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Abb. 14.7 Das

Zusammenspiel von Evolution,

Kultur und Ontogenese bei der

Entstehung von Mythen



14.3 Kreativität als Wesenszug der Evolution und des gesamten Universums

Kann man den Kreativitätsbegriff auch auf die Evolution und darüber hinaus auf das Universum beziehen? Handelt es sich dabei nicht bloß um Metaphern? Es gibt viele Autoren, die den Begriff der Kreativität über Gesellschaft und Individuum hinaus anwenden.



Kreativität der lebenden Natur

Es liegt nahe, Evolution als kreativ zu bezeichnen. Die enorme Artenvielfalt, welche die Erde hervorgebracht und ihre „Explosion“, wie im Kambrium oder bei den Säugetieren in den letzten 60 Millionen Jahren, lässt sich kaum besser umschreiben als mit der Kreativität der Evolution. Darüber hinaus aber gibt es so viele raffinierte Anpassungsleistungen an das jeweilige Ökosystem, dass man dahinter einen spielenden Akteur vermuten könnte, was uns aber wieder in archaische Überzeugungsmuster zurückwerfen würde.

Tiere und Pflanzen erzeugen Gifte, die wir nicht synthetisieren können, Materialien, die stärker sind als Stahl (Spinnfäden), und Elektrizität, die ökonomischer gewonnen wird als die unsrige. Pflanzen bringen das Wunder der Photosynthese zustande. Besonders eindrucksvoll sind die wechselseitigen Anpassungen von Lebewesen im gemeinsamen Ökosystem. In den tropischen Feuchtwäldern Asiens gibt es eine Ameisenart, die sich, wie andere Ameisenarten auch, Blattläuse hält. Aber diese Art folgt, wie Wanderhirten der Herde, den Wanderungen der Blattläuse. Dabei haben sich beide Arten während der Evo-
14.3 Kreativität als Wesenszug der Evolution und des gesamten Universums

lution durch diese Symbiose verändert und ihre Bedürfnisse besser aneinander angepasst (SdW, Juni 2010). Aber schon die niedere Form der Schleimpilze kultiviert Bakterien. In Notzeiten lassen diese Pilze die Bakterien sich vermehren, sodass die nachfolgende Generation sich ernähren und fortpflanzen kann (SdW, März 2011). Eine Fledermausart auf Borneo schläft auf der fleischfressenden Kannenpflanze. Diese ernährt sich von dem Kot der Fledermäuse und schützt diese im Gegenzug vor blutsaugenden Parasiten (SdW, April 2011). Manche Midas-Buntbarsche können mit ihren Kiefern Schneckengehäuse knacken, die sehr hart sind. So kommt es zum Wettlauf zwischen den immer härter werdenden Schneckengehäusen und der Verstärkung der Kauwerkzeuge der Fische (SdW, Mai 2010). Und last not least ist uns allen seit unserer Kindheit die Symbiose von Einsiedlerkrebs und Seeanemone bekannt. Der Einfallsreichtum der Natur ist unerschöpflich und steht gewiss in seiner Originalität und Zweckmäßigkeit der menschlichen Kreativität in nichts nach. Im Gegenteil, die meisten Errungenschaften in der Evolution können wir noch nicht nachbauen.

Der Hauptunterschied zwischen menschlicher und biologischer Kreativität besteht in der Zeitdimension. Was Menschen innerhalb eines kurzen Lebens erfinden und kreieren, dauert in der Evolution meist Jahrmillionen. Hier können wir also die Abb. 13.4 des letzten Kapitels bemühen, in der bereits auf die Zeitdimension hingewiesen wurde.

Versucht man, die Kreativität des Lebens auf die wesentlichen Momente zu reduzieren, so sind es die Entstehung von Leben aus toter Materie, die Artenvielfalt, die aus den einfachen Lebensformen erwachsen ist, und die Überlebenskraft des Lebens trotz der gewaltigen Erdkatastrophen. Die Entstehung des Lebens ist natürlich der wichtigste kreative Akt der Natur. Sie kommt also einem Schöpfungsakt gleich. Kreativität kommt ja auch von creare = schaffen, erschaffen. Immer noch ist die Frage offen, ob Leben unter günstigen Bedingungen zwangsläufig entsteht oder ob es ein außerordentlich seltenes Ereignis im Universum darstellt.

Wir haben diese Frage bereits in Kap. 1 diskutiert. Fest steht jedenfalls die Neuartigkeit dieses Phänomens und die mit ihm verbundene Entfaltungsmöglichkeiten. Damit wären wir beim zweiten Aspekt, nämlich der Artenvielfalt. Länger als eine Milliarde Jahre beherrschten die Einzeller die Welt. Warum und wie es zu mehrzelligen Lebewesen kam und nach jeder Erdkatastrophe eine neue Artenvielfalt entstand, bleibt rätselhaft und ist jedenfalls als kreativer Prozess zu werten (eine Erklärungsmöglichkeit siehe im Gespräch der Himmlischen, Kap. 1). Schließlich zeigt sich die Kreativität des Lebens darin, dass trotz ungünstigster Bedingungen das Leben erhalten blieb und sich immer wieder durchsetzte. Diese Leistung ist ja nicht darauf zurück zu führen, dass mehrfach ein „Urzeugung“ des Lebens stattgefunden hätte, sondern dass vorhandene Lebewesen die jeweiligen Katastrophenüberlebthaben. Siemusstenbesondere–undwohlauchneue–Anpassungsleistungen vollbringen.

Versucht man die kreativen Prozesse der Natur rein formal zu fassen, so ergibt sich wiederum eine Dreiteilung: Wiederholung, Variation und Strukturierung. Biologische Prozesse widerholen sich permanent, sei es in Form des Stoffwechsels, der Reproduktion oder als Wiederholung von Reaktionen von Lebewesen in ihrer Umwelt. Das Kennzeichen von Lebewesen ist nun aber, dass ihre Reaktionen, wenn man beispielsweise motorische Verhaltensweisen von Tieren ins Auge fasst, nie vollständig gleich sind, wie bei einer Maschine, sondern Variationen aufweisen. Allein durch solche Abweichungen entstehen neue Kombinationen und neue Effekte. Die Variation auf allen Ebenen des Lebens ist also eine zweite Komponente der Kreativität. Die dritte Komponente der Kreativität, die Strukturierung, ist die wichtigste. Sie beinhaltet die für uns noch immer rätselhafte Fähigkeit zur Herstellung von Ordnung. Die auf allen Komplexitätsstufen des Lebens beobachtbare Leistung der Strukturierung können wir nur als Faktum hinnehmen und Begriffe wählen, die das Besondere kennzeichnen, ohne es zu erklären. Maturana und Varela (1987) sowie Varela et al. (1974) wählen die Bezeichnung Autopoiesis zur Beschreibung der Selbstorganisation und Weiterentwicklung individueller Lebewesen. Das Besondere an Lebewesen ist, „dass das Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation“ (Maturana und Varela, 1987, S. 56). Die Beziehungen zwischen den Komponenten (Zellen, Organen, Körperteilen) bestimmen die Eigenschaften des Gesamtsystems. Lebende Systeme organisieren sich selbst und fortlaufend um, damit sie sich permanent an neue Umweltbedingungen anpassen können. Strukturierung und Selbstorganisation gibt es aber nicht nur bei lebenden Systemen, sondern bereits bei physikalischen Phänomenen. Dies wird uns im folgenden Abschnitt beschäftigen.



Das ganze Universum ist kreativ

Auch tote Materie organisiert sich unter bestimmten Bedingungen. Sie wird zu einem System, dasetwasanderesistalsseineTeile. HakenundHaken-Krell(1992)beschreibendiesen Sachverhalt am Beispiel von Flüssigkeiten, die einem Temperaturunterschied ausgesetzt werden. Die Moleküle ordnen sich zu einer Walze, die sich zu drehen beginnt, sie zeigen ein kooperatives Verhalten. Die Organisation von Einzelelementen zu Systemen oder Strukturen ist ein sehr generelles Phänomen und findet sich auf allen Komplexitätsebenen in der Physik und Chemie.



Emergenz. WirdeinSystemdurchkooperativesVerhaltenundKontrollparametergebildet, so bezeichnet dies Haken (1981) als Emergenz. Generell versteht man unter Emergenz die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die neuen Eigenschaften des Systems nicht auf Eigenschaften der Elemente zurückführen, die diese isoliert aufweisen. Emergente Phänomene werden in der Physik, Chemie, Biologie, Psychologie und Soziologie beschrieben. Man spricht auch von Übersummativität, weil das neu Entstandene mehr ist als die Summe seiner Teile. Auch die Aggregatszustände sind emergente Ordnungsphänomene, wie Laughlin (2009) zeigt. Bei einer bestimmten Temperatur wird ein Stoff fest, seine Moleküle ordnen sich zu Kristallgittern. Kristallgitter sind nach Meinung Laughlins der Prototyp für Emergenz. Die atomare Ordnung von Kristallen ist absolut erstaunlich. Laughlin wählt als Analogie eine Schule mit zehn Milliarden Kindern. Die Lehrer versuchen, die Kinder

14.3 Kreativität als Wesenszug der Evolution und des gesamten Universums

zu ordnen. Im Kleinen, d.h. bei hundert Kindern, gelingt das nicht, sie fügen sich nicht alle der Ordnung. Jedoch bei Millionen und Milliarden Kindern entsteht eine perfekte Ordnung. Letztlich ist diese Herstellung von Ordnung unerklärlich, sie passiert einfach. Laughlin geht sogar so weit, dass er Newtons Gesetze als emergent bezeichnet, „sie sind keineswegs fundamental, sondern eine Folge des Zusammenschlusses von Quantenmaterie zu makroskopischen Flüssigkeiten und Feststoffen“ (S. 58). Wir stellen uns fälschlicherweise vor, ein fester Stoff bestehe aus so etwas wie Atomkugeln. Aber es gibt keine Kugeln, denn Atome sind „quantenmechanische Wesen, denen die wichtigste aller Eigenschaften eines Objekts fehlt – eine feststellbare Position“ (S. 75). Erst durch die Zusammenballung von Myriaden von Atomen entstehen Newtonsche Körper. Dennoch bleiben auch im Makrobereich die Schwingungen der Atome erhalten. Die besten Beispiele für Emergenz findet man jedoch in der Chemie und Biologie. Der Zusammenschluss von Molekülen zu größeren Verbindungen, die Hervorbringung organischer Verbindungen, aus denen schließlich Leben entsteht, und die Organisation von Zellen zu Organen zeigen die Übersummativität, hier als Faktum, dass aus der Vereinigung vieler einfacher Einheiten komplexere Entitäten, also etwas Neues, entstehen. Aus Quantität wird Qualität, wie es Marx und Engels bereits formuliert haben.

Kosmologische Kreativität. Wenn wir unsere kleine Welt der Erde verlassen und ins Universum schauen, zeigt sich dort Kreativität im ursprünglichen Sinn der Erschaffung von Welt aus dem Nichts. Aus einem Punkt entsteht Materie, die sich ausbreitet und zu Sternen und Galaxien zusammenfügt. Wie in der Quantenmechanik virtuelle Teilchen aus dem Nichts entstehen und wieder verschwinden, so könnte sich nach Annahmen der Kosmologen auch im Universum ständig aus dem Nichts Energie oder Teilchen bilden. Insofern fände eine permanente Schöpfung statt.

Jantsch (1992), der Mitbegründer des Club of Rome, hat den Zusammenhang kreativer und systembildender Prozesse bereits herausgearbeitet. Er sieht das Prinzip der Selbstorganisation auf allen Ebenen wirken und schreibt, der Vorteil dieser Betrachtungsweise liegt

in der Erkenntnis einer systemhaften Verbundenheit aller natürlichen Dynamik über Raum und Zeit, im logischen Primat von Prozessen und Strukturen, in der Rolle von Fluktuationen, die das Gesetz der deterministischen Masse aufheben und dem Einzelnen und seinem schöpferischen Einfall eine Chance geben, in der Offenheit und Kreativität einer Evolution schließlich, die weder in ihren entstehenden und vergehenden Strukturen noch im Endeffekt vorherbestimmt ist. (op. cit., S. 54).

Es ist nicht nötig, von einem intelligenten Design zu reden und eine zielgerichtete transzendierende Kraft, die planvoll und intentional agiert, anzunehmen. Die kreative Kraft steckt in der Materie. Das Zusammentreffen bestimmter Bedingungen, das als Zufall bezeichnet wird, veranlasst sie zu emergenten selbstorganisierenden Prozessen. Die Bezeichnung Zufall ist irreführend, sofern man damit das Würfeln oder das Roulette verbindet, bei dem jeder Zustand gleichwahrscheinlich ist. Die Entwicklung des Universums und die des Lebens sind nicht als eine Aufeinanderfolge von Würfen oder Roulette-Drehungen zu





Abb. 14.8 Ein EKO-Blick auf die Kreativität

verstehen. Sowohl vor der Entwicklung des Lebens als erst recht danach sind günstige Bedingungen für Emergenz und Selbstorganisation oft kombiniert aufgetreten. Das kreative Moment besteht in der Evolution darin, was Organismen an Möglichkeiten entwickeln, um in Symbiose mit der Umwelt leben zu können. Hier gibt es in den evolutionstheoretischen Ansätzen, die heute existieren, noch große Lücken bezüglich der Intelligenz und Kreativität, die in den lebenden Zellen steckt. Die Evolutionsbiologie kann bis heute nicht die Prozesse evolutionärer Veränderungen präzise beschreiben.

DieErscheinungenundEntwicklungendesUniversumssindsoerstaunlichundletztlich unerklärlich, dass wir einen Akteur als Erklärung eingeführt haben, einen „Handwerkergott“, der all das geschaffen hat. Aber damit verlagern wir nur das Problem der Kreativität, nämlich in ein Wesen, das uns ähnlich ist und ähnlich wie wir kreativ agiert. Nein, selbst wenn wir religiös sind, müssen wir die Kreativität in die Materie und Energie und in die Information, die in ihnen steckt, verlagern. Das Weltall selbst ist kreativ, es hat sich erschaffen, es hat Leben hervorgebracht und schließlich denkende Wesen, die das ganze Werk erkennen und bewundern.
14.4 Resümee: Ein EKO-Modell der Kreativität

14.4 Resümee: Ein EKO-Modell der Kreativität

Wechselwirkung mit der Umwelt

Zusammenfassend zeigt Abb. 14.8, wie sich Evolution, Kultur und Ontogenese hinsichtlich dreier Kreativitätsmerkmale verbinden. Als erstes Kriterium wählen wir die Wechselwirkung mit der Umwelt. Kreativität entfaltet sich auf allen Ebenen in der Auseinandersetzung mit der Umgebung. Bei der Evolution haben wir Beispiele optimaler Anpassung von Lebewesen an ihre Umwelt kennengelernt. Besonders eindrucksvoll zeigt sich die Wechselwirkung, wenn zwei Tier- oder Pflanzenarten aufeinander abgestimmt sind. Midas-Buntbarsche können mit ihren Kiefern Schneckengehäuse knacken, die sehr hart sind. Die Schnecken entwickelten im Laufe der Zeit deshalb immer härtere Schalen, worauf die Buntbarsche ihre Kiefern verstärkten. Symbiosen zwischen verschiedenen Lebewesen, wie der oben genannten Fledermaus mit einer fleischfressenden Pflanze oder der bekannten Kooperation von Seeanemone und Einsiedlerkrebs sind weitere Beispiele für die Rolle der Wechselwirkung mit der Umwelt bei der Kreativität. Natürlich ist alles Leben nur in seiner Wechselwirkung mit der Umgebung verstehbar, und kreative Ergebnisse entspringen dieser Wechselwirkung.

Für die Kultur beschränken wir uns auf ihre Rolle bei der Anregung oder Hemmung von Kreativität. In vielen traditionellen Kulturen ist Kreativität verpönt, Veränderungen sind unerwünscht. Gewöhnlich gibt es aber auch dort Inseln für kreative Aktivitäten, wie Musik, Tanz und Malerei oder Problemlösen bei Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion. Kultur bildet die typisch menschliche Umwelt, in der der Mensch seine Kreativität entfalten kann. Die Geschwindigkeit, mit der sich eine Kultur verändert, zeigt zugleich an, wie offen sie gegenüber der Kreativität ihrer Mitglieder ist. Kleinere Staaten kompensieren ihre Schwäche nicht selten durch Kreativität. So ist Österreich in Kunst, Musik, Wissenschaft und Philosophie überrepräsentiert. Ähnliches gilt für Minoritäten in westlichen Gesellschaften. So stellten die Juden überproportional viele Bankiers, Musiker und

Wissenschaftler.

Bei der Ontogenese haben wir die Wechselwirkung mit der Umwelt als das Zusammenwirken von Feld, Domäne und kreativer Persönlichkeit dargestellt. Am trefflichsten zeigt sich die Wechselwirkung der Kreativität mit der Umwelt im Ausspruch: Ich habe eben Glück gehabt, zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Leuten am richtigen Ort gewesen zu sein.

Neuheit

Das zweite Kriterium, die Neuheit, ist natürlich das zentrale Merkmal von Kreativität. Es springt auf allen drei Ebenen ins Auge. In der Evolution zeigt sie sich unter anderem in der Herausbildung neuer Arten und der Entstehung einer oft überwältigenden Artenvielfalt. In der Kulturgenese springt das Neue besonders in Form radikaler kultureller Veränderung in Folge von Erfindungen ins Auge. So haben die Erfindung des Kraftfahrzeugs, des Flugzeugs und des Computers die Welt dramatisch verändert. In der Ontogenese, mit der wir dieses Kapitel begannen, wird das Neue zunächst zum alleinigen Bestimmungsmerkmal von Kreativität. Die Einmaligkeit einer jeden Persönlichkeitsausformung und die Herausbildung ihrer Identität wären übergeordnete Beispiele für das Wirken von Kreativität auf individueller Ebene.



Unvorhersagbarkeit

Interessant wird das dritte Merkmal, die Unvorhersagbarkeit, für unsere Diskussion, denn den Naturwissenschaften und der Psychologie, aber auch der Soziologie, geht es um Vorhersagen. Je präziser ein Gesetz, desto präziser und unausweichlicher die Vorhersage. Dennoch lässt sich die Entwicklung von Evolution, Kultur und Individuum nicht vorhersagen. Bei der Evolution ist dies unmittelbar evident. Folgt man der Grundidee der Evolutionstheorie, soistdieEntstehungneuerArten, vorallemihrerkonkretenBeschaffenheit nicht prognostizierbar. Und weiter: wenn man die Evolution von einem bestimmten Zeitpunkt der Erdgeschichte nochmals beginnen lassen würde, käme etwas anderes heraus. Höchstwahrscheinlich würde es uns dann nicht geben.

Auch auf der Ebene der Kulturgenese scheitern alle Versuche, die Zukunft einer Kultur vorherzusagen. Ob unsere Kultur untergeht, wie Spengler mit dem „Untergang des Abendlandes“ orakelt oder ob sie sich zu etwas Neuem wandelt, wissen wir nicht. Ein einziges Ereignis, eine einzige Erfindung mag ihren Verlauf ändern. Wir haben das Aufkommen der griechischen Mathematik und Philosophie als Glücksfall gekennzeichnet, der nur eintrat, weil bestimmte Bedingungen zusammenkamen. Kulturen und Gesellschaften sind komplexe Gebilde, und aus dem Zusammenspiel von vielen Bedingungen treten Ereignisse ein, die niemand vorhergesagt hat. Ein aktuelles Beispiel sind die Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen. Die Ausbreitung der Unruhen auf die Arabische Halbinsel (Syrien) kam dann weniger unerwartet. Neue Entwicklungen dieser Art sind nicht nur durch genau ausmachbare Faktoren bedingt, sondern hängen mit spontanen kreativen Prozessen zusammen, sodass kulturelle Entwicklungen nicht einfach als zwangsläufiger Prozess verstanden werden können. Hinterher sind Historiker und Politologen natürlich leicht imstande, zu erklären, warum es so kommen musste. Aber dies ist eher ihrer Kreativität als einer stringenten Kausalerklärung zu verdanken.

Auf der Ebene individueller Entwicklung folgt die Offenheit des Geschehens schon daraus, dass jede Persönlichkeit einmalig ist. Obwohl die gesamte psychologische Forschung darauf ausgerichtet ist, die Verhaltensvorhersagen und die Richtung menschlicher Entwicklung möglichst genau zu bestimmen, wird es ihr gottlob nie gelingen, vollständige Vorhersagen zu treffen. Das wäre auch eine entsetzliche Perspektive! Wir werden im letzten Kapitel über menschliche Freiheit näher begründen, warum das so ist. Hier mag der Hinweis genügen, dass eine Reihe von Biografien schlaglichtartig belegen, wie Entscheidungen aus dem Augenblick heraus den zukünftigen Lebenslauf bestimmten.

14.4 Resümee: Ein EKO-Modell der Kreativität

Wir wissen letztlich nicht, was Emergenz, Autopoiesis und Kreativität sind. Besonders angesichts der Kreativität in der Natur und im Universum sollten wir mit Erklärungsversuchen zurückhaltend sein. Aber es fällt schwer, mit Konzepten arbeiten zu müssen, die zumindest bis heute nicht weiter hinterfragt werden können.



Gespräche der Himmlischen

Aphrodite: Das ist ja nun ein unförmiger Tempel geworden, etwas Neues zwar, aber nicht etwas Schönes. Schönheit und Neuheit sollten zusammenfinden.

Apoll: Zugegeben, aber es kommt eben sehr auf die Definition des Schönen an. Ansonsten ein sehr umspannendes Kapitel: Welt, Mensch und Gott sind kreativ vereint. Kreativität als Kraft, die im gesamten Universum waltet!

Athene: Eine etwas dubiose Kraft, sie kommt mir reichlich esoterisch vor, so wie das Göttliche, das im Großen wie im Kleinen steckt. Was ist damit gewonnen?

Apoll: Was ist mit Naturgesetzen gewonnen oder mit der Kenntnis der Naturkonstanten? Sind sie letztlich nicht genauso geheimnisvoll? Ich finde wichtig, dass Kreativität nicht aus der Natur und dem Weltall hinaus verbannt und in eine Wesenheit verlagert wird, die alles erschaffen hat und ständig kreativ weiterwaltet, sondern als in der Welt, in der Materie steckend interpretiert wird.

Dionysos: Dem kann ich nur beipflichten. Die Kreativität in der Natur, wie sie in der Physik, Chemie und Biologie der heutigen Forschung beschrieben wird, bildet ein Grundmerkmal der Materie. Ob wir es Emergenz, Übersummativität oder Autopoiesis nennen, ist sekundär. Die mechanistische, quasi maschinenhafte Erklärung der Geschehnisse reicht jedenfalls nicht aus. Deshalb bin ich gespannt, ob es weitere Überlegungen zu diesem Thema im nächsten und letzten Kapitel geben wird. Aber warum Emergenz waltet, weiß noch niemand, „es ist halt so“, könnte man mit Bischof sagen.

Athene: Und was ist mit uns? Nicht mehr wir sind die Kreativen in den Augen der Menschen, sondern sie selbst, denn sie haben uns nach ihrem Bild und Gleichnis, wie es in der Bibel steht, geschaffen – und sie wissen es auch.

Dionysos: Die vielen Tiergottheiten, die in menschlichen Kulturen auftauchen, passen da nicht ganz hinein.

Athene: Oh doch, denn Menschen fühlen sich den Tieren nahe, sie sind einerseits so wie dieMenschen, abersiehabennochbesondereEigenschaftenderKraft, derSchnelligkeit, der List, der Grausamkeit, und sie haben besondere Waffen. Dass man ihnen, die den Menschen zugleich vertraut und fremd sind, besondere Kräfte zuschreibt, ist nur zu verständlich.

Apoll: Ist euch schon aufgefallen, dass wir in der griechischen Mythologie ein zwiespältiges Verhältnis zur Kreativität haben? Einerseits haben wir Kreativität bestraft. Denkt an den armen Prometheus. Dädalos haben wir mit seiner Erfindung durchgehen lassen, aber nicht seinen Sohn Ikaros. Warum? Weil er dem Sonnengott zu nahe kam. Das darf kein Sterblicher. Unsere griechischen Helden sind teils kreativ, teils einfach stupide Draufgänger und Schläger. Bei Achilles gibt es keinen Funken von Kreativität, nur Emotionen, und die sind negativ: Kränkung, Wut, Rachegefühle. Aber Odysseus, der Listige, übersteht seine Abenteuer nur durch Kreativität. Und selbst Herakles bediente sich seiner Einfallskraft, wenn es notwendig war.

Athene: Oft haben wir den Helden die kreativen Einfälle mitgeteilt, die sie dann ausgeführt haben.

Apoll: Ein nettes Beispiel für die Projektion der eigenen Einfallskraft nach draußen. Aber wenn sie schon von außen kommt, kann sie nur von Göttern stammen. Aphrodite: Wie steht es eigentlich um die Kreativität bei den heutigen Menschen? Die Götter verbieten sie nicht mehr, also müssten doch alle hochkreativ sein.

Athene: Das ist leider gar nicht der Fall. Die Menschen überlassen die Kreativität denen, die sie von Berufs wegen praktizieren: den Kabarettisten, den Werbetextern, den Filmund Fernsehproduzenten und nicht zuletzt den Computerspezialisten, die die tollsten Spiele erfinden.



Apoll: Also ein Überhang an Aneignung.

Athene: Da lobe ich mir die alten Griechen. Was unsere Philosophen und Mathematiker an Werken hinterlassen haben, beeinflusst die Menschheit bis heute. Dass die Philosophen uns von Anfang an weggepustet haben, sei ihnen verziehen; denn es gibt genug Menschen, die ohne Götter (heute sind es Heilige, die man anruft) nicht leben können. Aphrodite: Aber wieder einmal finde ich auch in diesem Kapitel nicht das Thema Liebe. Dabei ist Kreativität in der Liebe Gegenstand der gesamten Mythologie, der Dichtung und auch der Lebenspraxis. Wer hätte nicht schon von der Liebeskunst der Hetären gehört? Wer kennt nicht die Raffinessen, mit denen Zeus seine Geliebten eroberte? Der Autor muss ein asexueller Typ sein oder uralt, dass er die Liebe vergessen hat.

Athene: Nun, sie taucht wenigstens einmal unter der Rubrik „soziale Kreativität“ auf. Das dürfte dir zu wenig sein. Zu wenig ist es aber auch, wenn du nur an die Kreativität beim Flirt und die Überredungskünste der Liebhaber denkst. Kreativität wird mehr noch benötigt, wenn die Liebenden beisammen bleiben und sich allmählich Langeweile, Öde oder sogar Überdruss einstellt. Hier ist Einfallskraft vonnöten, um diese Leere zu überwinden, und ich persönlich schätze diese Kreativität der Liebe mehr als das Flirten, obwohl ich keineswegs so engherzig bin wie die Göttermutter Hera.

Aphrodite: Aber letztlich läuft das auf die Kreativität am häuslichen Herd hinaus.

Apoll: Du selbst bist das Gegenbeispiel der züchtigen Hausfrau. Im Übrigen gibt es zu allen Zeiten ein facettenreiches Frauenbild. Denke an die Tänzerinnen, die Priesterinnen, an die weisen Frauen. Denke an die kämpferischen Amazonen, an die liebende Pentesilea, an die Königinnen und an die Hexen.

Aphrodite: Die Christen haben Maria, die Gottesmutter als Frauenidealbild. Dabei kommt sie in der Bibel nur dreimal vor. Einmal bei der Hochzeit zu Kana, wo Jesus seine Muttertadelt, alssieihnbittet, demWeinmangelabzuhelfen. AmKreuzrichtetJesusdas Wort an seine Mutter: Sieh da deinen Sohn. Gemeint ist Johannes, sein Lieblingsjünger. DasdritteMalweißichimAugenblicknicht. DenResthabendieChristendazugedichtet und sie zur idealen Frau und Mutter hochstilisiert, ein weibliches Idol schlechthin.

Literatur



Aphrodite: Da gefällt mir die heutige Madonna besser, die so schreckliche Szenen provoziert.

Alle (lachend): Du provozierst mal wieder, ja. Denn das gefällt nur allen da – bei Nektar und Ambrosia.

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