Hingegen pflügten sich andere neugierige Personen, vereinzelt und in Grüppchen durch den frisch ausgeworfenen Grobkies. Den einsamen alten Herrn unter ihnen, ich denke wohl ein Kartäusermönch, der heute einen hellen Kommissars-Regenmantel über der weissen Kutte trug und dessen rötlich-verwaschene Socken in den offnen Sandalen leuchteten wie Storchenbeine, glaubte ich zu erkennen, denn ich muss ihm schon verschiedentlich begegnet sein, erinnerte ich mich doch an seinen Knotenstock, mit dem er soeben in den bunten Kabelschnipsel-Häufchen stocherte, die Elektriker unter jedem Lautsprechermast hatten liegenlassen. Er murmelte etwas in seinen weissen Bart, als er in Betrachtung der achten Mosaikstation verharrte und ich glaubte auf die beträchtliche Entfernung hin trotzdem an seinem Kopfschütteln zu erkennen, dass ihm die Perspektive darin nicht sonderlich behagte. Wenigstens e i n Kenner in dieser geschmacklichen Wüstenei!
10.15. Die poltrigen Rhythmen vom teuflischen Rummelplatz hintern Schloss, die es seit Tagen zum Erbeben bringen, sind plötzlich wie auf eine gemeinsame Absprache hin verstummt; dafür ertönt vom göttlichen Tummelplatz her aus vierzehn Lautsprechern ohrenbetäubender plärrender angelisch gemeinter Konserven-Jugendchorgesang, unterbrochen nur, wenn sich die Verstärker übernehmen und aufheulend protestieren. Wohl die Probemesse, bzw. Messprobe! Gehn wir nochmals hin:
In der Tat liegen sich die beiden Vergnügungszentren nur durch den Bednjakanal getrennt, diametral gegenüber: h i e r die Rummel- bzw. Rumpelspielwiese mit dem Märchen-Karussell für die Kleinsten, dem Fliehkraft-Schwanenkreisel für die Mittleren, der Monster-Wirbelbahn (eine Krake levitiert die in Froschköpfen Verschluckten himmelwärts) für die Grossen und die Gespensterbahn mit Rittern, Tod und Teufeln fürs metaphysische Grausen der Supergrossen. D o r t die Gottesmuschel mit dem Tauftopf für die Kleinen, den Büsserbänkchen für die Mittleren, den Stehplätzen im morastigen Rondo für die Grossen (man levitiert zur Zeit noch in die falsche Richtung), und den Beichtkäfterchen fürs spirituale Abheben der allergrössten Sünder.
Beide Organismen nutzen dieselben Mittel der Faszination und der Demagogie: Ton (Rhythmus, Lautstärke, Dissonanzen, Harmonien), Farbe (Intensität, Polychromie, Psycho-Lösemittel und -edelik), Form (Naturalismus, Verismus, Dramatik, Sentimentalität, Schnulze), Gerüche (Bratendüfte, Zuckerwatte und Backwaren gegen Weihrauch). Beide schlucken unentwegt Geld. Beide nutzen das Motiv der Sündhaftigkeit und des Lasters als Vehikel der Gefühle. Beide sind autogenerativ; nicht weil die einen ihren ewig brummelden Generator betreiben und die andern die ewig brummenden Moralisten, sondern weil das Prinzip der Lust und der Droge bei beiden gleicherweise wirkt: hat Dich das System einmal in seinen Fängen, wirst Du’s nicht mehr los, ja Du steckst unentwegt andere an.
Auch in den Unterschieden berühren sie sich wieder: die einen versprechen Dir Vergessen im Momentanen, die andern dasselbe in der Ewigkeit, aber es sind pure Versprechen. Hie huldigt man Vergänglich-Irdischem, da feiert man das Dauerhaft-Übersinnliche; beides gleicherweise Fiktion. Die einen lassen Dich vom Vergnügungsteufelchen bespringen, die andern suchen Dich mit Engelsgeduld zu überzeugen, vom Fleischlichen abzuschwören. Die Mühe ist gleicherweise vage wie unnütz.
Die Irdisch-Teuflischen und die Himmlisch-Angelischen beargwöhnen, bekriegen, bespitzeln, belauern sich gegenseitig ebenso, wie sie voneinander lernen und die Waffen der Gegenseite abkupfern, verfeinern und schärfen. Wie zwischen den Domänen der Lebenden und Toten der Antike fliesst hier ein Styx, ein Acheron ein Unterweltsfluss: die lehmige Bednja rinnt hier wie üble Trübsal zur Drau. Nur ist ein jeder sein eigner Charon und kutschiert sein Stinkvehikel hin und retour über die Brücke, um von beiden Systemen zu naschen, ihre Segnungen und Flüche zu nutzen, über beide zu lästern.
Jetzt ist Predigt: die Verstärker sind so effizient, dass sich die Priesterworte am Vereinshaus brechen und über Bruchteile von Sekunden getrennt ungeschwächt zurückprallen; ein toller Echo-Dialog mit sich selbst, der um so kurioser wird, je lautstärker sich der Redner ereifert. Wie ich Ivan hole, sich am Spektakel zu belustigen, seh ich, dass er die Hintergrundsmarmorierung über mein ganzes Portrait hinweg gelegt hat und versucht, aus mir eine Art Marmorsphinx zu machen.’ Marmorfaun’ buchstäblich. Nun muss ich den doch noch lesen...
Nymph, ich möchte Dir zwischendurch ein Frühstücks- bzw. Mittagshäppchen zufaxen, damit Du Dich nicht langweilst. Und damit es Dich vielleicht anregt, ein Gegenhäppchen zu fabrizieren, das mir zum geistigen Proviant dienen könnte (Ivan denkt gar nicht ans Kochen, jetzt, wo er die neue reichlich karge Marmoridee ausgeheckt hat!). Bis zum Abend werde ich mich kaum enthalten können, Dir weitere Nachrichten von Ludbergen zu vermitteln; Marmorfaun.
13.00. Kaum war die Messe zu Ende, brandete wieder das Rummelplatzgetöse auf. Es wird bis in die tiefen Nachtstunden so weiterhämmern wie eine Pfählramme. Monoton, stupid, dumpf und entnervend.
Wusstest Du, dass Ludbreg der Mittelpunkt der Welt ist? Nimm einen Zirkel; er erfasst mit einem Schlag den Nordpol, Washington, Caracas, Brasilia, Kapstadt, Rangun und Ulan Bator. Das Zentrum Europas? Absolut: Welchen Kreis durch welche Hauptstadt auch immer Du wählst, immer liegen die wichtigsten im Strahlenkreis der Ludbreger Monstranz: zwischen Hamburg und Messina, Paris und Kiew, Lissabon und Libanon, Madrid, Dublin, Helsinki und Moskau, oder enger, Wien, Budapest, Belgrad (pssst!), Ancona und Venedig, nicht zu sprechen von Frankfurt, Bern, Monaco, Cosenza, Thessaloniki, Bukarest und Warschau. Und liegt nicht Ludbreg auf der Mitte zwischen Koprivnica und Varaždin? fragen die Hiesigen. Auch am Weltraum gemessen, liessen sich interessante Bezüge finden. Aber Ernst beiseite; es gibt – ich weiss es seit gestern Abend – einen Mittelpunkt der Welt mitten in Ludbreg. Die Grossmütter erzählen es seit Urzeiten ihren Enkeln. Einer dieser letzten am Grossmütteraussterben darbenden Enkel erzählte es mir, dem Urenkel des Narrenlobs, prompt, nachdem er Ludbergas Legende gelesen hatte.
Der Punkt, eine Denivellation neben dem ehemaligen Bednja-Bett zwischen oder kurz nach den beiden heutigen Brücken wird als Einstichstelle des göttlichen Zirkels gehalten. Kaum zu glauben! Eine wahrhaftige Legende ohne mein korrigierendes oder fälschendes Zutun! Dass das Parabelzentrum der neuen Heiligblut-Wallfahrtstätte nur wenige Meter flussabwärts liegt (kaum wenig weiter winkt die Kapelle der Muttergottes von der Brücken, Ludbergas Titularheiligtum a.D.!) und dass mit der Schlosskapelle des Wunders und der Stadtkirche, in der die besagte Monstranz bewahrt wird, ein perfektes Kleeblatt oder mit der Brückenkapelle eingeschlossen, ein ebenso perfektes Geviert gebildet ist, mit dem Zirkelloch Gottes zum Zentrum, dem Auge der Trinität oder einem geometrischen Tetramorph zum Gravitationsschwerpunkt, geht mir erst jetzt auf. Ein Wunder, wenn sich an einem so neuralgischen Ort kein Wunder ereignete! Ich werde die Gebeine Ludbergas zum Nabel der Welt umbestatten müssen; ihre Wirkung würde sich vermutlich steigern, wenn sie nicht allzu sehr von der HB-Wallfahrtsstätte überschattet würde (die mageren militärisch aufbajonettierten Bäumchen werden allerdings noch lange keinen Schatten werfen...).
16.15. Ivan holte, des eignen Kartoffelbratens leid, zuhaus ein köstliches Mittagessen, komplett mit Suppe und Kuchen und nach dem Tafeln schwafelte man genüsslich über Gott und die kleinere Umwelt und half den Gedächtnislücken mit Wodka nach.
Zum Nachtisch sah man das Ringelstechen von Senj fern, eine 280-jährige Tradition ritterlichen Turniers in historischen Kleidern (wie wir sie im Zagreber Textilrestaurierungsatelier bewundert haben), auf herrlichen Pferden, mitunter aus dem mythischen Lipica. Man sticht einen kleinen Ring mit vier Feldern und einer Punktewertung von eins bis drei (Zentrum) im gestreckten Galopp mittels einer Lanze. Die Konkurrenten tragen ein unbewegliches Minenspiel zur Schau und ihre Husarenmäntel wehen prächtig im Winde eines Spurts über 180 m innerhalb der vorgeschriebenen 13 Sekunden, umjubelt von bunten Kostümen aus der Zeit der Türkenkriege. Ein Augenschmaus im Vergleich zu einem Formel 1-Rennen! Pferd und Reiter eine harmonische Einheit von Kraft und Intelligenz, gezähmter Natur und Eleganz; nichts vom gekünstelten Herrenreitertum oder der Quälerei gehetzter Tiere über Idiotenhürden und -gräben, man spürt richtig, wie die Pferde Spass haben, einen vollendeten Galopp naturgemässer Länge hinzulegen!
17.05. Zurück zum Nabel der Welt, an dem ich mich offenbar von Gottes- und Ludbergas Gnaden befinde und an dessen magische Attraktion ich langsam selbst zu glauben beginne. Sollte mich in diesem gottverlassnen Kaff die heilige Zuversicht ereilen, an der Achse der Welt drehen zu können? Wenigstens heimlich. Heilige Ludberga steh mir bei!
18.15. Meine Erkundungsrunde nach des Weltzirkellochs genauer Lage ist ergebnislos verlaufen, die Angaben des jungen Mannes waren zu ungenau und die Natur hat diesen wohl unstädtischsten Ort der Welt so gründlich eingewachsen, dass man die Orientierung völlig verliert. Die Bednja verästelt sich weiter oben in einen Mühlenlauf, der noch heute eine funktionierende Mühle betreibt, ein verwildertes Inselgebiet dazwischen war einst eine sozialistische Parklandschaft, deren Bänken man es erbarmungslos heimgezahlt hat, in heute nicht mehr genehmen Zeitumständen herumzustehen. Ludbreg hat sich einzig auf seine asphaltierten und geschotterten Innereien orientiert; ein paar Schrebergärtchen halten den Wicken, Winden, Brombeeren und Wachholderstauden stand, über eine modernde Hängebrücke muss man sich wortgemäss hängeln. Nur ungezählten Enten, Hühnern und Gänsen ist’s wohler als den fünfhundert Säuen, die in den ewig geschlossenen Koben allgegenwärtig grunzen. Die Verdörflichung Ludbregs, die sich gestern schon in der Mentalität seiner Würdenträger abzeichnete, das nach dem Weltkriege noch Laientheater, Blasmusiken, Tanzschulen, künstlerische und kulturelle Zirkel besass, scheint unaufhaltbar, trotz aller Industrie, die sich im Weichbild ansiedelte.
Ich werde meinen World-Center-Informanten um eine Führung bitten müssen, sollte ich seinen Namen ausfindig machen. Wenn ich mich zu Anfang des Jahres am Ende der Welt empfunden habe, so gelange ich offenbar zu Ende meiner Mission an den Anfang derselben; fast als sei es an der lourde’schen Schauer-Wand gemenetekelt: Α und Ω. Ist Ludbreg diese Messe wert gewesen? werde ich mich am Ende der hereinbrechenden Kirmes fragen müssen...
An allen Wegkreuzungen wachsen nun Stände aus dem Boden; manche halten schon jetzt irgendwelche Seifenprodukte, Handwerkliches, Schleckereien oder Backwerk feil. Eine Versicherung, eine Bank, eine graphische Anstalt haben bereits ihre Plakate aufgezogen; ganz in der Nähe des gottverlassenen "Putnik" ein rustikaler noch verwaister Brettertisch mit offenbar serbischer – nein, etwas gräzisierender Aufschrift "Hermes-Touristik-Agency, Assurance, Shipping & Banking". Es liegen zwar noch keine Prospekte auf, aber ein Tellerchen Oliven und ein solches mit getrockneten Feigen laden zur Selbstbedienung und baldigem Wiederkommen ein. Die Jugend ist in lärmigen beweglichen Trupps zugegen oder lagert sich an trocknen Grasplätzchen unter den Schlossparkbäumen. Krähenhafte, kopfbetuchte Weiblein streunen mit Rosenkränzen in der Hand und meist in untergehakten Dreiergrüppchen einem irgendwo wartenden Sonntagsbus zu. Ein verwirrter Alter, dessen Gestikulieren man durch Biereinläufe zu beruhigen sucht, will, wie man mir eben sagte, im Morgengrauen einen nackten Reiter durch die Bednjasenke haben preschen sehen, der mit dem Leib des Rappen verwachsen gewesen sei. Das Gelächter der Umstehenden irritiert den Ärmsten so, dass mir sein Zustand aufrichtig leid tut; warum soll er nicht an seine Vision glauben dürfen, au nom de bleu! Reiter sind hier beileibe nicht so selten und von Kentauren habe ich schliesslich selbst schon gefaselt, wie Du Dich erinnern dürftest.
Auf unserem Rummelplatz – es gibt vierhundert Meter zur Hauptstrasse hin einen zweiten, mit Schleuderschaukeln, Glücksangeln, Slot- und Electronic-Buden – ist das Scooter-Fahren noch immer die grösste Attraktion. Für einen Augenblick beobachtete ich das wohl einzig wirklich hübsche Mädchen der Region. Sie sass, ein originelles Tuchkleid um Hüfte und Oberkörper geschlungen, mit fliegenden, prächtigen Haaren hinterm Steuer, eine etwas einfältige und völlig verängstigte Begleiterin mit Kraushaar, überstarken Lippen und trotz der Sommerabendwärme hochgeschlossener Bluse über engen Hosen neben sich. Kaum hatte mich der alte Jagdtrieb durchzuckt, kaum um die Spiegelsäule gespäht – weg waren die beiden; ich hatte nur noch den geniesserischen Jauchzer der Schönen im Ohr, als sie einen Tölpel mit abstehenden Ohren zuschandenrammte. Sie müssen das Areal durch den bereits eingedunkelten Park verlassen haben; mir gelang nicht, sie wiederzusehen und ich trollte mich resignierend in die Küche zu Ivans Kaffee und Kuchen.
Ich weiss nicht, ob Du mit so pausenlosen Lageberichten gefüttert werden willst; es sind halt alles banale Alltäglichkeiten. Faun.
(100) Ludbreg, Montag 28.8.1995; 6.35;
Nymph,
grauer Montag, graue Flausen im Kopf. Muss die nächtlichen Tele-Chimären austreiben: die Bilder von Soldaten und zerschossenen Häusern, von Tudjman in weisser Generalsuniform die kroatische Fahne küssend etwa, die immer wieder und wiederkehren. Es geht mir auf, dass Diktatoren, wenn sie in der Öffentlichkeit auftreten, immer weisse, oder zumindest helle Uniformen tragen: sie demonstrieren damit wörtlich ihre weisse Weste. Das Repetitive ihres mediengenehmen Auftritts ist nichts anderes als die Propagation etwa eines Waschmittels, das noch weisser wäscht, schonender und sauberer. Am Ende glaubt ein jeder an die Suggestion und die dargestellte Person hat sich ebenso gut verkauft wie eine Zahnpasta. Mit genügender Notorietät wird jede Lüge zur Tatsache, jede Legende zu Geschichte, jede Schummelei zu Moral. Siehe Ludberga.
12.30. Es regnet ohne Unterlass; was mich zwar nicht schert, aber Željko hatte das Dienstwagenfester offen gelassen und als ich mit Velimir ins "Petit Paris" zum Essen fuhr, weil ersterer diese Woche vor lauter Arbeit nicht kochen kann, war ich auch von unten her durchweicht. Wir räumen nun die Restaurierungsausstellung im grossen Saal ein; aber unsere Selbstbeweihräucherung mangelt der Highlights. Ich kratze noch immer hinter Darvin her, damit man seine Ferkeleien nicht so merkt. Langsam bekomme ich allerdings den Gefängniskoller, obwohl es mich aus meinem Schloss nicht sonderlich heraustreibt; nach meinem Streifzug gestern weiss ich zu gut, was mich erwartet. Nicht mal ins Konzert muss ich nach auswärts; es kommt zu mir heute Abend um acht und ich hatte schon den ganzen Nachmittag Generalprobe (Pachelbel, Bach, Franck, Händel u.a.; Streicher und Klavier mit einer beachtlichen Stimmgewaltigen von kaum zwanzig Jahren) unten in der Kapelle. Ich werde wohl vom Balkon aus zuhören und brauche mir nicht einmal einen Anzug überzuziehen, abgesehen davon, dass ich von meinem Schwalbennest herab die beste Akustik geniesse.
Am Wochenende kommen nun doch recht viele Münchner; ausser Sieglinde, Echterding, Thomas und Weilhammer auch Langenstein, Cristina und der Chemiker Herm, mit dem sie befreundet sein muss, wenn E. ihn mit ihr ins gleiche Zimmer einquartieren lässt. Kabalen gibt’s! Hier munkelt man, Andrew habe sich vernaschen lassen. Hab ich’s mir doch gedacht; ich kann mir recht gut vorstellen, wie das gelaufen ist... Ivan ist ein so guter Beobachter; was sein psychokritischer Blick so alles sieht! und mir natürlich weitererzählt! Nur von Željkos Bekehrung weiss er noch keine Details, so sehr horchte er, wie dessen Hörner wuchsen...
Unsere Pariserinnen kommen erst heute Nacht aus Budapest zurück und wollen wieder abgeholt werden; soll Ivan mal gehen, ich bin doch kein Taxidienst.
Unser Touristikmann Nofta bringt mir den Prototyp eines in der Tat sehr handlichen und gefälligen Weinbechers, den er mit einer Töpferin, als typische Ludbreger Keramik nach lokalem mittelalterlichen Vorbild produzieren will, für eine geplante Schenke und als Souvenir; natürlich soll er "Ludbergas winecup" heissen und den Ruhm unserer Weltstadt künden; als Behang des neuen Mittelalter-Weinkellers hat er vor, ihre Lebensgeschichte in einem Teppich von der Art dessen in Bayeux wirken zu lassen! Ich denke, bald muss ich Ludberga patentieren, sonst stiehlt mir noch jemand die Show und wer findet ein authentisches Dokument über sie. Inzwischen könnte man bald sagen "se Ludberga non è vera, è ben trovata". Wie lang muss man noch warten, bis es das alljährliche Ludberga-Turnier in Vollrüstung zu Pferde, den Ludberga-Frocky-Cup der Hinterschloss-Fussballer im Mönchskuttenlook, die Ludberga-Hymne "Holly Halleludberg", eine ‘Ludbergina ulica’ mitten durchs Disko-quartier, die Ludberga-Mission zur Bekehrung legendärer Ungläubiger, die Ludberga-Dudelsackkapelle, und ein Dutzend Ferntourismus-Busse der Ludberga-Holy-Tours-International vor dem ‘Ludbergas World Center-Holytel’, den Luberga-Jail für Unglaubwillige und Gläubiger und die Ludothek für Metaphysiker, Mediävisten und Meditierer. Schon hat mir Ivan den Spitznamen "Blutberger" verpasst, was ich mehr als blutrünstig finde, ja geschmacklos; je mehr ich protestiere, um so lauter lacht er faunisch. Faun, Deinster.
(101) Ludbreg, Dienstag 29.8.1995; 6.20
Nymph,
Die Morgennebel über der Bednja waberten über die Brücke hinweg, aber der Himmel hat sich blaugeweint und die kleine Gottes-Satellitenstadt liegt in verträumter Farbenpracht um ihre Kieswege. Jetzt leuchten nachts auch wieder die beiden ewigen Fanale. Die vierzehn Schaubuden haben mir heute beim Aufwachen eines ihrer fundamentalen Geheimnisse preisgegeben (ich fuhr blitzartig in meine Kleider, darum die frühe Morgenzeit!):
Jede müsste einem der vierzehn Nothelfer zugeeignet sein! Warum fällt mir das erst jetzt ein? Bei 100 000 Pilgern brauchts doch eine funktionstüchtige Nothilfestation mit Spezialisten für jedes Leid! Die Anlage besitzt diese parabolische Vor- oder Auffahrtsschleife, damit die disparaten Unfälle, bzw. Fälle vom Oberarzt persönlich empfangen, untersucht und an die Fachärzte weiterspediert werden können; diese warten in ihren Kabinetten, bzw. Kabinchen und übernehmen die Patienten, oder schicken sie zum Kollegen, wenn sich zeigt, dass die Diagnose nicht zutraf. Die farbliche Unterscheidung der Stationen dient als Orientierungshilfe für Lese-, Orts und Ikonographie-Unkundige und als Gedächtnisstütze für den Grossen Guru selbst, der ja schon einige Jährchen auf dem Buckel hat und auf die Entfernung sein Stabsgesinde nicht immer so genau identifizieren kann. Ihre Abfolge hat er alphabetisch angeordnet in Schreibrichtung: deshalb steht an der "Rezeption" links Α und rechts Ω, also genau wie am Bahnhofschalter "ulaz" und "islaz"; für die des Kroatischen nicht mächtigen Schweizer verwirrend, weil sie fälschlich I-gang und U-sgang memorieren und prompt in der falschen Richtung anstehen; aber die Schweizer schwimmen ja ohnehin immer gegen den Strom (in B. lernt man das in der Aare schon von Kindesbeinen an). Jeder Diagnostizierte bekommt am Haupttresen nach Aufnahme der Personalien und Abgabe der Spendenkaution ein farbiges Kärtchen, das dem Patronat seines Wehs und der Farbe seines Heiligen-Pavillons entspricht (Hysteriker, Simulanten und Hypochonder bekommen gegen entsprechendes Aufgeld auch mal mehrere); dann beginnt das grosse Schlangestehen vor den Nebenschaltern der monumentalen Dispensary: Achatius, Ägidius, Barbara, Blasius, Christophorus, Cyriakus, Dionysius, Erasmus, Eustachius, Georg, Katharina, Margarete, Pantaleon und Vitus.
Mit dem letzteren hab ich's offenbar besonders: um das Ausstellungsgut mit Objekten "vor der Intervention" zu bereichern, da ja nicht genügend "nachher" vorhanden ist, holte ich aus dem Depot ein kaum erkennbares, teilweise zerfetztes Gemälde aus Klanjec, putzte ein aufsehenswürdiges Fenster heraus und entdeckte, dass der Maler mit „Seidel“ und „1863“ signierte, was haargenau dem von uns so liebevoll restaurierten Auszugsbild mit dem frommen Vitus in seinem Kochtopf entspricht. Seidel war wohl auf Vitusse eingeschworen; Klanjec liegt weit über hundert Kilometer von Šišinec entfernt, da hat man nicht merken können dass Seidel nur Siedheilige malte; vielleicht huldigten andere dreizehn Kollegen je nur einen der obigen Patrone und hatten so ein gutes Auskommen mit dem Einkommen aus der Nothelferbranche.
Hatte ich nicht mal einen Spruch fabriziert, um die 14 Nothelfer zu behalten? Du musst den Spickzettel irgendwo aufbewahrt haben; oder war's Dein Münchner Notizheft? bitte schicke mir den Wortlaut, damit ich ihn hier weiterverwenden kann. Für die Rekapitulation der neun Musen ist mir jener alte Eselschwanz "Klio-Mel-Ther-Thal, Eu-Er-Ur-Po-Kal" immer sehr nützlich gewesen.
Gestern abend verlor ich den Übelkeitswettbewerb; Ivan simulierte besser als ich und so fuhr ich halt nach Koprivnica, um zwei völlig vom verregneten Budapest erschöpfte Musen nachhausezukarren, denen man Daumenschrauben ansetzen musste, um über ihre angetrübten Erlebnissen etwas zu erfahren.
Jana, die ich auf dem Wege zum Parteiessen Freitag Abend zum letzten Male bleich und verstört unter ihrer Türe gesehen hatte (und nicht realisierte, dass ihr bulliger Mann neben ihr stand), ist seither verschwunden. Ihre Habseligkeiten sind abgeholt, die Miete unbezahlt, der Schlüssel nicht zurückgegeben. Sie fehlte Montag unabgemeldet (obwohl sie wissen muss, dass wir ihre Hilfe dringend für die Ausstellung benötigen) und sie ist auch heute nicht da. Venija, die ihr die Wohnung einer Freundin vermittelt hatte, ist sehr beunruhigt und Ivan rät, nachdem wir ergebnislos im Krankenhaus, in Zagreb und Istrien nachgefragt haben, die Polizei zu bemühen.
Ich werde heute Nachmittag unsere Französinnen ins Retouchierhandwerk einführen müssen, um unsere Altäre hinreichend passabel hinzukriegen; denn Samstag früh wird ein grosses Gekakelt zwischen Zagrebern, Münchnern und Ludbregern über unser aller Zukunft stattfinden und auf ihnen werden vielleicht unsere letzten Illusionen geopfert werden müssen (Geld aus Deutschland, Unabhängigkeit von Zagreb, Funktionsniveau unserer Institution).
Eben, 16.20 – ich war auf Ivans Diwan eingenickt – ruft der Bürgermeister an, morgen um fünf müsse ich den Finanzminister Kroatiens empfangen, der sich für den bayerischen Kredit interessiert; ein Lichtschimmer?
Draussen umlagern das Schloss immer mehr Karusselle, Wohnwagen und Lastzüge der Fahrenden. Wie sollte ein Kind je alle Karussells durchproben, ohne mit einer Hirnerschütterung zu enden? "Drüben" sind die letzten zwei Mosaiken eingebaut, die 14 Kasperltheater fertiggemalert und die Lampenständer je mit einer plumpen Riesenkugel aus Aluminium und Glas bekrönt; wohl die Reste derer aus den Sozialismusjahren, die man auf den Hauptstrassen Ludbregs soeben durch schnickschnackere Dreierkombinate zu ersetzen sucht.
Eine nervöse Emsigkeit spürt man an allen Wegkreuzungen, die sich mit neuen Ständen, Zelten und Kiosken verstellen. Allgegenwärtig nüchterne Plakatständer, die mit heillosen Blocklettern zum Ludbreger Heiligen Sonntag einladen Das Sumpfparadies unter der alten Brücke will man noch schnell mit Aufschüttungen "sanieren" und die gottlob geschonten Birken lugen ängstlich aus einem Kragen ungefreuten Baumülls. Vielleicht will man bis Samstag noch künstlichen Rasen auslegen und die riesigen Regenlachen mit Staubsaugern ausschlürfen? Ein dünne Tujahecke zur dereinstigen Sichtabschirmung des Bahndammes hat man schon gepflanzt, das Schnaufen, Prusten und Heulen des Ungetüms von Lokomotive wird man indessen während der Messen kaum mildern können; der Zugführer macht sich seit Tagen zusätzlich den frommen Spass, beim Kreuzen von Holyland laut mehrfach zu pfeifen (vielleicht ist er einer der vielen arbeitslosen Kunstkritikusse, die selbst der männermordende Balkan überproduziert?). A propos, eine vielleicht ebenso arbeitslose Gabriele Henkel hat sich nicht entbrochen, mit milder Herablassung auf unser Venus-Epos herabzublicken und den Autor zu bevormunden (s. Beilage, eine Sendung von Echterding).
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