gerbduL’s Topographie Meine Vorstellung von Ur-Antipodes ist folgende (niemand sei gehindert, eine andere zu haben, denn, wie wir festgestellt haben, wandelt sich dessen Bild mit der Stirn, die es erdenkt; ich biete Dir lediglich einen Denkvorsprung an, d.h. helfe einem etwaigen Konzept Deinerseits auf die Sprünge, Dich zu gegebener Zeit dorten mit einer erleichterten Orientierung ergehen zu können):
Die Antipodravina von etwa 14 km Durchmesser, 144 km2 Fläche und 44 km fast hafenloser Zirkumferenz ist nahezu kreisförmig, an den Rändern von welligen Höhenzügen umgeben und wird von den Mäandern eines von Südost gen Nordwest fliessenden Flüsschens, der Antidrava durchzogen, deren Verästelungen kleine Tümpel und Seen bilden, deren bunte Kiesufer von Schilfen, nedieWen und nekriBen umstanden sind, aber auch von anderen, mir gänzlich fremden Gewächsen und Bäumen, die eine Urururzeit hier gedeihen liess, bevor die Anliegerkontinente abgedriftet oder gar, wie Atlantis, untergegangen waren. Antiludbreg oder kurz gerbduL, wie es die ersten Kolonisten zärtlich benamten, nachdem sie mit relativ freundlichen Gesten die Ureinwohner, die maorischen aivoIier (rassisch nicht verwandt mit den Ureinwohnern Ostchinas und Japans, den Ainus) in die Hinterwälder und an die Küsten komplimentiert hatten, ist, versteht sich, der einzige urbane Mittelpunkt dieses kleinen Universums. Er liegt um einiges diesseits (sofern wir zum Südpol der Erde blicken) des grösseren Gewässers, an den Auen eines Zuflüsschens, der fischreichen und glasklaren Antibednja, deren ebenfalls freikurvender Lauf die schönsten Süsswasser-Biotope des Pazifiks bildet. In einer elysischen Umgebung, in denen die Pinsel der Antinazarener, der Antiraffaeliten und Puvis d'Anti-Chavannes die zartesten Urstände hätte feiern können und die auch von einem Südseepilger wie Gauguin nicht verachtet worden wäre, hatte man als erstes eine wohlgeschwungene Hänge-Holzbrücke von der Anmut Hokusais gebaut, um den blinden Antipassagieren, die von den ersten Auswanderern Ludbregs wie glückverheissende Talismane mitgebracht worden waren, ein Obdach bzw. Unterstand zu bieten. Erst dann beeilte man sich, unzählige schilf- oder strohbedeckte Weinberghäuschen an die Hänge zu nisten, in denen dem Wachsen der Reben zu lauschen, die den ersten grebduLer Delikatess-Antigrasevino tragen sollten, in willentlichem Verzicht auf den Anbau von Nektar und Ambrosia (die ersten Etiketten des köstlichen, der Welt sauersten "grebduLer Nektarsch" auf mundgemaltem Bütten mussten eingestampft werden, weil als unzüchtig missverstanden und weil "von Oben" ohnehin das deutsche Urheberrecht eingeklagt worden wäre). Die ersten nennenswerteren und zivilisierteren Ankömmlinge waren von den Barbaren frischgemordete ioviale römische Legionäre gewesen, die man beim Kartenspiel im Laubad überrumpelt hatte, die zerhauen waren, noch ehe sie ihre Stiche ausspielen konnten und die bequem fast senkrecht den Tunnel zum Aldilà nahmen, weil man in Verkennung der Wahrheit über Gottes immer dampfendes Zirkelloch die Thermen Iovias darübergebaut hatte. Die Antilegionäre stellten in der wachsenden Agglomeration denn auch die erste Kaste der gerduLer Gralshüter oder Antentempelwächter, die das neue Forum um den heiligen Muttermund herum, aus dem die frischgebacknen Bürger herausblubberten, in gravitätischem Stechschritt tags wie nachts umschritten und nur beim zeremoniellen Wachenwechsel und Ehrenparadieren zu Schreiten einhielten. Aber ich greife vor, denn ehe die gerbduLer ihr Antiforum in Schachbrettform mit Basalt aus den östlichen Antihista-Minen und weissem Speckstein aus den nördlichen Antipheta-Minen auslegten, musste man sich über die Anlage der Stadt als Ganzes einig werden. Drei Gruppierungen um berühmte Architekten selig kämpften um den Ruhm des Zuschlags auf ihr Modell: erstens die Antiklassiker oder Antischinklianer, dann die Antibetonisten oder Anticorbüsigen und schliesslich die modernistischen Antipöstler von der apostolischen Baukommission, die sich auf den Wunsch eines intervenistischen holyländischen Papstes hin, dessen Namen ich nicht preisgebe, im kollegialen Team vom Markuscampanile werfen mussten, um in die engere Auswahl zu gelangen. Der friedliche Streit dauerte ein Jahrhundert, bis man den Stein des Anstosses zu einem des Kompromisses umbehauen hatte.
– 20.00. Nymph, bester, schnell mal Pause. Heute morgen, zwischen der morgendlichen Aerobic-Hoppelstunde und dem Bericht über eine Art kroatischen Bruno di San Michele, der in seinem psychoidyllischen Garten das Paradies mit jeglichem linnéschem Getier gemäss dem Sündenphall aus heimischen Erden knetete, – brachte das erste kroatische Fernsehen in der Sendung "Dobro Jutro Hrvatska" in tierischer Ernsthaftigkeit Elija Rijeka am Schreibtisch in Faxoskripte und Ludbergas Rockschösse vergraben, beim Restaurieren, beim Weltkarten blättern, im Sumpf am Mittelplumps der Welt watend, im Schilf die Quelle entzündend, am Florianstor das Antimonument in den Untergrund fuchtelnd und so fort. Heiteratei. Dideldumm.
Ludberga ist also in der Nationalliga. Ich werde sie weiterkicken. Bis zum Goal im Gully der Welt!
Nur: wer sieht denn schon um halb neun fern!? Zum Idol frustrierter Hausfrauen zu werden, weil der Staubsauger kaputtging oder der Briefträger noch nicht zweimal geläutet hatte, oder weil das rotviolett-gelbgrüne Aerobic-Trikot im Hintern geplatzt war – gottbewahr! – war’s wahr? S'war wahrlich kaum meine Absicht!
Also ein Sieg im Mönchstrab? Eine Pyrrhus-Schlacht gewonnen, ein voller Zug aus halbem Glas?
Noch haben wir nicht April-April-April gerufen, vor den bekennenden Ludbergern, die einem auch die dümmste Wahrheit abnähmen, wie Ivan schwört.
Auf, in die Küche, dort harmoniert er mit Xenia, die mit ihm aus vollem Halse singt, dass die Kochtöpfe Israels scheppern und das paradiesische Abendmahl anbrennt.
Der Zeiger kriecht auf Neune, soll der Magen noch eine Spanne warten, denn vielleicht, vielleicht klingelt das gebeutelte Telefon oder klickert gar was im geizigen Sparbüchschen...
Wenn’s Dir in gerbduL gefällt, mache ich öfters Ferien mit Dir in seinen schildbürgerlichen Mauern. Küsschen, Faun. 21.30. Ärmster Nymph, stehst seit bald vier Stunden in der Kälte und kannst nicht in Deine Wohnung! Ich bin untröstlich. Meine Seitchen, sollten sie je noch heute abend ankommen, werden Dir s o gar keinen Spass machen!
Aus dem Abendmahl wurde nicht einmal ein antipodisches Antipasto, weil die beiden vor lauter Singen das Kochen aufgegeben haben. Auch gut, ich wollte ja ohnehin heute fasten, sagte der Fuchs zu den sauren Trauben.
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Dich weiter zu unterhalten, in der Hoffnung, Dein Antichambrieren bringt Dir nicht eine Erkältung ein. Dass man Dir auch nur einen Schlüssel gab! Aber wie kamen wir denn damals hinein? als ich beim Bäcker Brot holte usw.? Wessen Schlüssel war das?
Heute schrieb ich an Echterding meinen Jahresrapport. So kurz wie schnurz. Ich hasse diese Berichte, die niemand liest, bestenfalls für Schubladen und Leitzordner gedacht sind, die Wände, Keller und Estriche vollstehen, bis sie ein gnädiger Krieg, eine Frühlingsputzete oder ein Zimmerbrand hinweghebt.
Ansonst hat sich das Haus wieder etwas geleert; es nikolaust und weihnachtet auch hier bereits. Die Zagreber ziehts an die heimatlichen Ofenbänke. Ich werde zum Mittagessen meines Abreisetages etwas Sehenswertes kredenzen müssen, damit man mich in guter Erinnerung behält, bis ins nächste Jahr. Seit Mittag ist Ludbreg weissgeschneit; eine verzauberte Stille liegt im Geäst der Schlossbäume und man hat das Gefühl, es würde nimmermehr Sommer werden können. In Italien ist der Winter immer nur etwas Provisorisches, das man nicht ganz ernst nimmt. Hier hat er etwas Herrisches, Rigoroses, Definitives, das Schaudern macht. Ich bin froh, ihm entkommen zu dürfen, übermorgen, um in V. zu verschnaufen; allerdings traurig ohne Dich und nur für wenige Stunden. Dazu die Ungewissheit, von Dir etwas zu hören, wann und wo. Nur die Vorfreude auf einen Abholminnedienst in F. wärmt den Busen. Wann, schmucker Nymph, entlässt man Dich unter den Christbaum?
Ich sehe mit Entsetzen, dass Du noch immer nicht in Deine Klause gelangt bist! Kannst Du nicht den Hausbesitzer anrufen, der doch in der Nähe wohnen soll?
Lass Dir die kalte Nase küssen, armer Nymph und Dich warmstreicheln...Faun.
(149) Ludbreg, Dienstag 5.12.1995;6.30;
Nymph,
wenn ich gestern über Mitternacht hinaus auf Dein Dich erlösendes Sesam wartete, mir zu verraten, dass Du die eigne Festung hast erstürmen können, so war das für mich geradezu ein Geschenk; denn ich erlebte etwas, das ich kaum für möglich gehalten hätte: Ivan und Xenia sangen und musizierten noch in der Küche, als Du anriefst und sicher hörtest; später legte Ivan die Ziehharmonika, als sei sie ihm behinderlich, zur Seite und dann sangen sie Dutzende von Liedern, immer verinnerlichter, im Duett oder Solo und kannten die Texte, die Melodien der verschiedensten Herkunft und des lokalsten Kolorits. Sie sangen sich gegenseitig an, oft mit geschlossenen Augen, zuweilen bis zu Tränen gerührt; sie sangen sich die Seele aus dem Leib, wie das kaum ein Mitteleuropäer noch könnte; sie sangen sich in eine unbeschreibbare Wonne hinein, an der man nur wie ein ausgeschlossenes Kind teilnehmen konnte und fürchtete, das verführerische Gespinst von balkanischen Harmonien durch eine ungeschlachte Anwesenheit zu zerreissen. Ich verstand, was Du kürzlich von der Musik "aus dem Bauch" sagtest: hier war archaische, unmittelbare, echte Musik ohne jedes künstliche Hilfsmittel, veräusserlichter Urton. Mir schien, als sängen dort zeitlos Adam und Eva persönlich, noch bevor es die Sprache gab; sie sangen, als gäbe es weder Zeit noch Ort. Ivan wurde wieder jung wie ein panischer Naturgott und Xenia wurde zu einer Hermaphroditin ohne individuelle Eigenschaften. Irgendwie sträubten sich mir die Haare vor so viel Ausgezogenheit der Seele, dass ich ein Glas Slibovic hinuntergoss und eine Zigarette inhalieren musste, um nicht davonzulaufen. Zum Finale, nahe an der Erschöpfung und der Heiserkeit, nahm sich Ivan die Handorgel wieder vor und beide boten sich eine Aubade, dass man das Schloss mitsamt Batthyánis kopflosem Gespenst zu beben vermeinte...
Bei Ludbergen angelangt, war das Hotel dann bereits ohne Licht und lebende Bewohner und wenn ich nicht eine unverschlossne Hintertür zum Einsteigen entdeckt hätte, wären wir nun unsererseits draussen im immer dichter sich herabfederbettenden Schnee verblieben, wie Du vor Deiner Tür.
15.35. Unser Orpheus lockte mir meine Leute schon wieder an die Kaffeetränke: in der Küche sirente und örgelte es, obwohl ich heute nörgelte, es ginge nicht mehr weiter so mit dem Bummeln und Schummeln; ein Drittel der nutzbaren Zeit ginge inzwischen beim Schwatz drauf und im Neuen Jahr müsse eine Küchenordnung eingeführt werden; da waren die Geschreckten so bestürzt, dass sie alle erst mal einen Kaffe brauchten. Ich tat desgleichen, um mich von meinem vorpreschenden Vorwitz zu erholen. Darauf fiel die Mittagszeit über uns her, wo man unseren Müssiggang erneut ausgiebig bekakelte; als ich mich nach langem, angemessenem, katzenpfotigem Zögern nach dem obligaten Schlusskaffee als erster zur Arbeit stahl, musste Ivan die Zurückbleibenden mit einer Tuschserie aus dem walzernden Bandoneon wieder emporrichten...
Ich glaube, der Schnee erschöpft sie alle so steinerweichend: der fällt und fällt und der Schlosspark wird ein Märchenbild. Schadenfreudig lacht man über mein Ansinnen, nach Venedig zu gelangen; in Slowenien schliesst man eine Bergstrasse nach der anderen. Wie bin ich froh, über meine neuen Reifen... 17.35. Die zeitweise bezopfte Hünin Carmen, eine unserer Neuankömmlinge, wirkt etwas verklemmt und verschroben, trägt aber zur Zeit die einzigen zutreffenden Schuhe: unförmige Stollenskischuhe der Fünfzigerjahre, würde man meinen. Sie restauriert ebenso polterig, wie sie etwas abwesend blickt, scheint im Kerne jedoch gutherzig zu sein; sie pompert und kehrt von den Wochenenden in Zagreb wie aus dem Hochgebirge zurück. Carmen führte mich zu einem kleinen Laden, wo ich nach Herzenslust achteckige Gläser kaufte; ihre schlechtversteckte Verlegenheit löste sich erst, als ich ihr das Geständnis entlockte, dass man ebenhier einen Gläsersatz für mich als Weihnachtspräsent erstanden hätte; so kaufte ich denn die übrigen 8-eckvarianten zu Geschenkzwecken auf.
Nymph, da ich morgen nach dem Mittagessen gen Venetien schlingere, wird dies hier wohl die letzte Zeile vor der grossen Schreiblücke und wohl auch vor dem langen Schweigestottern, das da anbricht... Küsschen auf Vorrat! Faun. ___ ___ ___
(150) S.M., Donnerstag 7.12.1995; 17.00
Nymph, fernster,
von der molligen schwarzen Katze freundlich begrüsst, fand ich das Haus dahinschlummernd, aber ausgekühlt und was schlimmer war, unheizbar, weil die Umwälzpumpe demontiert und auch sonst kein Holz mehr da war, im Kamin zureichend anzufeuern. V. hatte ich um elf verlassen und stand um halb vier vor Paul Wiedmers verlassnem Haus; in einer öffentlichen Telefonzelle erfuhr ich, dass auch heute das Anrufen bei Dir vergeblich sein würde, geschweige das Übersenden meiner sechs letzten Blätter (mitunter Seite 300!) ...
...
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(151) Ludbreg, Mittwoch 10.1.1996; 19.10
Nymph,
wie Du am obigen Datum siehst, unterbrach ich vor über einem Monat meiner Worte ungehemmten Rijeka; nun sitze ich wieder am abendlichen Schreibtisch, nach sieben Stunden angestrengten Fahrens durch verschneite Landschaften, im klammen Ludbreg mündend, wo es zu tauen anhub und die Pfützen über die Knöchel zu steigen begannen. Mein neues Radio, von kundiger Hand noch in M. eingebaut, unterhielt mich wenigstens mit Gitarre, Klavier und geistreichem Gestreiche; sonst hätte mich die Melancholie fortgeschwemmt. Die graubraun gehäufelten schmutzigen Strassenränder, die ewig verschmierten Scheiben, die monoton in Nebel gehüllte Strassenflucht und die Aussicht auf Monate künstlicher Einsamkeit wollten die Reise nicht enden lassen! Im Schloss war nur noch Bojana, doch kam wenig später Ivan mit atemstockenden Neuigkeiten. Darvin hat nach wohl entwürdigenden Gesprächen mit den Zagrebern seine Demission eingereicht und wird in zwei Monaten in seine private Werkstattfirma überwechseln. Nächsten Montag soll die Stunde der Wahrheit vor Mendel und Vrkalj läuten und die Kröpfe geleert, die Zukunft neu geplant werden. Mir schwant da allerhand Unheil, kannst Du Dir denken! Des weiteren hat sich gestern Željko privatim an der Heimwerkerkreissäge die linke Hand zersäbelt, dass man die durchgetrennten Sehnen nähen musste, ein Teil der Hand gefühllos bleiben wird und er zwischen sechs und zwölf Monaten arbeitsunfähig ist. Er war es gewesen, der meine Einwände, die Sägesicherungen strikte zu verwenden, fast höhnisch zurückgewiesen hatte... Ivan führte mich in der Folge vor ein verhülltes, etwa einen Meter messendes Monument, das er von Tüchern und Folien befreite und in Erwartung meines bedingungslosen Lobes als ‘Ludberga’ vorstellte. Die gute ist seine erste Figur in Ton und es ist zu hoffen, dass er an ihr noch allerhand übt... Noch ist sie etwas ältlich und grämlich, hat Riesenfüsse, aber winzige Hände, den brustlastigen, rachitischen Oberkörper eines indischen Wasserträgers und das faltenreiche Gewand mangelt der Logik, zumindest aber der Eleganz. Ich werde wohl mit sanfter Kritik an Ludbergen herumhobeln müssen, bis sie brautfähig bzw. florianswürdig ist.
V.Imhoff habe ich Vortrag und Dokumente gefaxt; vielleicht tut er was Nützliches, das zugleich seiner Eitelkeit schmeichelt; es geht ja nun darum, unser Institut regelrecht vor den Wölfen zu retten und jede milde Gabe täte unbesehen gut. Mit E. werde ich demnächst noch allerhand zu kakeln haben! Nymph, liebster, soeben habe ich Dich aus der Ferne Germaniens hören dürfen und vieles ist hier ungegenständlich geworden (was ja nicht gleich kubistisch heissen will...). Wie gern würde ich jetzt mit Dir unsere Sandkastenspiele fortführen, in Sandpapieren blättern, Sandkuchen futtern und Champagne sablé anstossen, Sandschlösser bauen und schliesslich das Sandmännchen nach gebührenden Triebsandstürmen bestellen! Meine Unnachgiebigkeit tat mir übrigens schon in Hanau leid und fast wäre ich zähneknirschend (ob des Zahnsandsteins...?) umgekehrt. Doch jetzt, angesichts der Scherben hier, ist’s vielleicht doch besser, die Sandburg zu halten.
So, Nymph, ich trolle mich für heute, bevor ich vor Müdigkeit Unsand verzapfe und küsse Dich für all die unzureichenden und verpassten Male, die ich nun zu bereuen beginne, dem nächsten Wiedersehen entgegendarbend... In Liebe Dein Dich unbändiglich anhimmelnder Sandfloh.
(152) Ludbreg, Donnerstag 11.1.1996; 6.05
Nymph, schlafwandelnder,
um meinen Rhythmus wieder einzurenken, aber auch der Schlaflosigkeit halber, die mir die Dinge hier bereiten, besetze ich das Schloss in nächtlicher Frühe. Es ist laues Tauwetter und die Dächer und Bäume tropfen wie von frischem Schnupfen ereilt. Fast kommt es mir vor, als hätte ich seit Dezember meinen Sessel nicht verlassen und doch droht nun alles anders zu werden: ich scheine auf einem Provisorium zu sitzen und eine im Voraus verlorene Schlacht zu leiten; wie sehr glaubt man doch an seine Illusionen! Ohne Venia, Darvin und den Hausmeister, ohne deutsches Geld und kroatisches Vertrauen ist hier nicht mehr viel Konstruktives auszurichten; überdies ist das halbe Schlossdach abgedeckt und die Planen unter der Schneelast eingedrückt. Bojana erzählt, dass in meiner Abwesenheit die Arbeitsmoral empfindlich eingebüsst hatte und dass selbst Štefica immer später eintraf, Darvin nur jeden zweiten Tag erschien und eigentlich nur noch Kapusta arbeitete. Dass Velimir den Posten Darvins antreten soll, wird nicht viel helfen, ist er doch gar zu wenig motiviert und unkämpferisch, um der Belegschaft Wind zu machen. Alles scheint auf mich zu warten, Wunder zu bewirken: Hokuspokus... 14.30 Zurück vom Krankenbesuch bei Željko, der ganz munter wirkte, ob des halben Jahres Ferien. Sonst und bei Tisch gab’s unentwegtes Diskutieren ob der Zukunft des Hauses. Morgen früh mit dem Bürgermeister eine Aussprache vor dem montäglichen Palaver. Echterding rief besorgt an, kaum hatte ich gerade die Lösung aus der Krise entworfen: Ich werde Xenia als Nachfolge Darvins vorschlagen; zwar ist sie noch jung und relativ unerfahren, doch allen bisherigen Mitarbeitern an Geistesschärfe und Lernfähigkeit überlegen, hat keine familiären Bindungen und keine privatwirtschaftlichen Ambitionen, kommt nicht aus dem RZH sondern aus einem unabhängigen Museum. Nur muss ich sie noch von ihrem tonnenschweren Glück überzeugen, die Ärmste war am Telefon völlig bestürzt. Jemanden aus dem Haus zu nehmen, wäre ungeschickt, weil Reibungen unvermeidlich blieben und ich Velimirs Treue zum Haus nicht traue. Branco aus Split würde kaum kommen, nachdem er glücklich von Zagreb losgekommen ist. Ivan, unser sangesfrohe Hauspsychologe, den ich neben Edita ins Vertrauen gezogen habe, ist hell begeistert und Edita fände die Wahl ebenfalls glänzend. Müssten nur die anderen einverstanden sein, das Regime einer Frau nicht nur zu ertragen, sondern aufrichtig zu unterstützen.- 21.00. Schon mal bei Dir genascht, ohne Erfolg.
Der Tag verging mit nicht endenwollenden Erörterungen von Für und Wider ob Mann oder Frau; selbst Blagaj stellte sich ein (will mich morgen wieder mal am Abend zum Würstchenbraten verführen...). Es kam Zvjezdana mit Kuchen, um eine Empfehlung für München von mir zu erbetteln. Sonntag wird sich Xenia einfinden, um zu entscheiden, ob sie mitmacht. Echterding gibt mir freie Hand und erhofft sich Autonomie für Ludbreg. Ich komme mir vor wie ein Zirkusdirektor. Morgen früh also Sitzung, nun mit Darvin, der sich endlich doch hierherbequemt, mit Bürgermeister und Edita als Dolmetscherin; Kapusta sähe sich lieber in letzterer Rolle, um zu lauschen... Dazwischen ‘Vulkan’ korrigiert und nach V. gefaxt. Restauriert habe ich wohl ganze zehn Minuten...
Gott sei Dank ist morgen Freitag, nach welchem ich pausieren, bzw. Dir Geruhsameres berichten kann, als den schrecklichen Kram.
Nymph, der lange Tag beginnt an mir zu nagen; über zehn wird’s mich hier nicht halten, wenn ich zu Tagesanbruch im Schloss sein will. Die Morgenstunde ist wohl doch die beste, an Dich in die Tasten zu denken; Dir muss das ja ein Greuel sein, aber ein leeres Bett ist für mich etwa das Pendant dazu. Man wird melancholisch in einem sterilen Hotelzimmer, wenn man sich an Besseres gewöhnt hat!
Da fällt mir gerade Georg Neumarks "Poetischer Lustwald" auf (1657) mit der Strophe: "Wer Gott dem Allerhöchsten traut / der hat auf keinen Sand gebaut."
Aber soll man dem Allerhöchsten trauen, von dem man schliesslich nur munkelt, er existiere? Und schliesslich ist mir das Allerhöchste bei Gott nur mein Nymph, dem einzig mein Vertrauen angehört, abgöttiglichst, untertänigst undsoweiterlich...
(153) Ludbreg, Freitag 12.1.1996; 6.10
Nymph,
das milde Wetter hat die hässlichen Schneehaufen entlang der Strassen fast gänzlich aufgeleckt; nur liegen überall die von den Schneelasten niedergebrochenen Äste und Baumwipfel, ja auch eine Menge der geborstenen Kandelaber-Kugelschalen herum, denen jener Schnee zugesetzt, der am Tage, als ich hier abreiste, das Land so verzaubert hatte. Noch ist mir gegenwärtig, wie auf den slowenischen Landstrassen sich die Bäume kathedralenartig einander über die Wegschneisen hinweg zuneigten, oder wie sie wattevermummten Weihnachtsmännern mit weissen Kapuzen gleich, sich die Adressen der zu beschenkenden (oder zu prügelnden?) Kinder zuwisperten. Aber so mancher Santa Claus hat dabei sein Leben gelassen, wie man sieht und wie man das selbst im Berner Reichenbachwald hatte erleben können.
Das neue Jahr hat hier so unauffällig Einzug gehalten, als wär das alte noch im Amte; nur frischbegrüsste Gesichter erinnern Dich mit floskelnen Wünschen daran, dass Du hier ein volles Jahr warst und zum Panorama der Originale gehörst, mit denen Ludbreg so unmerklich lebt und stirbt. Bald wird der einunddreissigste Januar wiederkehren, an dem ich noch voller Erwartungen und Neugier die erste Taste schlug und gewiss war, die Jahreswende hier kaum zu erleben. Ein Jahr ist heute so kurz geworden, auch wenn man durch Beschreibung versucht, seinen Lauf zu verlangsamen und die Erinnerungen zu sammeln. Ich bin recht neugierig, bald einmal dessen fliegende Seiten zu durchblättern, um mir zu vergegenwärtigen, was sich da alles an längst Vergessenem ereignete: es muss sich ein wahrlicher Narrenberg angehäuft haben, unter dem Ludbreg seinen Namen wohlverdient haben mag, auch wenn es tausend Ludbregs und Abertausend Ludberger in der Welt geben dürfte, die sanglos im selben Topfe sieden, ohne dass je etwas Gargewordnes daraus entsteigt. Ludbreg oder gerbduL ist ein Topos an dem sich Hölle und Paradies vertauschen lassen, weil sie wohl eins sind; aus seinem Weichbild Depeschen zu schreiben ist kaum mehr, als sie der Schneckenpost anzuvertrauen, so relativ sind hier Zeit und Ort...
Edita hat es aufgegeben, die Legende Ludbergas in extenso zu übersetzen; ich wusste längst, dass es zu schwer für sie sei (ausserdem ist sie hyperreligiös und dürfte sich an so manchem osé stossen!). Mein vertrackter Stil wird die Ludberger davor bewahren je meinen Spott über sie zu erfahren; besser so. Sie werden an ein Ruhmesdenkmal glauben, das da enigmatisch für sie während eines Jahres gebaut worden ist und werden die Eulenspiegeleien nie zu spüren bekommen: glücklich die Armen im Geiste, werden sie doch ihrer Defizite nicht gewahr. 14.00. Die Sitzung mit einem wortkargen Darvin und einem geradezu geistreichen und aufgeräumten Bürgermeister "...ist in bestem Einvernehmen über die Bühne gegangen und wir haben für Donnerstag (nicht wie geplant schon Montag) ein Vorschlagpaket zur Lage. Meine Idee zur Besetzung der Stelle Darvins mit einer neutralen, RZH-unabhängigen weiblichen Kraft stiess allseits auf Zustimmung und die vielleicht illusorischen Autonomievorstellungen würden in einem kollegialen Kontrollmechanismus (etwa: RZH/Denkmalpflege Varaždin/RZL/Bayern) einen annehmbaren Kompromiss finden, den es Donnerstag durchzufechten gälte. Druck von Bayern wäre natürlich erwünscht. Darvins Entscheid ist irrevokabel, er wird aber bereit sein, uns über die Übergangszeit wegzuhelfen. Wenn Sie sich für Donnerstag freimachen könnten, wäre das natürlich eine grosse Hilfe; ansonst versuche ich mich allein durchzuboxen. Wenn wir die Frau unserer Wahl durchbringen, müssten wir sie baldigst nach München zum Nachhilfeunterricht schicken; sie ist ausserordentlich lernfähig und intelligent, d.h. brächte keine sonderlichen Probleme mit (Xenia Pintar spricht fliessend englisch und italienisch, versteht deutsch, kommt aus dem Museum f. angewandte Kunst in Zagreb und machte mir nur den besten Eindruck; nur müsste sie natürlich noch zusagen...) ecc." schrieb ich soeben an E.; anschliessend feierten wir im Schloss den Geburtstag Velimirs mit einem Champagner aus der Bürgermeisterei, einer Torte und der Harmonika Ivans, die melancholisch noch immer aus der Küche schallt, während ich Pflichtbriefe erledige. Seine Frau trägt ihren fünfmonatigen Bauch stolz vor sich her und ass mit uns für zwei. Das allgemeine Gebären hat nun fast niemandes Eheweib verschont. Xenia wird wie ein Fels in der Brandung dem Gebot der Kaninchenzüchter widerstehen.
Bis jetzt habe ich also mein Spiel gewonnen, selbst Velimir hat seine Entthronung als Nachfolger Darvins mit hinreichendem Wohlwollen geschluckt! Unsere Dolmetscherin Edita wird unbewusst dafür sorgen, dass in Zagreb sich eine feministische Stimmung verbreitet und vielleicht trägt sie V. das Gewünschte oder Beabsichtigte zu. Intrigieren macht Spass, wenn man Aussicht auf Erfolg hat, hihi! Darvin scheint erleichtert, nachdem er sich selbst seiner Nöte enthoben hat; er wird so alle zwei Tage mal pflichthereinschauen während der nächsten zwei Monate und Kram erledigen, den ich ihm nicht abnehmen kann. Ansonst harren wir der Dinge, die da über uns von Seiten Zagrebs herzufallen drohen...
So, Nymph, damit hat wohl ein verdientes Wochenende begonnen, während dem ich mich etwas mehr mit Dir beschäftigen kann. Nur Blagaj wird mich heute abend noch in die Feuerzange nehmen, um sich sein künftiges Glück zu schüren; mein sanftes optimistishes Schulterklopfen habe ich schon eingeübt, es zu gegebener Zeit anzubringen. 16.10. Das Haus hat sich bis auf Ivan geleert. Er wird mir eine Tonscheibe zubereiten, auf der ich das Ludberga-Relief entwerfen kann; mit der Anatomie bin ich, glaub ich, auf besserem Fusse als er; schliesslich geniesse ich zuweilen Anschauungsunterricht aus erster Streichelhand... Ivan ist seinem ja noch heute passabel reizvollen Weibchen offenbar so selten zu nahe getreten, das sein sonst phänomenales Formengedächtnis in verbotener Weise ausklinkt. Sein grauzeitliches Vorleben als Don Juan hinterliess auch kaum nennenswerte Spuren; aber vielleicht ist das für Männer ohnehin typisch: es interessieren sie die Taten und Inhalte, nicht die Form und das Sein der Dinge.
Mich natürlich ausgenommen. 18.15. Von jetzt an warte ich auf Blagajs Vergesslichkeit. Nach den Würstchen, sofern sie mir heute noch zu menschenwürdigen Zeiten ins offne Maul fliegen, komm ich wohl noch mal ins Schloss zum Ohrmuschelnaschen. Habe nach einem solchen Tag ein paar Kuschelworte nötig, um mich wieder aufzutakeln. Nur Dir gelingt so ein Wunder: ein Lächeln, zwei Komplimente längs, drei Kosewisper quer, restauriert ist der zerschlissenste Mann. Ich staune immer wieder über diese, Deine verborgenste Begabung; und ohne Absicht gelingt es Dir fast ebensogut. Oder ist es etwa meine bodenlose Naivität, die mich holterdipolter strahlen lässt, wie ein frischgesäugtes Kind? Singt nicht in Lortzings "Zar und Restaurator" ersterer "... o selig, ein Kind noch zu sein!"? Oh, Allerersehnteste, könntest Du mir jetzt diesen Kindskopf streicheln wie Lorenz, der Graugänsehüter, o süssestes selbstgezimmertes, quatsch, fraungezimmertes, fraunhofiertes, schmachthofenes, nein schmächtegernegrosses, nein, himmelvoller-geigenes Vergessen am Busen Lethes (aber die war keine Frau sondern ein Fluss, allenfalls ein Meerbusen...), ich sehe, mit der Rammeldichtung habe ich heute wenig Glück, mein spannungsgeprüfter Nymph; vielleicht gelingt’s mir morgen um sechsuhrfünf besser... 19.15. Langsam beginnt mich die geizig abgefüllte letzte Ölung für Blagaj zu reuen an; wenn er mich wieder angeschmiert hat, schicke ich ihm eine Tafel Migros-Schokolade vom letzten Sommer per Post mit dem freundlichen Undank für die Einladung. Habe ich doch auf ein Kotelett mit Ivan verzichtet, das den Geburtstag überlebt hatte, ein Mohnkuchenstück und etwas flauer Salat...
Ich denke, Du wirst inzwischen Dein Büdchen betreten haben und ich werde mal das krause Vorliegende in den Faxschlitz füttern. Lass Dich küssen und auf Vernünftigeres und weniger Wegwerfbares vertrösten! Ganz Deinster, Faun!
(154) Ludbreg, Samstag 13.1.1996; 6.50
Nymph,
wie Du siehst will ich nicht nur den Helden Goldmund spielen und habe mein warmes Nest bebrütet um die Schwaden aus dem Kopf zu vertreiben. Aber Ivan ist schon, bzw. immer noch da, etwas verschlafen zwar, weil er bis drei an Ludberga herumfummelte, sie links amputierte und rechts korsettierte. Dann dämmerte er auf der Couch ein. Blagaj hatte mich lange nach neun abgeholt und in Gegenwart seiner noch gesprächigeren Frau mit den Segnungen einer Schlachteorgie gefüttert, dieweil man die Tagesneuigkeiten des Schlosses durchnahm. Ich indoktrinierte Slavko über meine Rösselsprünge, damit er mit dem Bürgermeister für Donnerstag zusammenhielte. Über Darvin war er nicht wenig aufgebracht und packte so manches Ungereimte aus. Dass wir diszipliniertere temps nouveaux einläuten müssen, ist wohl nun allen klar. Blagaj kutschierte mich über seine verschlammte, weil aufgerissene Strasse zum Hotel in der Meinung, zu Fuss würde ich zu mitternächtlicher Stunde zum Dorfschreck. 9.00. Ivan theoretisiert seit einer Stunde über unsere ungewisse Zukunft, klagt über die jämmerlichen Finanzen (unsere Leute erhalten 350 DM monatlich; Blagajs letzter Analphabetonsklave verdient 800!), die unabwendbare Schwarzarbeit (was hier "fus" heisst und wohl von "Pfusch" kommt), den Mangel an Disziplin(!) und beschwört eine goldene Ära, die mit Xenia beginnen soll. In der Tat habe ich vor, nun alles neu zu planen, ohne auf eine so kapriziöse Figur wie Darvin Rücksicht nehmen zu müssen; mit den zwei anderen Erbstücken werde ich auf die samtene Art fertig. Mit der männlichen Verstärkung aus Köln, die mir E. bestätigte, wird ein nördlicherer Wind wehen, ohne die Föhneinbrüche Sieglindes.