Inhaltsverzeichnis Einleitung


Die Kultur hat uns von der natürlichen Lebensweise entfernt



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Die Kultur hat uns von der natürlichen Lebensweise entfernt

Die meisten biologischen Nachteile unserer evolutionären Anpassung hängen jedoch mit der von uns selbst geschaffenen Umwelt zusammen. Wir haben uns in der Wildnis entwickelt und sind für die Wildnis geschaffen: Born to be wild, wie der Pädiater Renz-Polster (2009) es ausdrückt. Dies zeigt sich am meisten aus der Vorliebe bei der Nahrungsaufnahme. Nahrungsmittel, die Fett und Zucker enthalten, schmecken uns besonders gut, und da wir sie in Überfluss zur Verfügung haben, nehmen wir sie auch im Übermaß. Einstmals waren Fett und Zucker wichtig, denn unser Gehirn ist ein Luxusorgan, das viel Energie benötigt, die kurzfristig von Zucker, langfristig vom Fett gespendet wird. In der Frühzeit des Menschen war diese Geschmackspräferenz sinnvoll, da es Zucker und Fett nicht im Überfluss gab und zudem die Menschen sich vielmehr bewegen mussten als heute. Deshalb müssten wir erstens die Nahrungsrationen verringern und zweitens uns wesentlich mehr bewegen, um der Biologie unseres Körpers gerecht zu werden.

Ein zweiter Faktor, den uns die Evolution beschert hat, ist die Adrenalinausschüttung bei Erregung und Stress. Sie diente der Aktivierung des Körpers zu Hoch- und Höchstleistungen angesichts von Gefahren, denen es zu entfliehen galt, oder bei der Jagd auf Wild, das verfolgt werden musste. Heute begegnen wir solchen Adrenalinausschüttungen nicht mit Bewegungsausgleich und körperlichen Anstrengungen, sondern sind gezwungen, im Auto, am Schreibtisch oder vor dem Vorgesetzen ruhig sitzen zu bleiben. Dieses sozial angepasste, aber biologisch dysfunktionale Verhalten rächt sich durch Magengeschwüre und andere Magendarmbeschwerden.

Evolutionsmediziner führen eine ganze Liste von Mängeln auf, die uns zu schaffen machen, weil wir uns nicht mehr so verhalten, wie es die Natur vorsieht: Falsche Zahnstellung durch Unterforderung des Kauens, Diabetes vom Typ 2 durch Bewegungsarmut und Nahrungsüberschuss, Überbelastung der unteren Lendenwirbel durch zu langes Sitzen (wir sind für den aufrechten Gang und nicht fürs Sitzen gebaut), Hämorrhoiden, ebenfalls durch vieles Sitzen, Abnahme der Knochendichte durch mangelnde Bewegung, Veränderung der Füße durch Tragen von Schuhwerk (Barfußgehen ist die natürliche Art des Gehens) und vieles andere mehr. Das einfachste Rezept der Mediziner ist auch das wirksamste: Diät (fett- und zuckerarme Nahrung) und Bewegung.

Die Mahnungen und Empfehlungen der Evolutionsmediziner haben nur einen kleinen Schönheitsfehler, sie unterschlagen, dass wir heute doppelt bis dreimal so alt wie die Steinzeitmenschen werden und dass die Lebenserwartung laut Hochrechnung immer noch ansteigt. Trotz unseres Fehlverhaltens sind wir gesundheitlich besser dran als unsere Vorfahren. Aus unserer höheren Lebenserwartung lässt sich schließen, dass das Potenzial für langes Leben schon damals vorhanden war, aber infolge der harten Lebensbedingungen nicht zum Zug kommen konnte.

Hier kommt erstmals die menschliche Kultur ins Blickfeld. Infolge der Krankheitsbekämpfung und der medizinischen Fortschritte generell findet die natürliche Selektion vielfach nicht mehr statt. Chronische Krankheiten werden weiter vererbt. Nicht mehr die biologische Fitness dient als Selektionskriterium, sondern Fähigkeiten, die in der jeweiligen Kultur wichtig sind. In unserer Kultur sind dies Intelligenz, Kreativität, soziales Geschick und Leistungsmotivation. In einer Überflussgesellschaft ist die Sterblichkeitsrate geringer und die Lebenserwartung höher, unabhängig von der durchschnittlichen biologischen Fitness, die in durch Mangel geprägten Kulturen frühzeitig durch Krankheitserreger und Ernährungsdefizite zerstört wird. Schon jetzt deutet sich an, was wir später noch ausführlich zu diskutieren haben, nämlich dass Kultur nicht auf evolutionäre Gesetzmäßigkeiten reduziert werden kann, sonst würde sie nicht – wie heute – antievolutionär Einfluss nehmen.



Ein Glücksfall für den Homo sapiens: Klima-Stabilität

Trotz der oben geschilderten immensen Errungenschaften der jüngeren Altsteinzeit vollzog sich die kulturelle Entwicklung immer noch langsam. Es dauerte Jahrzehntausende, bis die ersten Symbolfiguren auftauchten. Aber etwa 10.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung beschleunigte sich die kulturelle Entwicklung dramatisch. Die Menschen wurden sesshaft, bauten Feldfrüchte an und hielten sich Haustiere. Es dauerte nicht lange, da entstanden die ersten Städte. Als älteste bislang entdeckte Stadt gilt Jericho, dessen Geschichte bis vor 13.000 Jahren zurückreicht. Zu den Funden zählen die ältesten Steinbauten der Menschheit, ebenso wie die älteste Treppe. Çatalhöyük in Ostanatolien wurde ca. 7.500 v. Chr. gegründet. Es folgten die Hochkulturen von Ur, Ägypten, Babylonien und Assyrien. Mit anderen Worten, es vollzog sich vor etwa zwölftausend Jahren ein Wandel, der eine Fülle neuen Wissens, komplexere gesellschaftliche Strukturen und eine Absicherung der Ernährung der Bevölkerung mit sich brachte, ein Wandel, der frühzeitig zu Hochkulturen führte. Was hat diese Veränderung bewirkt?

Ein entscheidender Faktor dürfte die Klimaerwärmung und die darauffolgende relative Stabilität des Klimas gewesen sein. Die starken Klimaschwankungen der vorausgehenden Jahrtausende machten Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht unmöglich. Der Mensch konnte nur als Jäger und Sammler überleben. Vor allem das milde Klima im Nahen Osten und die günstigen Auswirkungen der Flusslandschaft (Euphrat und Tigris für die Hochkulturen des Nahen Ostens, der Nil für Ägypten) ermöglichten den kulturellen Aufschwung des Menschen. Hinzu kommt vielleicht noch, dass der Homo sapiens bereits vor 100.000 Jahren aus Afrika in die Halbinsel Arabien eingewandert ist und dort eine besonders lange Entwicklungsgeschichte hinter sich hat.

Heute wie damals bedeutet eine gravierende Klimaveränderung in Richtung Eiszeit oder – was weltweit wahrscheinlicher ist – in Richtung Erwärmung durch den Treibhauseffekt für den Homo sapiens eine Katastrophe großen Ausmaßes. Allerdings besitzt der Mensch heute andere technische Mittel zur Bewältigung einer Klimakatastrophe und damit größere Überlebenschancen als damals. Dennoch würde eine Klimakatastrophe eine gewaltige Menge an Opfern fordern und sicher auch gesellschaftliche Umwälzungen großen Ausmaßes mit sich bringen. Wir sind gerade dabei, das große Geschenk der Klimastabilität zu zerstören. Das ist Dummheit und Verbrechen in Potenz.



Erforschen wir unser evolutionäres Potenzial

Am Ende dieses Kapitels soll aber ein positiver Ausblick stehen. Man hat viel über Vorund Nachteile unserer evolutionären Ausstattung geschrieben, dabei aber einen Aspekt, nämlich das Ausloten der unbekannten Potenziale des Homo sapiens, wenig ins Auge gefasst. Die Menschheitsgeschichte hat gezeigt, dass wir nur allmählich auf die Möglichkeiten gestoßen sind, die in uns stecken. Der Erwerb der Schriftsprache und die damit verbundene Geschwindigkeit des Lesens entwickelten sich relativ spät. Unsere Buchstabenschrift beispielsweise leitet sich nach Breckle (2005) aus den altsinaitischen Hieroglyphen her. Das phönizische Alphabet entsteht um 1000 v. Chr., das erste griechische Alphabet findet sich um 850 v. Chr. und die Rechtsläufigkeit der Schrift bei den Griechen im 4. Jahrhundert. Mit dem Aufkommen der Schriftsprache entsteht eine Fertigkeit, die ohne diese kulturelle Entwicklung verborgen geblieben wäre: die Lesefertigkeit. Die Lesegeschwindigkeit wurde in einer amerikanischen Studie gemessen. In der ersten Klasse beträgt die Anzahl der gelesenenWörterimmerhinschon80, inder6. Klassebereits185undimCollege280proMinute. Ähnlich verhält es sich mit grob- und feinmotorischen Leistungen. Die Voraussetzungen für handmotorische Fertigkeiten und die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung dürften seit Bestehen des Homo sapiens existiert haben. Ihre volle Nutzung erfolgt erst in der Neuzeit, z.B. beim Schreibmaschineschreiben und vor allem beim Klavier- und Violinspiel. Die Virtuosität bei der Beherrschung von Musikinstrumenten hat sich im 20. Jahrhundert noch drastisch gesteigert. Ähnliches gilt für den Sport, in dem die Geschwindigkeit (Lauf, Eislauf, Abfahrtslauf) und die Körperkraft (Gewichtheben, Kugelstoßen) ständig zunehmen. Das Potenzial zu diesen Leistungen ist vielleicht 100.000 Jahre alt, war aber lange unbekannt und wurde erst in den jeweiligen historischen Epochen, vor allem aber in der Neuzeit genutzt. Wir wollen uns die Problematik der modernen Rekordsucht für später aufsparen. Jetzt geht es nur um das Faktum, was der Mensch an körperlicher Geschicklichkeit zuwege bringt oder in früheren Zeiten zuwege gebracht hat. Die jeweilige Kultur, nicht die Natur, bietet Nischen, in denen evolutionäre Potenziale, die sonst verborgen blieben, genutzt werden.

Natürlich lässt sich diese Perspektive auch auf geistige Leistungen anwenden. In Griechenland konnte sich aus dem vorhandenen Wissen der Babylonier und Ägypter die abstrakte axiomatische Mathematik entwickeln, eine Leistung, die nur unter spezifischen Bedingungen der griechischen Kultur entstehen konnte (s. Kap. 13). Potenziell sind diese Denkleistungen im Homo sapiens grundgelegt, sonst könnten sie nicht irgendwann und unter günstigen Bedingungen auftreten. Wir werden uns mit der Mathematik noch in Kap. 13 und 15 genauer beschäftigen.

Es lässt sich also folgern, dass wir gar nicht wissen, was noch alles in uns steckt. Unsere Entwicklungsmöglichkeiten sind nicht bekannt und daher ist die menschliche Entwicklung offen. Die Idee, der Mensch entwickle sich in der Evolution erst zu dem, was aus ihm werden könnte, wurde bereits von Taillard de Chardin (1961) vertreten, der Evolution und Religion versöhnen wollte.



Gespräch der Himmlischen

Aphrodite: Dieser Text scheint mir wenig geordnet: erst die Ausbreitung des Menschen, dann etwas über Religion und Kunst in der Frühzeit, und schließlich eine Aufzählung von Mängeln, die der Mensch hat.

Athene: Jetzt geht es erstmals um den Menschen, mit dem wir ausschließlich zu tun haben, dem Menschen, der uns geschaffen hat. Das ist der Homo sapiens. Er ist aus Afrika ausgewandert und irgendwann mal auch nach Griechenland gekommen. Der zweite Teil über Kunst und Religion erzählt auch von uns. Er gibt Auskunft darüber, ab wann der Mensch sich Gottheiten geschaffen hat und an ein Fortleben nach dem Tode glaubt. Dabei geht es eigentlich um die Frage, ab wann der Mensch geistig dem heute lebenden Menschen gleichgestellt werden kann. Das scheint spätestens vor fünfunddreißig- bis vierzigtausend Jahren der Fall gewesen zu sein.

Dionysos: Ja, und dann darf natürlich nicht fehlen, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern ein mit Mängeln und Nachteilen behaftetes Wesen. Das Gute und das Schlechte gehören zusammen.

Apoll: Das Gute und zugleich Höchste beim Menschen sind Religion und Kunst, da kann man schon einige körperliche Mängel in Kauf nehmen. Ich jedenfalls stelle Kunst – und in jeder Kunst steckt auch Religion – über die praktisch so hilfreichen Werkzeuge. Der Mensch als Künstler ist mir wichtiger als der Werkzeugmacher.

Athene: Vergiss die Wissenschaften nicht. Auch sie sind jenseits praktischer Werkzeuge, benutzen sie aber für Höheres: das Erkennen.

Aphrodite: Auch für mich ist der Künstler wichtig, obwohl die Venus von Willendorf und erst recht die von Hohle Fels nicht meinem Schönheitsideal entsprechen. Aber ich selbst bin vollendet schön, sowohl in der Vorstellung des Menschen als auch in den von ihm geschaffenen Statuen, und da ärgert mich das Gerede über die durch den aufrechten Gang erschwerte Geburt, die falsche Anordnung von Luftröhre und Speiseröhre, der überflüssige Blinddarm und was es sonst noch alles gibt. In ihrer Phantasie sind die Menschen vollkommen, und sie haben mich aus ihrer Sehnsucht nach Vollkommenheit heraus geschaffen.

Dionysos: DamussichdocheinenWermutstropfenindensüßenWeingießen. Schaudir mal die fetten Bäuche, dicken Ärsche und Hängebacken der saturierten überernährten westlichen Menschen an, da kann ich von einer Manifestation der Schönheit nichts erkennen. Sie kümmern sich nicht um Bedingungen ihrer Evolution, essen zu viel Süßigkeiten, aber auch zu viel Fleisch, es gibt eben zu viel von allem. Die Menschen machen sich selbst zu hässlichen, ungesunden Wesen.

Athene: Die Menschen hören nicht mehr auf die Götter, allenfalls noch auf dich, Dionysos, denn du predigst ja den Genuss.

Dionysos: Aber nicht den schrankenlosen. Ich bin für den Wechsel von Arbeit und Genuss. Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste, so hat es der Pantheist Goethe, der uns wohl am allerbesten von allen Dichtern verstanden hat, formuliert.

Athene: Ich komme nochmals zurück auf den Menschen als Künstler und als Werkzeugmacher. Es ist das Spannungsverhältnis von Homo ludens und Homo faber, von Spiel und Arbeit.

Aphrodite: Gut, dass du das gleich übersetzt hast, Latein gehört zu Minerva, nicht zu Athene.

Athene: Als Verkörperung des Rationalen frage ich mich, warum der Mensch zur symbolischen Darstellung greift, während er doch mit seinen Werkzeugen bestens zurechtkommt. Mit ihnen beherrscht er die Welt. Wozu dann also Symbolik, die auf etwas anderes verweist? Wozu dann Magie und Zauber, wozu Religion?

Apoll: Du bist eben zu rational. Die Gehirnentwicklung hat es mit sich gebracht, dass der Mensch Selbstbewusstsein besitzt, mehr noch, dass er gedanklich in der Zeit nach rückwärts und vorwärts reisen kann. Bei der Reise zurück entsteht die Frage „Wo komme ich her?“, bei der Reise in die Zukunft fragt sich der Mensch „Was wird aus mir? Was ist nach dem Tod mit mir?“ Das heißt, der Mensch, jedenfalls der moderne Mensch, wie es ihn seit vierzigtausend Jahren gibt, geht über sich, über sein aktuelles Dasein hinaus, er transzendiert sich. Das ist die Wurzel der Transzendenz, der Religion, der Suche nach Sinn. Bei diesen existenziellen Fragen helfen bis heute alle die vielen Werkzeuge und Maschinen nicht, die er sich geschaffen hat.

Athene: Das heißt, er greift zur Magie. Magie bedeutet ja, ein Ziel, einen Wunsch zu verwirklichen, ohne den rationalen Weg über die Naturgesetze gehen zu müssen: Fliegen ohne Fluggerät, ewiges Leben ohne Genumwandlung, seine Zukunft durch irrationale Praktiken beeinflussen, sich andere Menschen durch Zauber gefügig machen. Ob dieses magische Denken jemals aufhört? Heute müsste doch jeder Mensch wissen, dass alles naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gehorcht. Kein aufgeklärter Mensch dürfte mehr magisch denken.

Apoll: Psst! Nicht so laut! Wenn die Menschen nicht mehr magisch denken, gibt es uns auch nicht mehr. Du kannst selbst die Antwort auf deine Frage finden, wenn du dir vor Augen hältst, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis neue Fragen aufwirft. Die Welt, das Universum im Großen und die Elementarteilchen im Kleinen, wird immer rätselhafter, je mehr man von ihr erfährt. Und der Mensch im Alltag sieht sich tausend Problemen ausgesetzt, die er nicht naturwissenschaftlich lösen kann. Da wird immer Raum bleiben für Magie und Religion.

Dionysos: Besonders für uns Götter, denn wir sind noch recht aus Fleisch und Blut, und den Menschen nahe mit unseren Fehlern von Liebe, Eifersucht, Zorn und Rache.

Aphrodite: Und wir haben nicht die Sorgen der Menschen mit ihrer Sterblichkeit. Wir sind unsterblich, zumindest solange der Mensch nicht nur Werkzeugmacher, sondern auch Künstler ist.

Alle: Denn wir haben ja – Nektar und Ambrosia!

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Azéma, M. (2013). Höhlenkino in der Eiszeit. Spektrum der Wissenschaft, 4, 66–73.

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Zur biologisch-psychologischen Tiefenstruktur 5 des Homo sapiens – Bindung, Geschlecht, Sexualität, Status, Aggression und prosoziales Verhalten

Ordnet man den Menschen in die Tierreihe unter Berücksichtigung evolutionärer Prinzipien ein, so ist seine Tiefenstruktur, d.h. seine biologische Natur, wie bei anderen Tieren auch, zunächst durch das Geschlecht und die Sexualität gekennzeichnet. Der evolutionäre Hauptzweck einer Spezies besteht ja darin, sich erfolgreich fortzupflanzen. Da der Mensch ein soziales Tier ist, wie schon Aristoteles erkannt hat, kommen Merkmale der Meisterung von Sozialbeziehungen hinzu. Zu sozialen Gruppierungen gehört beim Tier stets die Herausbildung einer Rangordnung, die jedem Mitglied des Sozialverbandes einen Status zuweist. Auch beim Menschen können wir daher die Bildung von Rangordnungen als natürlich-biologischen Vorgang und nicht nur als kulturelles Erzeugnis erwarten. Das Zusammenleben in sozialen Verbänden erfordert wechselseitig abgestimmtes Verhalten, das den Schutz und den Zusammenhalt des Verbandes sichert. Die ethologische Forschung belegt denn auch an einer Reihe von Beobachtungen in freier Natur und an experimentellen Arrangements das prosoziale Verhalten von Tieren, die in Verbänden leben. Auch der Mensch muss daher prosoziales Verhalten, Hilfeleistung und Unterstützung nicht erst lernen, sondern besitzt eine biologische Basis dafür.

Eine Spezies kann andererseits nur überleben, wenn sie sich gegen Angriffe wehren kann und Nahrungsbeschaffung, sofern dies nötig ist, durch aggressives Verhalten absichert. Aggression zeigen soziale Tiere gegenüber anderen Gruppen ihrer Art, die das eigene Revier bedrohen oder vorhandene Ressourcen streitig machen. Es wäre naiv zu glauben, der Mensch besäße dieses Aggressionspotenzial nicht. Er wäre ohne dieses Potenzial längst ausgestorben. Heute wird diese biologisch geprägte Aggression zu einem großen Problem. Sie gefährdet die Existenz des Menschen und führt dazu, dass Konflikte inadäquat angegangen werden.

In diesem Kapitel sollen die genannten Komponenten unserer biologischpsychologischen Tiefenstruktur näher beleuchtet werden. Es bleibt aber schon an dieser Stelle festzuhalten, dass der Mensch nicht durch diese Tiefenstruktur vollkommen determiniert ist, sondern dass Kultur sowie individuelle Entwicklung diese Ausstattung modifizieren und sublimieren.

R. Oerter, Der Mensch, das wundersame Wesen, 81

DOI 10.1007/978-3-658-03322-4_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014



5.1 Bindung

Als das Ehepaar Harlow (Harlow und Harlow 1962) seine Untersuchung mit dem Verhalten von neugeborenen Rhesusäffchen publizierte und die Ergebnisse in einem Film festhielt, erregten sie großes Aufsehen. Die Harlows präsentierten dem Jungtier zwei Ersatzmütter, ein Drahtgestell, das dem Säugling Milch anbot, wenn er Hunger hatte und ein mit Fell und Haaren ausgestattetes Gestell, das zum Kuscheln einlud. Das Jungtier suchte, nachdem es sich bei der Drahtmutter gesättigt hatte, immer wieder die Stoffmutter auf, um sein Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Geborgenheit zu stillen. Dieses Verhalten bildet die Grundlage von Bindung, die auch bei anderen Säugetieren zu beobachten ist. Katharina Braun und Mitarbeiter (2009) von der Universität Magdeburg trennten Babys von Degura-Ratten (Strauchratten) dreimal täglich eine Stunde von ihren Müttern. Die Jungtiere zeigten extremes Verhalten und reagierten schlecht auf die Lockrufe der Mutter. Die gestressten Tiere bildeten in Gehirnregionen, die für Angst, Sucht und Aggression zuständig sind, zusätzliche Verbindungen.

Bindung hat sich im Laufe der Evolution als vorteilhaftes Verhaltenssystem herausgebildet, das den Säugling und das Pflegetier (im Regelfall das Muttertier) miteinander verbindet. Das Jungtier erhält Schutz und Sicherheit, die Mutter sorgt für das Kind und bietet Zärtlichkeit und Nähe. Wie Bowlby (1969, 1973) gefunden hat, ist dieses Verhaltenssystem mit einem zweiten verknüpft, dem Erkundungssystem. Das Jungtier kann in der Nähe des Bindungstieres explorieren und die Welt erkunden. Beim Menschen hat sich diese Kombination von Bindung und Exploration nicht nur gehalten, sondern noch größere Bedeutung als bei anderen Tieren erlangt. Die heutige Bindungsforschung konnte zeigen, dass sich die Art der frühkindlichen Bindung auf das gesamte weitere Leben auswirken kann. Davon wird in späteren Kapiteln noch die Rede sein. Hier sei nur noch angemerkt, dass Bindungsverhalten eine Universalie ist, die in allen Kulturen auftritt. Kein Wunder, denn Bindung ist tief in unserer Evolution verankert.

5.2 Geschlecht

Lange Zeit wurde in der Psychologie die Auffassung favorisiert, dass Geschlechtsunterschiede bei Interessen, Persönlichkeitsmerkmalen und Handlungsmerkmalen nicht angeboren, sondern anerzogen bzw. sozialisiert seien. Die Geschlechtsrollen würden kulturell festgelegt, weil sie sich in der Gesellschaft als nützlich erweisen, und die Kinder würden durch Nachahmung und Verstärkungslernen (Belohnung des erwünschten Verhaltens) die jeweilige Geschlechtsrolle übernehmen. Evolutionsbiologen und -psychologen können aber zeigen, dass Geschlechtsunterschiede schon vor dem Homo sapiens bei den Vorfahren des Menschen etabliert sind, mehr noch, dass sie sich bei Tieren (z. B. Vögeln und Säugetieren) im Gehirn manifestieren. Die Gehirne der Geschlechter zeigen Unterschiede. Deshalb spricht man auch von Geschlechtsdimorphismus des Gehirns.


5.2 Geschlecht

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