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Kulturelle Universalien menschlicher Schönheit?



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Kulturelle Universalien menschlicher Schönheit?

Wir haben bereits festgestellt, dass es evolutionäre Wurzeln des Ästhetischen für menschliche Schönheit gibt, die in drei Punkten zusammengefasst werden können. Schön und attraktiv wirken



  1. das Durchschnittsgesicht einer Population,

  2. das Kindchenschema (Babyface),

  3. Objekte mit „guter Gestalt“ (z. B. Symmetrie).

Hinzu kommt unter Umständen die nackte makellose Haut als Schönheitskriterium. Gibt es darüber hinaus kulturelle Universalien jenseits der Evolution? Letztlich lässt sich diese Frage nicht beantworten, weil kulturübergreifende Merkmale von Schönheit vermutlich auf die evolutionäre Entwicklung reduziert werden können. Daher interessiert mehr, ob und in welcher Weise die Kultur das Schönheitsverständnis beeinflusst.

Beginnen wir bei der Figur. Die universell gegebene Bevorzugung großer Männer gegenüber kleinen ist zweifellos ein Evolutionskriterium. Hingegen ist das Verhältnis von Hüfte zu Taille bei Frauen eindeutig ein Resultat kultureller Bewertung. Ähnlich verhält es sich mit dem Schlankheitsideal für Frauen, das erst in der Neuzeit zum ästhetischen Maßstab wurde. Im Folgenden zitiere ich einige Beispiele aus Darwins Werk „Die Abstammung des Menschen“ (deutsche Ausgabe 1875). Sie zeigen, dass Darwin den Einfluss der Kultur höher einschätzte als es die heutigen Evolutionspsychologen tun.

Wie bei uns das Gesicht hauptsächlich seiner Schönheit wegen bewundert wird, so ist es bei Wilden der vorzügliche Sitz der Verstümmelung. In allen Theilen der Welt werden die Nasenscheidewand, seltener die Flügel der Nase durchbohrt und Ringe, Stäbchen, Federn und andere Zierathen in die Löcher eingefügt. Die Ohren werden überall durchbohrt... .. und bei den Botokuden und Lenguas von Südamerika wird das Loch allmählich so erweitert, dass der untere Rand des Ohrläppchens die Schulter berührt. (a. a. O., S. 321)

An anderer Stelle zitiert Darwin Hearne, der viele Jahre bei den Indianern lebte:

Man frage einen nördlichen Indianer, was Schönheit sei, und er wird antworten, ein breites, plattes Gesicht, kleine Augen, hohe Wangenknochen, drei oder vier schwarze Linien über jede Wange, eine niedrige Stirn, ein großes breites Kinn, eine kolbige Hakennase, eine gelbbraune Haut und bis zum Gürtel herabhängende Brüste. (a. a. O., S. 324)

In ähnlicher Weise listet Darwin die Schönheitsideale von Gesichtern bei anderen Ethnien auf und belegt, dass es im Vergleich zu unserem Selbstverständnis von schönen Gesichtern radikal andere ästhetische Urteile gibt. Dieser Beurteilung kann man heute noch zustimmen, obwohl die empirische Forschung eine Reihe von Schönheitsmerkmalen für das menschliche Gesicht findet, die über die anfangs genannten Evolutionsmerkmale hinausgehen (Henss 1992).

Die Tätowierung und Verstümmelung begründet Darwin ebenfalls kulturell und soziologisch.

Die Motive sind verschiedenartig; die Männer malen sich ihre Körper an, um sich im Kampfe schrecklich aussehend zu machen. Gewisse Verstümmelungen stehen mit religiösen Gebräuchen in Verbindung oder bezeichnen das Alter der Pubertät oder den Rang des Mannes, oder sie dienen dazu, die Stämme zu unterscheiden... .Aber Schmückung, Eitelkeit und Bewunderung Anderer scheinen die häufigsten Motive zu sein. (a. a. O., S. 322)

Während in traditionellen Kulturen, vor allem in schriftlosen Kulturen, ästhetische Präferenzen über Jahrhunderte und Jahrtausende stabil bleiben, verändert sich das ästhetische Urteil in sich rasch wandelnden Kulturen entsprechend schnell.

Kultur zwischen Tradition und Neuem

Das Ästhetische in der Kultur hat zwei Gesichter. Das eine Gesicht ist die Tradition des Schönen (was man für schön hält), das andere Gesicht das Neue, noch nie Dagewesene. Beides, Tradition und Neues stammen, wie bereits dargelegt, aus der Evolution. Die eine Million Jahre währende Nutzung des Faustkeils und seine Überproduktion zeigen, wie lange sich eine Tradition halten kann. In der altägyptischen Malerei haben sich typische menschliche Darstellungen über fast drei Jahrtausende gehalten. Die abendländische Kultur hingegen ist durch Stil- und Formänderungen gekennzeichnet, die in immer rascherer Folge eintraten. Ab der Renaissance änderte sich die bildende Kunst immer schneller, bis der Impressionismus mit einem völlig neuen ästhetischen Konzept auftrat. Der Kampf zwischen Tradition und Neuem prägt die Geschichte der Kunst der Neuzeit. Viele Maler fanden zu ihren Lebzeiten keine Anerkennung. Noch stürmischer begann das zwanzigste Jahrhundert mit Expressionismus, Kubismus und abstrakter Malerei. Das zwanzigste Jahrhundert wurde in allen musischen Bereichen zu einer Epoche, in der das jeweils Neue siegte. Selbst die Aufführung traditioneller Kunst, wie Oper und Schauspiel wurden durch das Regietheater zu etwas Neuem, wobei sich die Traditionalisten und die Progressivisten in ihrem ästhetischen Urteil diametral unterscheiden.

Das Neue ist dennoch nicht beliebig, sondern meist nur verstehbar aus dem, was vorher war. Nehmen wir als Beispiel die abendländische Musik. Sie entwickelt sich zu einer harmonischen Mehrstimmigkeit mit einem gewissen Höhepunkt in der Renaissance, erreicht in der Klassik, wie der Name sagt, eine Vollendung, die keine Weiterentwicklung im hergebrachten Geleise ermöglicht. Die Romantik führt neue harmonische Zusammenklänge ein und gelangt bei Wagner bereits zu ihrem harmonischen Gipfel, denn die Spätromantik hat kaum innerhalb der vorgegebenen Klangwelt Neues zu bieten. Ihr ästhetischer Wert liegt in der optimalen Nutzung des Vorhandenen und in der kreativen Neuverbindung von Vorhandenem. Neu hingegen ist der Stil des Impressionismus, der die Ganztonskala einführt, mit Akkordparallelen arbeitet und dabei die traditionelle Musikgrammatik überwindet (z. B. die Schlussformel IV-V-I oder V-I). Auch Elemente aus anderen Musikkulturen wie der ostasiatischen werden genutzt. Es folgt (nach und mit dem Expressionismus) die Einführung der Zwölftonskala durch Schönberg, bei der alle Töne gleichwertig sind. Musik wird zur Konstruktion von vertikalen und horizontalen Tonreihen. Seitdem experimentiert die Musik sowohl klanglich (elektronisch erzeugte Töne und Klänge) als auch mit Zufallsfolgen von Klängen (aleatische Musik von Alea = Würfel). Daneben gibt es die Rückkehr zum Einfachen, wie bei Carl Orff, sowie eine Explosion der Unterhaltungsmusik, bei der das Neue hauptsächlich in der Expressivität liegt: Pop und Rockmusik.

Die Reihenfolge des Auftretens dieser Musikstile kann entwicklungslogisch nicht beliebig verändert werden. Die Ganztonskala kann nicht am Anfang der abendländischen Musik stehen, sie ist eine kulturelle Weiterentwicklung der Dur- und Mollskala. Sie ist weniger „natürlich“. Dies zeigen Untersuchungen an Säuglingen. Sie bevorzugen im ersten Lebensjahr Tonleitern mit ungleich großen Schritten vor der Ganztonskala (Trehub 2005). Ebenso verhält es sich mit Harmonien. Säuglinge bevorzugen Tonabstände mit einfachen ganzzahligen Frequenzverhältnissen, wie Quinte und Terz, vor anderen Intervallen, wie Septime und Sekunde (s. Kap. 9, Abschn. Kernwissen). Die Expressivität und Neuartigkeit der Klangerzeugung im Jazz sowie in der Rock- und Popmusik hängt mit einer gesamtkulturellen Veränderung zusammen, die erstens die Individualität und Selbstverwirklichung favorisiert und zweitens der Jugend einen Freiraum zwischen Kindheit und Erwachsenenalter einräumt, der es der Jugend ermöglicht, ihre Anliegen unmittelbar kulturell-ästhetisch auszudrücken (s. nächster Abschnitt). Zugleich ist Vieles dieser neuen Musik auch Protest gegen die herrschende Kultur des Establishments. Der Jazz ermöglichte den Afro-Amerikanern, ihre eigene Kultur und ihre Bewusstseinslage zu artikulieren. Die Rock- und Popgruppen thematisieren häufig gesellschaftliche Probleme.

Das Neue dieser Musikrichtungen verschwindet allerdings, wenn es sich die Hauptkultur zu eigen macht, also wenn die Mehrzahl der Bevölkerung sich den ästhetischen Geschmack des Neuen aneignet.

Das Ästhetische in Subkulturen

Die eben beschriebenen Musikstile entstammen Subkulturen, die sich teils in Opposition, teils in bloßer Abgrenzung zur Hauptkultur herausgebildet haben. Wir beobachten die Bildung neuer Subkulturen permanent an den Jugendlichen. Subkultur ist verstehbar als Teilkultur, die neben und mit der Gesamtkultur besteht. Die übergeordnete Wirkung der Gesamtkultur bleibt erhalten. Man denke an die Landessprache als Kommunikationsmittel, an das Verkehrssystem, dem alle unterworfen sind, und an das ökonomische System von Arbeit und Konsum. Es gibt zwar Subkulturen, die versuchen, gänzlich mit der Hauptkultur zu brechen, wie etwa die Hippiekultur in Kalifornien, doch konnte sie nur Bestand haben, weil die Eltern ihre Kinder finanziell unterstützten. Der ästhetische Geschmack bildet in Subkulturen einen entscheidenden Orientierungsrahmen. Sprache wird ästhetisch modifiziert, und neue Wörter für Schönes, Aufregendes, Attraktives werden eingeführt (z. B. „geil“ und „super“). Jugendliche finden sich nach ihren ästhetischen Vorlieben in Musik, Kleidung und Accessoires zusammen. Ihre jeweilige Lebensphilosophie wird also hauptsächlich – bewusst oder unbewusst – von ästhetischen Kriterien bestimmt. Wenn wir die evolutionäre Basis des Ästhetischen mitdenken, so wird leicht verständlich, dass die Jugend das Neue wählt und kreiert. Aber erst eine kulturelle Entwicklung, die der Jugend eine Zwischen- oder Marginalposition einräumt und einen zeitlich umfangreichen Entwicklungsspielraum gewährt, der unklar definiert ist und sich von Jahr zu Jahr ändert, ermöglicht die Bildung von Jugendkulturen (Coleman 1961).

Subkulturen finden sich auch bei den Erwachsenengruppen. Vor allem zeigen sie sich in regionalen Unterschieden und in Unterschieden zwischen sozio-ökonomischen Schichten. Brauchtum, Tracht und Musik in Oberbayern erhalten sich keineswegs nur wegen der Touristen, sondernsindBestandteildestäglichenLebens. ÄhnlicheSubkulturenlassensich in vielen Regionen Europas finden, so etwa in der Bretagne und auf Sardinien. Während sich Jugendkulturen an dem Neuen orientieren und oft eine Gegenkultur zur Hauptkultur errichten, sind die Subkulturen im Erwachsenenleben konservativ. Brauchtum, Tracht und Musik widersetzen sich weitgehend dem Neuen, obwohl schrittweise doch neue Elemente auftauchen. Auch dies fügt sich in die evolutionäre Basis ein: bei den Erwachsenen als Hauptträger der Kultur geht es um Sicherheit und Stabilität.

Kulturelles Kapital

Erweitern wir diese Sichtweise nun durch einen soziologischen Ansatz, der von Pierre Bourdieu stammt. Bourdieu (1983) unterscheidet zwischen ökonomischem, kulturellem undsozialemKapital. AlledreiFormendesKapitalssteheninWechselwirkungzueinander. Das ökonomische Kapital ist die individuelle und kollektive Anhäufung von materiellen Gütern bzw. das den Erwerb der Güter ermöglichende Geld. Unter kulturellem Kapital versteht Bourdieu die Gesamtheit der individuell angeeigneten kulturellen Inhalte. Kulturelles Kapital kann in einem umfassenden Sinne als Bildung bezeichnet werden. Das soziale Kapital bildet die Gesamtheit aller Ressourcen, die mit der Verfügbarkeit eines Netzes von sozialen Beziehungen verbunden sind. Gute Sozialbeziehungen ergeben zwei Arten von Profiten, nämlich materielle und symbolische Profite. Letztere bescheren z.B. Status und Sozialprestige. Eine zentrale These Bourdieus lautet, dass Klassenzugehörigkeit am deutlichsten durch den Lebensstil („Habitus“) bestimmt wird und damit durch den Geschmack. GeschmackbietetsichseinerMeinungnachalsbevorzugtesMerkmalvon,Klasse‘ an. Diese These ist für unsere Betrachtung des Ästhetischen von großer Bedeutung, weil nun Schicht- oder Klassenunterschiede vor allem durch ästhetische Vorlieben und weniger durch Einkommen und Wohnverhältnisse sichtbar werden. Angesichts der heutigen Einkommenssituation, in der ein Facharbeiter mehr verdienen kann als ein Akademiker, leuchtet diese Sichtweise besonders ein.

Im Folgenden wollen wir drei Formen des kulturellen Kapitals näher beleuchten: inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes Kapitel. Das verinnerlichte (inkorporierte) kulturelle Kapital ist schlicht das, was sich ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung an kulturellem Reichtum angeeignet hat. Die Summe von kulturellem Wissen, kultureller Geschmacksbildung und praktischem Können wird in der Primärerziehung durch die Eltern und in der sekundären Erziehung durch die Schule vermittelt. Dabei spielt auch der Zeitfaktor eine Rolle. Wenn Kinder und Jugendliche mehr Zeit für den Erwerb von Bildung erhalten, können sie mehr an kulturellem Reichtum erwerben und tiefer in die Errungenschaften der Kultur eindringen. Wer früher ins Berufsleben eintritt bzw. früher die Schule verlässt, befindet sich bezüglich des kulturellen Kapitals im Nachteil. Das verinnerlichte kulturelle Kapital wird Bestandteil der Persönlichkeit.

Das objektivierte Kulturkapital existiert in Form von kulturellen Gütern wie Bücher, Bilder, Statuen, Maschinen (in denen kulturelles Wissen steckt). Dieses Kapital kann übertragen und weitergegeben werden. Es besitzt aber nur für diejenigen Wert, die aufgrund ihres verinnerlichten Kapitals den Wert der kulturellen Güter einschätzen können.

Das institutionalisierte Kapital schließlich besteht in Form von formalisierten Bildungsabschlüssen, Zeugnissen, Titeln und Positionen. Autodidakten müssen, sofern sie überhaupt Zugang zu Positionen erlangen, ihre Berechtigung immer wieder neu unter Beweis stellen.

Die übrigen Gedanken Bourdieus über den Austausch zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital sowie die Darstellung der Mechanismen, mit denen die herrschende Klasse den Zugang für andere soziale Klassen erschwert oder verwehrt, sind ebenfalls hochaktuell, können aber hier nicht näher behandelt werden. Interessant sind jedoch Bourdieus Beispiele für den Habitus (Lebensstil) verschiedener Klassen (Bourdieu 1982). Soziale Schichten unterscheiden sich hinsichtlich ihrer ästhetischen Präferenzen, und diese wiederum sind eingebettet in unterschiedliche Lebensstile: Golf und Tennis bei gehobenen Schichten versus Fußball (z. B. kommen Stadienbesucher eher aus niederen Schichten), analog Kunstmusik versus Unterhaltungsmusik, Wohnungseinrichtung, Kleidung. Bei genauerem Zusehen, d.h. bei Berücksichtigung der aktuellen Präferenzforschung ergibt sich ein differenzierteres Bild. So erbrachten Umfragen in den USA, dass die traditionelle Unterscheidung von „anspruchsvoller“ und „anspruchsloser“ Musik und die etwaige Korrespondenz zu sozialen Schichten nicht mehr zutrifft. Personen mit höherem Bildungsstand neigen dazu, eine breite Palette von Musikstilen zu hören, also „Allesfresser“ oder Omnivoren zu sein, während Befragte mit niedrigem Bildungsgrad „Univoren“ waren, also einen eingeengten Musikgeschmack hatten und eine bestimmte Stilrichtung bevorzugten (DeNora 2008).

Bei einer Erhebung in Deutschland (ARD-Werbung und Medienforschung Radio) ergab sich das in Tab. 11.2 dargestellte Bild.

Auch bei uns ist wie in den USA die Bandbreite bei höherer Bildung ausgeprägter, aber esgibtdocheinedeutlichunterschiedlichePräferenzgewichtung: SchlagerundVolksmusik bevorzugen Personen mit niedrigerem Bildungsabschluss, Rock und Popmusik, aber auch klassische Musik Personen mit höherem Bildungsabschluss. Die radikale Verschiebung der Präferenzen bei über Siebzigjährigen weist neben der Bevorzugung eines „gesunkenen Kulturgutes“ immerhin einen etwas höheren Prozentsatz der Präferenz von klassischer Musik gegenüber den Vierzigjährigen auf.

Die klassische Musik oder besser ,Kunstmusik‘ lässt den Begriff des kulturellen Kapitals besonders deutlich werden. Obwohl nur eine Minderheit das Angebot an Kunstmusik nutzt, fließen mehr Subventionen in ihre Förderung als in andere Musikrichtungen.

Tab. 11.2 Musikpräferenzen (Prozentangaben in Deutschland nach Bildungsstand und Alter. (Zusammengestellt nach Gembris 2005, S. 282)

Bildungstand und

Alter


Popmusik

Rockmusik

Klassische

Musik


Schlager/

Evergreens



Volksmusik

Hauptschule Lehre

22,4

15,4

7,8

45,4

37,1

Abitur/Studium

44,7

35,9

23,0

19,5

10,5

14–19 Jahre

76,0

66,0

4,1

9,9

2,6

40–49 Jahre

33,3

22,8

11,5

36,9

21,8

70 Jahre und älter

3,4

1,5

13,8

45,5

51,3

Theater, Oper und Konzert werden nur von 10% der Bevölkerung oder weniger genutzt, abervondenrestlichen90%vollmitfinanziert. InderTerminologievonBourdieulässtsich festhalten: PrivilegiertemithoheminkorporiertemkulturellenKapitalpartizipierenamobjektivierten und institutionalisierten Kulturkapital weit mehr als weniger Privilegierte; sie lassen sich aber von diesen ihren Vorteil finanzieren.

Ästhetik in der Wissenschaft

In unserem Alltagsverständnis haben Wissenschaft und Ästhetik nichts miteinander zu tun. Das Schöne oder was wir als schön empfinden, gehört in den Bereich des Musischen, der schönen Künste und auch in den Bereich der Verschönerung des Alltags. Diese Sichtweise ist zumindest für die Naturwissenschaften und die Mathematik nicht zutreffend. Dort geht es um eine Ästhetik besonderer Art, die auf Ockham zurückgeht und als Ockhamsches Rasiermesser (Ockham’s Rasor) bezeichnet wird. Wenn viele Erklärungsmöglichkeiten vorliegen, ist nach diesem Prinzip die einfachste vorzuziehen. Einfach ist eine Theorie, wenn sie ihre Aussagen auf wenige Prinzipien reduziert. In den Naturwissenschaften bedeutet diese Reduktion Formulierungen mathematischer Gleichungen. So lautet die Heisenbergsche Unschärferelation



(11.1)

h = h



h: Planck-Konstante und das Gravitationsgesetz von Newton:



(11.2)

m

F = −G 1m2

(11.3)

r2

F: die Kraft zwischen den Massenpunkten, m1: die Masse des ersten Massenpunktes, m2: die Masse des zweiten Massenpunktes, r: Abstand zwischen den Massenpunkten,

G: die Gravitationskonstante, eine Naturkonstante.

Fast alle physikalischen Gesetze lassen sich in einfachen Formeln darstellen. Die Physiker sind stolz auf das derzeit gültige Standardmodell der Teilchen, es ist einfach, symmetrisch und ästhetisch. Trotz der Komplexität der Physik und Chemie bilden ihre Grundlagen einfache Formeln und Einteilungen (in der Chemie beispielsweise das Periodische System der Elemente) und gehorchen mit Bravour dem Ockhamschen Rasiermesser.

In der reinen Mathematik gilt Ähnliches. Die Ableitung mathematischer Systeme aus einfachen Axiomen und das Ausdrücken komplexer Zusammenhänge in möglichst einfachen Formeln sprechen für eine mathematische Ästhetik. Eine Umfrage unter Mathematikern, welches die schönste Formel sei, erbrachte die berühmte Eulersche Identitätsformel, in der alle Zahlentypen vereinigt sind:

eiπ + 1 = 0 (11.4)

oder:

eiπ = −1 (11.5)



(e: natürliche Zahl; i: imaginäre Zahl; π: transzendente Zahl)

Mit gutem Recht könnte man also behaupten, dass die Schönheit der mathematisch formulierten Erkenntnisaussagen in den Naturwissenschaften wegen ihrer höchstmöglichen Abstraktheit und der Einfachheit ihrer Grundaxiome den Höhepunkt der Ästhetik darstellen.



Exkurs: Das Ästhetische in der Ökonomie der modernen Gesellschaft

Der Kapitalismus nutzt Ästhetik als Fassade der Macht und Größe. Schon die Fabrikbauten des 19. Jahrhunderts, heute teilweise denkmalgeschützt, zeugen von diesem Prinzip. Hinter dieser Fassade, am Arbeitsplatz, spielt Ästhetik keine Rolle. Das gilt auch heute noch. Schaut man sich die grauenvollen Großraumbüros an, so sind die Einzelnen nur graue Arbeitstiere in einem komplexen Zusammenwirken von ökonomischen Tätigkeiten. Auch individuellere Arbeitsplätze haben nichts Ästhetisches an sich. Manchmal versucht die Sekretärin oder Schwester ihren Arbeitsplatz durch ästhetische Zugaben von der Kerze bis zum Foto zu verschönern. Aber selbst wenn man seinen Arbeitsplatz nach eigenem Gutdünken gestalten kann, verzichtet man auf ästhetische Zutaten. Der typische Freiberufler am Computer lebt meist in einem entsetzlich gesichtslosen Ambiente. Seine Ästhetik holt er sich allenfalls vom Bildschirm. Am ehesten gibt es noch die Verbindung von Erotik und Ästhetik, die bei Männern zu einer Arbeitsumgebung mit Plakaten von schönen, zugleich sexuell attraktiven Frauen führt.

Andererseits müsste man vom Kapitalismus erwarten, dass das Ästhetische genutzt wird, wenn es zur Kapitalvermehrung beiträgt. Genau dies ist heute der Fall. Da die Produkte in ihrer Qualität und Leistungsfähigkeit meist gleich sind, entscheidet das Design. Die Kunden bevorzugen bei sonst gleichen Qualitätsmerkmalen das ästhetisch ansprechendste Produkt. Hier wird das Design zum Markenzeichen und die Nachahmung des Designs zum Wirtschaftsdelikt. So verlor 2011 die koreanische Firma Samsung wegen der

Imitation eines Designs gegen Apple und durfte ihr Produkt nicht nach Europa verkaufen.



11.6 Ontogenese

Betrachtet man die Vielfalt menschlicher Gesichter und Figuren, so könnte man erstaunt sein, wie wenig die ästhetische Selektion im Laufe der Jahrtausende wirksam war. Wirklich schöne Gesichter, so wie sie der moderne Geschmack als schön einstuft, sind nicht besonders häufig. Ebenso verhält es sich mit dem erwünschten Verhältnis von Taille zu Hüfte von 0,7. Aus diesem niederschmetternden Tatbestand lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ziehen: 1) Das Ästhetische spielt eben doch keine Rolle bei der Partnerwahl, sonst gäbe es nur schöne Menschen; 2) der ästhetische Geschmack ist so stark kulturellem Wandel unterworfen, dass es zu keiner „Züchtung“ einer die Zeiten überdauernden Schönheit kam; 3) andere Zwänge, wie die Zuweisung von Partnerinnen und Partnern durch Eltern oder andere Autoritäten (Islam), wirtschaftliche Sicherheit und soziales Prestige von (ansonsten hässlichen) Männern überdecken den Wunsch nach Schönheit und 4) die individuelle Lebensgeschichte bewirkt bemerkenswerte Variationen beim ästhetischen Geschmack.

Alle diese Momente können eine Rolle spielen. Wir befassen uns im Folgenden mit dem Einfluss individueller Entwicklung auf den ästhetischen Geschmack. Dabei konzentrieren wir uns auf die Frage, ob der ästhetische Geschmack durch individuelle Lernerfahrungen, Entwicklungseinflüsse, prägende Ereignisse und dergleichen so stark beeinflusst wird, dass sowohl evolutionäre als auch kulturelle Faktoren des Ästhetischen überlagert werden. Zunächst diskutieren wir, wie verschiedene Formen des Lernens ästhetische Wahrnehmung und Handlung beeinflussen, beschäftigen uns mit der Wirkung von Prägung und Bindung, wenden uns dann der Frage zu, wie sich das eigene Körperselbstbild mit evolutionären und kulturellen Schönheitsfolien auseinandersetzt, und befassen uns schließlich mit der Entwicklung des Ästhetischen sowohl hinsichtlich der Aneignung (ästhetisches Urteil) als auch in Bezug auf die Vergegenständlichung (ästhetisches Gestalten). Am Ende werden noch drei Valenzarten als Ordnungsprinzipien eingeführt, die unterschiedliche Abstraktionsebenen von Wertigkeit beschreiben.


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