Tiefsinn, scharfgeprägter Begriffsgestaltung und wissenschaftlicher Gründlichkeit mit diesem Buche messen. Wir haben es mit einer sehr bedeutenden Publikation zu tun. Der Verfasser hat dasjenige, was heute so vielen fehlt: den Mut des Gedankens, der sich an die zentralen Weltprobleme heranwagt, und auch das notwendige Vertrauen in unsere menschliche Denkkraft, das zur Lösung der höchsten Aufgaben gehört. Schellwien ist Idealist. Er hält die erfahrungsmäßig gegebenen Erscheinungen für einen durch das «Ich» des Menschen aus dem dunklen Meere des Unbewußten in die Sphäre des Bewußten heraufgehobenen Inhalt. Das «Ich» ist zwar nur Nachschöpfer, aber insofern die in demselben lebende und wirkende Kraft identisch ist mit der Urkraft des Universums, ist es zugleich der Schöpfer des uns gegebenen Weltinhalts. Den letzteren als eine Geburt aus dem Unbewußten, die durch das «Ich» zustande kommt, zu begreifen, ist für Schellwien die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Die Gesetze, welche die Welt konstituieren, sind für Schellwien nur die Gesetze des eigenen «Ich», die uns als Objekt gegenübertreten. Treffend führt der Verfasser aus, wie die mechanische Naturerklärung daraus entspringt, daß der

Mensch im Objekte wohl die Gesetzlichkeit wahrnimmt, aber sich dessen nicht bewußt ist, daß diese Gesetze im letzten Grunde die seines eigenen geistigen Organismus sind. Auf diese Weise kommt er zu der Ansicht, in jeder Erscheinung der Welt ein zweifaches anzuerkennen: die gegebene, objektive Seite, und die subjektive, den Begriff oder die Idee der Sache. Beide zusammen sind ihm gleich wichtig für das Erfassen der vollen Wirklichkeit. Damit nähert er sich der Auffassung, die der Schreiber dieser Zeilen selbst vertritt und wiederholt ausgesprochen hat. Zuletzt in seiner Schrift: «Wahrheit und Wissenschaft» (Weimar, Herrn. Weißbach, 1892) S. 34 mit den Worten: «Das Erkennen beruht also darauf, daß uns der Weltinhalt ursprünglich in einer Form gegeben ist, die ihn nicht ganz enthüllt, sondern die außer dem, was sie unmittelbar darbietet, noch eine zweite wesentliche Seite hat. Diese zweite, ursprünglich nicht gegebene Seite des Weltinhaltes wird durch die Erkenntnis enthüllt. Was uns im Denken abgesondert erscheint, sind also nicht leere Formen, sondern eine Summe von Bestimmungen (Kategorien), die aber für den Weltinhalt Form sind. Erst die durch die Erkenntnis gewonnene Gestalt des Weltinhalts, in der beide aufgezeigte Seiten desselben vereinigt sind, kann Wirklichkeit genannt werden.» Auch Schellwien glaubt nicht an die öde Philisteransicht, daß die Weltgesetzlichkeit nur in Raum und in der Zeit vorhanden sei, und daß der Menschengeist als ein leeres Gefäß in eine Ecke geworfen ist, um da zu stehen, bis ihm irgendein Tropfen erfahrungsmäßiger Erkenntnis zufällig hineinfällt. Er denkt sich den Geist nicht so weltvergessen, sondern inhaltvoll, so daß etwas herauskommt, wenn er die in sei-

nen Tiefen liegenden Schätze an die Oberfläche schafft. Der Verfasser will der Erfahrung ihre Bedeutung durchaus nicht absprechen: aber er weiß, daß wir über das eigentliche Wesen der Welt uns nur dadurch aufklären können, daß wir die Lösung des eigentlichen Rätsels in dem wackeren Entrollen des eigenen «Ich» suchen. Schellwien schreibt diese Entwickelung unseres Geistesinhaltes diesem Willen zu. Hierin können wir ihm nicht zustimmen. Dieser Wille ist überflüssig. Der Geistesinhalt ist die Kraft in sich, die sich aus sich selbst entfaltet. Der Verfasser hat sich in diesem Punkte von dem Schopenhaue-rianismus, von dem er offenbar ausgegangen ist, noch nicht genügend freigemacht. Erst wenn er diese Krücke völlig ablegen wird, kann er das ursprüngliche Licht des absoluten, auf seinen eigenen Inhalt gestützten Geistes klar erkennen. Er wird dann einsehen, daß die Idee nicht die Beihilfe des Willens braucht, um zu sein, sondern daß die Willensphänomene selbst in ihren Tiefen auf die Idee zurückführen. Schellwien zeigt sich im ganzen als ein Philosoph, der den Inhalt seiner Wissenschaft aus dem Wesen der menschlichen Individualität schöpfen will. Aber nicht das Ich als einzelnes, willkürliches ist sein Untergrund, sondern das Konkret-Persönliche, welches vor allen andern Weltwesenheiten den Vorzug hat, daß es das Allgemeine, Abstrakte als Konkretes, Inhaltvolles enthält. Er erhebt sich dadurch über Stirner und Nietzsche, von denen er in den beiden ersten Kapiteln seines Buches eine vortreffliche Charakterisierung gibt.

R. M. SAITSCHICK: «ZUR PSYCHOLOGIE UNSERER ZEIT»

Bern 1892

Bücher, in denen sich eine volle, ganze Persönlichkeit ausspricht, sind nicht oft zu finden. Hier ist eines. Saitschick versteht es meisterhaft, einige charakteristische Eigentümlichkeiten unserer Zeit in scharfem Gepräge darzustellen. Von jeder Seite des Buches schimmert uns eine temperamentvolle, zielbewußte Individualität entgegen. Ein scharfes Auge sieht hier in die Schwächen der Gegenwart. Das nervöse, hastige, sehnsuchtsvolle und zielunbewußte, aber auch das maschinenmäßige, ideenlose Treiben unserer Epoche finde ich in richtigen Strichen gezeichnet. Jeder Satz ist ein solcher Strich. Nur ein paar Beispiele sollen angeführt werden: «Wir sehen nicht, wohin uns die Zeit mit sich führt, ein schauerliches Dunkel verhüllt die Zukunft unserer Kultur, desto mächtiger und ausgeprägter wurde unser Gehör.» «Schon an der Schwelle unseres Jahrhunderts ertönte der Weltschmerz, um später zu einem philosophischen System des Pessimismus erhoben zu werden. Die Zweiheit der Wirklichkeit und des Ideals mußte zu einem Dualismus im Denken und Fühlen führen.» «Das Kapital hat den Menschen zur Maschine gemacht; unsere Wissenschaft, die dem Kapitale dient und von ihm beeinflußt wird, hat den Gelehrten zur wissenschaftlichen Maschine herabgedrückt.» «Unsere Gesellschaft besitzt schon keine ganzen Menschen mehr, die in sich eine geschlossene Einheit erblicken, welche zu der ganzen Natur in einem bestimmten und festen Verhältnisse steht; unsere Gesellschaft hat keine Weltanschauung mehr.» (S. 7 f.)

Und nicht bloß aufgezählt sind die einzelnen Kennzeichen der Gegenwart, sondern die Erscheinungen sind folgerecht in ihrem Zusammenhange dargestellt, die eine durch die andere beleuchtet und begründet, so daß uns der Titel des Buches «Zur Psychologie unserer Zeit» vollauf berechtigt erscheint.

Mich hat es besonders sympathisch berührt, daß der Verfasser einen Grundfehler unserer Zeit richtig zu beurteilen weiß: die Feigheit in Dingen des Denkens. Niemand vermag nämlich die Wahrheit zu erkennen, der nicht den philosophischen Mut hat, in die Tiefen der Probleme zu dringen. Wir müssen unsere geistigen Fühler kühn, ihrer ganzen Länge nach, ausstrecken, wenn sie von den Dingen in der rechten Weise berührt werden sollen. Wer sie bei dem geringsten Widerstände sogleich einzieht, der kann niemals die Wirklichkeit erreichen. Die Stumpfheit unseres Denkens ist unser Grundübel. Statt keck sich in die Welt einzubohren, schrecken wir vor jeder Schwierigkeit zurück und wittern überall Erkenntnisgrenzen.

R. SAITSCHICK: «DIE WELTANSCHAUUNG DOSTOJEWSKIS

UND TOLSTOIS»



Neuwied 1893

Vor kurzem habe ich in dieser Zeitschrift über Saitschicks Schriftchen «Zur Psychologie der Gegenwart» berichtet. Ich bezeichnete den Verfasser als einen Mann, der für die sozialpsychologischen Kräfte, von denen unsere

Gegenwart beherrscht wird, eine feine Beobachtungsgabe hat. In dieser mir eben vorliegenden Schrift lerne ich nun auch einen feinsinnigen Beobachter der Indivi-dualseele kennen. Zwei Persönlichkeiten, die in ihren Anlagen und in ihren Schöpfungen sich als vollkommene Gegensätze darstellen, werden in einer Weise charakterisiert, die uns lehrt, daß es in einer Zeit, die kein orientierendes Werk über Psychologie hervorzubringen vermag, doch echte Psychologen gibt. Ein solcher nur kann über Dostojewski die Worte finden: «Dostojewski ist der echte christliche Barbar. Die hellenische Lebensauffassung mit ihrer harmonischen Oberflächlichkeit ist ihm im Grunde seines Herzens verhaßt, sie ist ihm ein längst überwundener Standpunkt, ein kindliches Gebaren, ein unbewußtes Spiel der Jugend.» «Dostojewski liebt nicht die Oberfläche des menschlichen Geistes, auf der das Gedankenlicht in schillernden Farben schimmert; in die Tiefen läßt er sich herunter, wohin kein Strahl des hellen Sonnenlichtes dringt, dort formt er seine Anschauungen über Natur und Leben, dort wähnt er das Zentrum seiner Gedankenwelt gefunden zu haben, von dort her kommt er dem Menschen zu verkünden, daß er zum Leiden geboren sei.» Daß Dostojewskis Talent nicht da wurzelt, wo die Gesetze der Logik herrschen, sondern in den dämonischen Regionen des Gefühls, daß aus einem dunklen Seelenchaos das Licht seiner Schilderungen hervorbricht, stellt Saitschick ganz treffend dar. «Das Wissen ist das Produkt des Denkens, das heißt der verkörperte Schatten des Absoluten; Dostojewski begnügt sich nicht mit dem Schatten, er will gamg Wahrheit in Fleisch und Blut gehüllt.» Welcher Art denn die Mystik ist und sein

mußte, die sich bei Dostojewski aus dieser seiner Natur bildete, ist in Saitschicks Schrift ebenso tief wie überzeugend entwickelt. Nicht weniger wird uns die politische Phantastik Dostojewskis begreiflich gemacht.

Die wahre Kunst wissenschaftlicher Betrachtungsweise besteht nicht in dem Aufstellen allgemeiner Sätze, aber auch nicht in dem geistlosen Auflesen einzelner Beobachtungstatsachen. Sie liegt in der Fähigkeit, mit Hilfe der Ideen, die eine tiefere Bildung verleiht, sich in das Individuelle zu versenken, und so im einzelsten das Allgemeine, den Geist zu finden. Wie man das Individuum zu erfassen hat, ohne sich in alltäglichen Nichtigkeiten zu verlieren, das kann man aus Saitschicks Ausführungen lernen. Es gelingt ihm das Persönlich-Eigentümliche Tolstois ebenso auszuschöpfen wie das Dostojewskis. Saitschick verläßt nie den Standpunkt der großen Perspektive, aber was er sieht, sind nicht nebellose unklare Gebilde, sondern lebendige Naturwesen. Von Tolstoi sagt er: «Er sieht tief in das Herz unserer kranken Gesellschaft, er kennt jeden ihrer fieberhaften Pulsschläge. Tolstoi ist kein kalter gesellschaftlicher Physiologe wie Balzac und Flaubert, ein tieflebender Mensch spricht aus den Werken Tolstois, der vor der Wahrheit nicht zurückschrickt, der wohl zu geißeln, aber dabei auch aufrichtig zu lieben versteht.» «Die Mystik Tolstois ist nicht so stürmisch wie diejenige Dostojewskis. Eine plastische Mystik ist die Mystik Tolstois. Der Mystizismus Dostojewskis ist ein schwerer Traum von platonischen Ideen; jenseits der Zeit und des Raumes, ein schöner seliger Traum ist die Weltanschauung Tolstois. Dostojewski liebt so das Leiden, daß er auch im Schlafe leidet, Tolstoi hingegen hat genug

am Tage gelitten und will nun ausruhen. Die Welt, die er sich errichtet, ist eine ruhige; heiliger Ernst herrscht in ihr, und tiefe Liebe zur Menschheit ist das mystische Fundament, auf welchem Tolstoi seine Weltanschauung erhebt.» Die ganze Charakteristik Tolstois verläuft in gleich lapidaren Sätzen, die immer die Sache in ihrem Zentrum erfassen, und die unbedingt zu der Behauptung berechtigen, daß wir in Saitschick einen der besten Essayisten sich entwickeln sehen.

EIN NEUES BUCH ÜBER GOETHES «FAUST»*

Wer im gegenwärtigen Zeitpunkte mit einer Betrachtung von Goethes Faust-Dichtung hervortritt, begegnet schwierigen Verhältnissen. Gelehrte und Schriftsteller haben dies Nationaldrama der Deutschen von den denkbar verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachtet und eine unübersehbare Literatur darüber geschaffen. Man braucht nur einen Teil dieser Literatur zu kennen, um zu wissen, daß manche Schwierigkeiten, die sich dem Verständnis des Gedichtes in den Weg stellen sollen, erst von Ästhetikern, Philosophen und Philologen künstlich geschaffen worden sind, daß manches Rätsel, das man in dem Werke zu finden glaubt, nicht wirklich vorhanden, sondern nur erträumt ist. Man muß sich mutig einen großen Teil der Fragen, die an «Faust» geknüpft worden sind, vom Halse schaffen,

* Goethes Faust-Dichtung in ihrer künstlerischen Einheit, dargestellt von Veit Valentin, Berlin. Verlag von Emil Felber 1894.

wenn man ihn in unbefangener Weise als Kunstwerk betrachten und genießen will. Nur wer sich diese Tatsache vor Augen hält, wird das Buch, dem diese Zeilen gewidmet sind, richtig beurteilen und es dann aber auch mit wahrer Freude lesen.

In bezug auf die Betrachtungsarten von Kunstwerken der Poesie hat gegenwärtig die entwicklungsgeschichtliche die Oberhand. Sie verfolgt die allmähliche Entstehung eines Werkes und sucht darzustellen, wie die Teile im Laufe der Zeit durch den Künstler zusammengefügt worden sind. Man braucht kein Feind dieser Betrachtungsweise zu sein, um einzusehen, daß uns durch sie der Genuß und das Verständnis eines Werkes als eines künstlerischen Ganzen leicht verlorengehen kann. Zu diesem Verständnis führt nicht zerpflückende Gelehrsamkeit, sondern die nachschaffende Phantasie des Genießenden und Betrachtenden, die die künstlerische Einheit eines Werkes zu erfassen und das Verhältnis der Teile zu dieser Einheit zu beurteilen und zu empfinden im Stande ist. Für diese von der nachschaffenden Phantasie ausgehende Betrachtungsweise ist unter unseren Zeitgenossen Herman Grimm vorbildlich, der in seinem Buche über Goethe ein Muster von ihr geliefert hat.*

Auf den Boden dieser Betrachtungsart stellt sich Veit Valentin in seinem Buche über «Faust». Er beruft sich dabei auf Goethe selbst, der sein Werk in diesem Sinne aufgefaßt haben will. Im «Vorspiel auf dem Theater» läßt Goethe die verschiedenen Stimmungen, die einem Kunstwerk entgegentreten, zum Ausdruck kommen. Der Thea-

* Von diesem im Jahre 1876 erschienenen Buche kommt in den nächsten Tagen bereits die 5. Auflage zur Ausgabe.

terdirektor, der praktische Ziele verfolgt und die schaulustige Menge kennt, verlangt von dem Dichter effektvolle Einzelheiten und will dann gerne auf die Einheit des Ganzen verzichten. «Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!... Was hilft's, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht? Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken.» Der Dichter weist das mit Entrüstung zurück: «Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt und in sein Herz die Welt zurückeschlingt?» «Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, wo es in herrlichen Akkorden schlägt?... Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart!»

Valentin behauptet mit vollem Recht: In der Zeit, in der Goethe das «Vorspiel auf dem Theater» schrieb (1797), stellte er sich die Aufgabe, «die genial hingeworfenen Scenen des , die noch keinen über die tiefergreifende unmittelbar packende poetische Wirkung der Einzelschicksale hinausgehenden Plan erkennen lassen, zu Gliedern eines solchen Planes» zu machen. «Die schwankenden Gestalten, die aus dem Dunst und Nebel früher Jugendtage wieder aufsteigen, gewinnen jetzt Festigkeit und Klarheit als Glieder eines weitausgreifenden Planes, in dem sie zu erhöhter Bedeutung gelangen müssen.» Valentins Buch soll nun den ausführlichen Beweis liefern, daß es dem Dichter auch gelungen ist, dieses Ziel zu erreichen. Der Verfasser verfällt dabei aber nicht in den Fehler, den viele philosophische Fausterklärer machen. Sie haben die Sache so dargestellt, als wenn die Dichtung bloß die Verkörperung eines abstrakten Begriffes, einer Vernunftidee sei. Solche Erklärer begreifen nicht, daß sie dadurch statt auf die lebensvollen Bilder und Charaktere, auf die es in der Kunst ankommt, den Blick auf tote Ideen-

gerippe lenken, die das Kunstwerk zwar stützen, aber seinen Inhalt nimmer erschöpfen. Valentins Erklärungsart zeigt, warum an einer bestimmten Stelle des «Faust» gerade eine bestimmte Begebenheit, eine bestimmte Äußerung eines Charakters steht. Er geht dabei so vor, wie uns der Ästhetiker die strenge Einheit und innere Harmonie einer Raphaelschen Komposition auseinandersetzt. Und man muß sagen, daß unter diesem Gesichtspunkt die innere Gesetzmäßigkeit und durchgängige Symmetrie der Dichtung in einem ganz neuen Lichte erscheint.

In geistvoller Weise zeigt Valentin, warum an die eigentliche dramatisch-menschliche Entwickelung sich im Anfange und am Ende eine vorbereitende und abschließende Handlung im Himmel gliedert; dann legt der Verfasser dar, wie innerhalb des sich auf der Erde abspielenden Dramas der Dichter in folgerichtiger Entwickelung erst des Mephistopheles' Einfluß auf Faust stets wachsen, und dann mehr und mehr Fausts Selbständigkeit hervortreten läßt, bis zuletzt Mephistopheles nur noch als Diener für Fausts ureigene Pläne in Betracht kommt. Auf Einzelnes kann hier nicht eingegangen werden, wohl aber möchte ich darauf hinweisen, daß manche Partien des ersten Teiles, die bisher wie willkürliche Einschiebungen erschienen, von Valentins Gesichtspunkt aus wie ein notwendiges Glied in der Entwickelung des Ganzen dastehen. Von grundlegender Bedeutung aber ist die uns hier entgegentretende Auffassung der «Klassischen Walpurgisnacht» und des Erscheinens der Helena sowie des Homunkulus. Bis zu den Ereignissen am Kaiserhofe hat Faust nur Genüsse erlebt, die die Gegenwart zu bieten vermag. Seine höhere Natur zeigt sich dadurch, daß er in diesem Genuß-

leben nicht untergeht. Aber ist diese Gegenwart für Faust nicht rein zufällig? Bleibt nicht die Frage offen: Wie wäre es, wenn Faust in einer anderen Zeit gelebt hätte? Hätte er da nicht Verhältnisse vorfinden können, die seiner Sehnsucht nach Genuß entsprochen hätten? Es muß gezeigt werden, daß das endliche Leben Fausts Streben in keinem Falle befriedigen kann, weil er in die Geheimnisse des Unendlichen dringen will. Deshalb muß er auch in die Verhältnisse vergangener Zeiten eingeführt werden. Als Typus der Vergangenheit galt Goethe das alte Griechentum. Die Schatten der griechischen Welt müssen wieder erweckt werden, um zu Faust in ein lebendiges Verhältnis treten zu können. Diesem Zweck dient die klassische Walpurgisnacht. Die Wirklichkeit schaffenden Urgewalten der Natur müssen entfesselt werden, um die entschwundenen und nur in der Idee fortlebenden Gestalten der Vorwelt zu neuer Gegenwart zu beleben. Deshalb erscheinen die materiellen Schöpfungskräfte in der klassischen Walpurgisnacht. Um das Urbild weiblicher Schönheit, die Helena selbst, wieder zu realem Leben zu erwecken, bedarf es aber nicht nur physischer und geologischer Kräfte, sondern eines organischen Lebenskeimes, der sich in das rein materielle Geschehen mischen muß. Das ist der Homunkulus, der am Muschelthron der Galatea zerschellt, um die materiellen Elemente zu beleben, damit sie reif werden, der Idee der Helena Körperhaftigkeit zu verleihen.

Es mag sein, daß Valentin mit mancher seiner Ausführungen noch nicht das Richtige getroffen hat. Seine Betrachtungsweise aber erscheint mir als eine solche, die geeignet ist, die Fehler, die sie im ersten Anlauf mit sich bringt, im Laufe der Zeit selbst zu verbessern.

MARIE EUGENIE DELLE GRAZIE*

Viel wird heute von «neuer Kunst», von dem «Geist der Moderne» gesprochen. Man hat zuweilen den Eindruck, als ob bereits die ganze jüngere Generation erfüllt wäre von diesem Geiste. Da kommt aber bisweilen etwas, das an der Wahrheit dieses Eindrucks stark zweifeln läßt. Vor einem Jahr ist ein Epos «Robespierre» von M. E. delle Grazie erschienen. Mehr als in irgendeinem andern Dichterwerke der Gegenwart hätte man in diesem Epos die Morgenröte einer neuen Zeit erblicken müssen. Aber die gestrengen Kritiker der «Moderne» scheinen achtlos vorübergehen zu wollen. Sie machen es nicht viel besser, als die von ihnen vielgeschmähten Professoren der Ästhetik und Literaturgeschichte, die ja auch selten eine Empfindung für das wahrhaft Große ihrer eigenen Zeit haben. Einer der gepriesensten Literaturrichter der Gegenwart, Hermann Bahr, hat es nicht unter seiner Würde gefunden, eine kurze Besprechung des «Robespierre» mit den Worten zu beginnen: «Sonst unbescholtene und nette Leute, welche nur gar nichts vom Künstler haben, drängt es oft plötzlich, die Gebärden der Dichter zu äffen.» Wer so spricht, kennt zwar die Allüren der «Moderne», nicht aber deren tiefere Kräfte. M. E. delle Grazies Dichtung ist das Spiegelbild der modernen Weltanschauung aus einer tiefen, stark empfindenden, klar sehenden und mit einer großen künstlerischen Gestaltungskraft ausgestatteten Seele. Wie sich einer tief-gemütvollen und stolzen Natur das Bild

* Diese kurze Charakteristik bringen wir im Hinblick auf den nächsten Rezitationsabend des Herrn Hofschauspielers Neuffer, der u. a. auch Gedichte von M. E. delle Grazie zum Vortrag bringen wird.

der französischen Revolution darstellt, so hat es delle Grazie wiedergegeben. Wie Agamemnon, Achill, Odysseus und die andern Helden des Trojanischen Krieges vor unserer Phantasie in lebensvollen Gestalten auftauchen, wenn wir Homers Ilias auf uns wirken lassen, so Danton, Marat, Robespierre, wenn wir delle Grazies Epos lesen. Nur wer blind ist gegenüber dem Geiste unserer Zeit, oder nur dessen Pose versteht, kann die Bedeutung dieser Dichtung verkennen. Nichts Kleinliches ist in den schmerzlichen Tönen, die hier angeschlagen werden. Wenn delle Grazie Leid und Schmerz schildert, so tut sie es nicht, weil sie auf die Misere des alltäglichen Lebens hindeuten will, sondern weil sie Disharmonien in der großen Menschheitsentwicklung erblickt. Robespierre ist der Held, in dessen Seele alles das lebt, was die Menschheit immer Idealismus genannt hat. Er endet tragisch, weil der große Traum von den Idealen der Menschheit, den er träumt, notwendig sich mit dem gemeinen Streben niedriger Naturen verbünden muß. Selten hat ein Dichter so tief in eine Menschenseele geblickt, wie delle Grazie in die Robespierres. Zehn Jahre, die besten ihres Lebens, hat die Dichterin ihrem Werke gewidmet. Vertiefung in die Geschichte der großen französischen Freiheitsbewegung ging während dieser Zeit Hand in Hand bei ihr mit dem Studium der modernen Wissenschaft. Sie hat sich dabei zu der Höhe menschlichen Daseins erhoben, wo man die tiefe Ironie durchschaut, die in jedem Menschenleben liegt; wo man selbst über die Nichtigkeit des Daseins lächeln kann, weil man aufgehört hat, Verlangen nach demselben zu haben. Den Weg, der sie auf diese Höhe geführt hat, können wir in den Dichtungen verfolgen, die sie vor dem «Robes-

pierre» veröffentlicht hat. Vor fünfzehn Jahren erschien von ihr das erste Bändchen « Gedichte», rasch folgten nach das Epos «Hermann», das Drama «Saul», die Novelle «Die Zigeunerin». Der hinreißende rhetorische Schwung, die Gestaltungskraft und die Gedankentiefe, die im «Robespierre» zu ihrem vorläufigen Höhepunkt gekommen sind, beleben schon die ersten Erzeugnisse. Gedichte, aus denen wir die Natur selbst tönen zu hören glauben, sind in dem erwähnten ersten Bändchen enthalten. Während die Dichterin am «Robespierre» arbeitete, sendete sie dann noch eine Sammlung von Gedichten, «Italische Vignetten», und zwei Erzählungen, «Der Rebell» und «Bozi», in die Welt. Die «Italischen Vignetten» sind aus der Stimmung heraus erwachsen, die sie überkam, als sie bei einer Romreise sah, wie menschliche Größe eng zusammen sein kann mit menschlicher Nichtigkeit, Cäsatenmacht mit ethischer Fäulnis, Herrensinn mit Sklavenskm. Das hat sie mit ihrem hellsehenden Blick in den steinernen Resten einer großen Zeit erschaut und in ihren «Vignetten» ausgesprochen. Im «Rebell» schildert sie einen Zigeuner aus der ungarischen Theißgegend, der sich trotz seines Zigeunerlebens emporgerungen hat bis zu den Höhen der Menschheit, der das Leben in seiner Tiefe durchschaut, so daß et als Weiser unter Toren lebt und dort Wahrheit erkennt, wo andere nur heuchlerische Masken anbeten. Diesen Charakter so auszugestalten, daß er in überzeugender Wahrheit vor uns steht, wie es delle Grazie getan hat, dazu gehört ein tiefer Blick in die Welt und eine vollendete künstlerische Gestaltungskraft. Und daß sie außer den Tönen erhabenen Ernstes auch die des wahren Humors anzuschlagen versteht, hat sie in der Erzählung «Bozi»

bewiesen. «Bozi» ist ein Büffel, aber kein gewöhnlicher HerdenbüfFel, sondern ein Herrenbüffel, ein ÜberbüfFel. Er fügt sich nicht den Satzungen, die in der «ewigen Weltordnung» für Büffel gegeben sind, und äfft dadurch die ganze hochweise Honoratiorenschaft seines Wohnorts.


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