Überspringen wir die zeitraubende Inswerksetzung der 491 Paragraphen, die zweifelsohne bis zur jetzigen Stunde andauerte, wäre Antipodes noch eine geographisch ernstzunehmende Entität. Widmen wir uns dem Büsserzug verliebter Greise, Jünglinge, knuspriger Bäuerinnen und ihrer Säuglinge, hutzliger Weiblein und rüstiger Mannsbilder. Ihnen war allen gemeinsam eine Übersättigung des Trieblebens, das ihnen das Schicksal so ungefragt eingepflanzt hatte und sie erhofften sich am Ziel ihrer Pilgerschaft die erfrischende Minderung jener kribbligen, drangvollen, zerrenden und aufpeitschenden Gefühle, die ihnen pausenlos im Nacken und anderswo sassen.
Dem Zuge voran, von bunten Baldachinen vor der höllischen Februarsonne Antipodiens geschützt, wandelte unser Priesterpaar untergehakt einher, die langen Röcke in die vergoldete Kordel um die Schmerbäuche geschürzt dass die Hintanschliessenden die behaarten Waden hätten bewundern können, wären es nicht die Hüterinnen des sapphischen Feuers gewesen, die Vestalinnen des Anteros, die sich zu sackleinernen Uniformtogen bekehrt hatten, um dem unbeirrbaren Andrängen der Jungmänner zu trotzen. Die nächsten waren die Honoratioren in goldgesäumten Chlamyden, Weinlaub um die Stirnen geflochten, in ihrer Mitte die vereinten Bürgermeister in Puterrot als Zeichen der Gemeindeverschwisterung. Das Heer von Haremsdamen die sich diese Herren im Ratsbeschluss vom 1.11. noch schnell zuerkannt hatten, bevor die Parlamentsferien begannen, zeitigten eine bunte Wolke von Schleiern, Sonnenschirmchen, funkelnden Sandalen, Armspangen und sonstigem Geschmeide, das sich in wundersamer selbständiger und -loser Pfadfinderschaft aus der Staatskasse direkt auf deren weisse Haut gefunden hatte; Milomanns Tagesfrau liess sich sogar von vieren, ihr nicht ganz gleichgültigen Gerichtsdienern in einer Sänfte tragen, Tudewitzens Gegenstück sass hoch zu Ross auf dem Schoss eines als Gardekosaken kostümierten Epheben und liess sich die nicht mehr ohne Mühe auszumachende Taille stützen. Die Weiblein dritter Klasse, mit dem Kunterbunt der Mittelalterlichen vermengt, die Armen und Krüppel gegenseitig zur Stütze untergebeugt, machten das Ende, vor streunenden Hunden, neugierigen Gänsen und einer Delegation Fröschen, die sich als Responsorium zum voranziehenden, von mir vergessenen Musikantentrüppchen mit Krummhorn, Vihuela, Leierkasten, Harfe und Posaune glaubten. Das hinterste Drittel des Zuges verlor sich bereits im Staube des ungepflasterten Weges, doch Cenovis, der einzige Künstler von seinesgnaden, hatte seinem Esel Otokar ein Fässchen des süssesten von allen Sauerweinen der Gegend aufgeladen, die Trockenheit der Kehlen zu lindern, und den frohen Mut der Reise zu eternisieren.
Es ging selbstredend nicht ohne wiederholte Verzögerungen, weil in unregelmässigen Abständen und von Klasse zu Alter verschieden, sich die Triebe bemerkbar machten, die ja den Anlass zum Wallen gegeben hatten; allein unser unbeirrbarer Posaunist, Kastrat mit schamhaft verdunkelter Vergangenheit, stimmte jeweils ein so mörderisches Spektakel an, dass den sich jäh bildenden Sex-Gruppierungen und Zweisamkeiten keinerlei Chance blieb, das Vorankommen der Prozession nachhaltig zu stören.
Im Weichbild der Hauptstadt, etwa eine Meile vor dem Antideflorianstor, hatte sich Chrisanthemovic mit einem Teil des Parlaments, den Pressevertretern und dem Klerus eingefunden, das Völkchen gebührend zu empfangen. Sogar Obermysterienpriester Kuchenbeck hatte sich nicht entbrochen, dem gerade anwesenden Botschafter der Insel Bounty, die damals noch Balalaika hiess, das Kuriosum einer liebestollen Doppelgemeinde eigenbehandschuht vorzustellen. Als die beiden Staubwolken aufeinanderprallten und sich nun auch auf die Prachtgewänder zu legen begannen, gab’s einen einzigen Wiedersehenstaumel, der unbesehen auch dem verwirrten Botschafter zuteil wurde, als er sich von Hunderten von Bruder-, Schwester-, und Zungenküssen überwältigt sah. Kuchenbeck hielt sich den Strudel der Begrüsser mit der saffianledernen Beglaubigungsurkundenschatulle des Ambassadoren wie ein Torero vom Leibe, weil er für die Schminke fürchtete, die ihm gewöhnlich den Anstrich von Heiligkeit zu verpassen verstand. Der fortan gemischte, etwas ungeordnete Haufe strömte nun stadteinwärts, bis vor die strammstehende sechsreihige Garde, die, auf ein Zeichen des Stadtschreibers, einem Marionettenspiel gleich, eine kunstvolle 180° Kehrtwende vollzog und ins nahe Forum einzog, wo eine gigantische Menge an Andenkenverkäufern ihrer Opfer harrte, durchwachsen von Neugierigen, Geladenen, Konventualen, Schlachtenbummlern und rotznasigen Knirpsen, die mit kleinen Schleudern Kirschkerne in die sich daraufhin ratlos betastende Menge verschossen.
Der vor Jahren schon von Jugail in Ziegelzementplatten ausgelegte Forumsplatz (was angeblich sein Glück gemacht haben soll) war gross genug, ein Vielfaches der Ankömmlinge zu fassen, denn die jährlichen Ballspiel-Meisterschaften pflegten das Hinterland restlos zu entmenschen. Er war umgeben vom Tempel und seiner Freitreppe, den Thermenanlagen, der Bürgermeisterei mit Stadtbibliothek und Odeon, es schloss ein Taschenamphitheater an, die öffentlichen Toiletten, das Prytaneion bzw. die Armenküche, die Polizei und ein Kiosk, mit ausgehängten Pergamentrollen, auf denen die neusten Neuigkeiten aus der Podenwelt zu lesen waren, Auszüge aus der Frankfurter Allgemeinen, der Welt und der Süddeutschen, aus Le Monde und den Times, dem Messaggero, der Prawda, ja sogar dem Berner Bund. Die Trauben von Lesenden hatten sich wie Zwiebelhäute vom Zeitungshäuschen gelöst und eilten dem Zuge entgegen, der nun einen am Vortage unter Anleitung der Dorfschullehrerin Akneds eingeprobten Refrain anstimmte:
Ich bin mîn, dû bist dîn:
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in dînem herzen:
verlorn ist mîn slüzzelîn:
dû muost immer drinne sîn
da sehn wir nimmer sinne drîn.
Alles war ob so vieler und echter Sentimentalität gerührt und man schloss die sonderbaren Provinzlinge unverzüglich ins Herz, bereit, eines jeden Slüzzelin in die nahe Antibednja zu werfen, oder gar in den magischen Mittelpunktderweltgully unter der Pythia Dreifuss in Gerbdulas Allerheiligsten, die namentlich im Winter darüber zu sitzen pflegte, weil das ewige Feuerwasser Baselicens eine angenehme Wärme verströmte.
Unsere Wallfahrer hatten sich litaneiend wieder zum ursprünglichen und geordneten Zuge formiert, schritten im Gänsemarsch auf die Tempelvortreppe zu; die vorderen zween Drittel stiegen gemessen hinan, um sich in getreppter Staffelung umzudrehen und auf den Hofzeichner Petrifix zu warten, der, wie üblich, auf Staatskosten eine Gruppenskizze anzufertigen hatte, auf Grund derer man individuell oder kollektiv eine Kopie bestellen konnte. Dieser traf atemlos verspätet mit seinen Pergamenten ein und fasste die stattliche Reisegruppe ins ungekniffne Auge und meinte nach etwa einer halben Sanduhr, er habe sie alle im Kopf und werde sie bis übermorgen entworfen haben, mosaizieren dauere ein halbes Jahr, in Relief vier, als Freifiguren in Bronze zehn und wenn jeweils die Neunerprobe aufginge gäbe es Mengenrabatt. Man beriet, gestikulierte, was die günstigste Lösung sei, trennte ein paar Drittklassige ab, rückte ein wenig zusammen, damit es billiger käme (Randfiguren liessen sich als Vollprofile nochmals im Preise dämpfen) und schliesslich kam heraus, dass man ein Viertelspanorama in Eitempera wolle, fünf Ellen auf acht, mit Goldrähmchen und den Unterschriften des Empfangskomitees, Botschafter eingeschlossen. Petrifix verschwand hocherfreut und das erste Fünftel Crème de la crème durfte sich der Kolonnade nähern, in der nun schon im Halbschatten des Nachmittags das hohe Tor zum Allerheiligsten sich öffnete.
Die beiden Bürgermeister fühlten je die kühler und nasser werdende Hand des anderen, knieten mit bebenden und knirschenden Menisküssen auf den ehrfürchtigen Marmor nieder, Kuchenbeck segnete mit wohlwollendem Gemurmel deren Stirnen, dann auch die sportlichen Waden und die staubverklebten Nacken seiner Diakone, liess sie in Demut liegen und ging allein ins düstre Tempelinnere, das Orakel auf Grund seines Spickzettels, den ihm Chrisanthemovic zugesteckt hatte, zu befragen, auf dem es meines Wissens lautete: "Was oh, Gerbdula, göttliche, was ist denn noch die Liebe wenn ... "
22.50. Just während der Befragung des Orakels ging für fast eine Stunde das Licht in ganz Ludbreg aus! Ein Fingerzeig des Göttlichen? Graf Batthyàny? rumorte Ludberga in der Trafozentrale? So will ich denn hier schliessen und Dich auf morgen vertrösten!
(163) Ludbreg, Montag 22.1.1996; 6.25;
Nymph,
mein Kistchen ist beängstigend voll und keine Diskette fasst mehr die Nymph-Datei; ich traue der Speichlerei nicht mehr und wage nicht, Älteres hinauszuwerfen, zumal ich’s wieder brauche. Ich habe noch immer nicht gelernt mit dem Tastenschwein umzugehen! Geschweine der Maus.
15.50. Stinko rief mittags an; wir umkreisten einander misstrauisch wie Rothäute, die das Kriegsbeil in der Westentasche bereithielten und taten dabei altvertraut; jeder drohte schleimheiligst dem andern an, ihn zu besuchen. Ich trug den Pyrrhussieg davon und werde mich vom eiligst zum Chef-Chauffeur erkürten Ivan feierlich nach Zagreb kutschieren lassen, in die Mundhöhle des Löwen. Das kann ja was werden! Er will auch so ein PR40-Papier wie ich eines ohne sein Mitwissen für Mendel gemacht habe. Ich könnte einfach den Brief-Kopf umschreiben und den meinigen einziehen. Oder auf den seinigen zusagen, die Schuld trage an allem er. Von den dreien könnten zumindest zwei rollen, wenn der dritte, auf dessen ich gesetzt habe, den seinen nicht verliert und ihn genügend hochhält. Noch habe ich keinen Grund, den meinen hängen zu lassen, noch seinethalben -scheu zu werden; aber zerbrechen werde ich ihn mir heute nacht gewiss, wenn ich vor -arbeit und taktischen -rechnens den -stand üben muss und der prompt folgende -schmerz mich kopfunter und -lastig in die -kissen am -ende meiner nächtlichen Walstatt werfen wird. Von -pflastersteinen werde ich träumen, die man mir schon beim Zagreber -bahnhof als -bälle zukicken wird, damit ich in Stinkos Strafraum ein -balltor erziele, ein Rennen Knopf an Knopf mit Mendel vor der Elfmetermarke; erst -schütteln im -losen Publikum, dann aber jubelts mit -stimme, jaaa!! Köpfchen hat er, Köpfchen! und ich erwache so dumm und murrköpfisch wie zuvor. Aber enthaupten wir lieber das Argument mit Dr. Oettgers subtiler Eierköpf-Garrotte.
Ei, guter und edler Musennymph, komm, küsse mir den gallupierenden Denkerschädel, und umkränz ihn mir, solang er noch auf seinen vier Buchstaben sitzt! auch wenn er nicht das A und O vom Analphabett ist, geschweige das Gelbe vom Eierkopf.
Nymph, ich kann das Albern nicht lassen; wohl ein Grund zum Gegenteil; die morgige Pilgerschaft nach Canossa liegt mir zu schwer auf dem Zwerchfell. Wär sie nur schon vorbei und könnte ich mich wirklich darüber auslachen!
Vielleicht habe ich das Intrigieren doch zu weit getrieben? Hoffentlich ist der Wein, den mir Stinko einzuschenken versprach mehr Rhein-, als reiner Versprech. Das gemeinsame Essen war ihm jedenfalls wichtiger als das Verdauen meiner roten Rügen, die ich ihm durch die Telefonleitung schob.
Bitte verzeih mir meine fehlgedruckten Lügen, Nymph, korrektester, sie könnten wahr sein. Mit der nun gerbsauren Ludberga hab ich in der Tat einen gewaltigen Kerbschnitzer gemacht und ihn sofort als telematischen Wechselbalg eingelöst. Vielleicht sollte ich doch mal ein Rechtschreibmodi einstellen41, bei mir gehörig auszuputzen, pardon, die Zwischenräume zu pflegen und das Orthograviehzeug auf besseren Augenweiden zu hüten.
Aber jetzt langts. Morgen wirst Du Vernünftigeres zu lesen bekommen! Faun.
...
"– uns die Götter mit ihr bestrafen, ist sie Mittel oder Selbstzweck? Welche Bussen verlangst Du von uns, dass sie wieder zum Mass aller Dinge werde?".
Kuchenbeck schüttelte das Haupt ob solcher, ihm noch nie untergekommener Fragen. Das tönte nach Efta, der in Patagonien Philosophie studiert haben soll. Die pythische Antispastika, Wahrsagerin seit ihren vorgeburtlichen Klopforakeln, würde solches trotz ihrer Einser in Rhetorik, Demoskopie und Logopädie nicht begreifen und Gerbdulas Zorn herausfordern. Man müsste die Petition auf den angestammten provinzlichen Lakonismus zurechtschneidern. Ein herzhaftes Bauernwort, auf das mit einer deftigen Bauernregel geantwortet werden könne, sann er, indem er immer gemessenen Schrittes ausholte, um Zeit zu gewinnen. "Leid ist die lästge Lotterbrunst / Das Laben fehlt, die Lebenskunst / Zum Lob der Göttin, sag uns bloss / Wie werden wir die Liebe los!" deklamierte er, hm, etwas zu schwülstig, um in die Literaturgeschichte, geschweige in die Orakelsammlung einzugehen. Aber so etwas liebt doch der Volksmund, der Gesangsverein, die Nationalhymnensänger an den olympischen Spielen! Solls gut sein; um so besser müsste die Antwort ausfallen...
Antispastika thronte inmitten der spärlich von oben erleuchteten Rotunde auf einem ehernen Dreibein über dem geometrischen Mittelpunkt des Raumes; im Boden war eine leicht gewölbte, von figuralem Zierrat und kreisförmig angeordneten Löchern durchbrochene Bronzescheibe eingelassen, aus der durch aromatische Essenzen gemilderte Schwefeldämpfe stiegen. Aus einer Silberpyxis löffelte die Pythia hin und wieder ein paar Harzkörnchen, um sie auf den Omphalosschild zu streuen. Sie hasste diese penetrante Geruchsmischung aus Myrrhe, Sandeltränen, Sandarak und Boswellia, die den trauten Duft fauler Eier verunglimpften. Stammte sie doch aus einem ehrenwerten Landwirtsclan der Antidravinischen Kleinpussta, aus deren Freigehegen so manches Produkt stammte, das man unerwünschten Politikern der gerbduLer Opposition in die Schuhe zu schieben oder besser anzuwerfen pflegte, wenn es wieder einmal galt, die Wahlen zu gewinnen. Antispastika hielt man für die schönste aller je den anapästlichen Stuhl bekleidet habenden Jungfrauen, auch wenn letztere Vorsilbe als Euphemismus bezeichnet werden muss; ihre unpräzisierbar häufigen Lenze, die über sie hereingebrochen sein dürften, entschuldigten zwar die Karenz so manchen Zahns, aber nicht die der abgekauten Nägel, eine unzeitgemässe Unmanier, die sie beim Reimen der Orakel anfiel. Ihr hagerer Dorfschullehrerinnenleib stak in locker wallenden Trauerfloren wie das Stäbchen in der Zuckerwatte, nur fehlte die entsprechende Süsse, befand Kuchenbeck, der seiner zölibatären Würden nichtsdestotrotz ein kulinarischer Kenner war. Man müsste die leeren Wände mit Petrifixens Werken behängen, statt sie gerollt in der Nationalbibliothek modern zu lassen, stellte er beinahe fröstelnd fest und begab sich in die Nähe der Schwefelquelle. Antispastika schrak aus ihren Meditationen über das Liebesleben der Hausfliege, so sich selbander zweien derer auf ihrem Knie vergnügten und blickte auf –"ach Du!" – der Oberpriester nickte, notierte seinen neuen Vers ins rote Wachs seines portablen Diptychons und reichte dies seiner treuen Tempeldienerin. Sie sah, las und legte Harz nach, rückte sich zur Kerze, schloss die stets etwas tränenden Augen und zählte von einundzwanzig bis vierundneunzig, während Kuchenbeck mit auf den Rücken verschränkten Armen auf und abwanderte, nach Worten zu suchen, die sich zum Voraus paarweise knittelig endreimten; den Rest besorgte die zunehmend in Trance geratende Maid, die nun nur dem Antipodifex verständliche Worte zu murmeln begann. "Du hast wieder mal Deine Tour mit der Tiefenpsyche –" meinte er nach dem Abklingen der Zitterphase und skandierte behend: "Was sich liebt, das haut sich / Geht und schont die Braut nicht / Sind der Triebe Zügel drei: / Hiebe, Liebe, Prügelei... Aber das sind doch nur zwei!" – "Wie bitte?" – "da wird doch nur zweimal geschlagen, vor und nach dem Lieben." – "Hab ich das gesagt?" – "Hier: weiss in rot." – "Hm. Was machen wir jetzt, ich kann nicht noch mal." – "Du Huhn, wie soll ich denen sowas Ungereimtes andrehen!" – "Zur Prügelei gehören zwei; Hiebe verabreicht nur einer." – "Faule Ausrede." – "Es muss ja nicht gleich ernst gemeint sein und wehtun." – Pah! Was meinst Du, was für einen Lärm die Feministinnen machen werden, beim zweiten Prügeln!" – "Warten wir mal ab, ich bin schliesslich ein nicht immer durchsichtiges Orakel." – "Hm."
(164) Ludbreg, Dienstag 23.1.1996; 6.55;
Nymph,
Ivan ist krank, sagt man mir und ich muss allein, oder mit einem der anderen fahren; mir sehr unangenehm. Bleibt eigentlich nur Kapusta, was mir am wenigsten zusagt. Auf meine schüchterne Anfrage hin, ob er nun wirklich krank sei, verneint er allerdings soeben im Brustton bronchitischer Überzeugung und meldet sich zu Befehl. Ich hege ein schlechtes Gewissen, wie immer, wenn ich andere missbrauche. Eben kommt er mit tränenden Augen und meint sein hoher Blutdruck von gestern sei genügend gesunken, mich sogar auf den Mond zu spedieren.
19.45. Nach dreizehn Stunden zurück; eine ermüdende Ewigkeit, vor allem nach sieben Stunden pausenloser Unterredung mit Vrkalj, mit dem ich mit offnen Karten spielte und so manches riskierte. Sogar während des Essens (eine seltene Art gebratener Muscheln und darauffolgend eine Goldbrasse zu erlesenem Rotwein) gab’s Geratsche und Geratschlägerei ohne Ende. Von Autonomie will S. natürlich nichts wissen, aber seine Argumente wiegen entsprechend schwer. Die Neubesetzung von Darvins Posten ist das entscheidende Wegkreuz. Keine Lösung auf weite Sicht, nur Xenias am Horizont verdämmernder Schatten, die in Anbetracht der gigantischen Probleme auch niemand zurückzuholen wagte. S. wünschte sich sogar die von ihm einst so verteufelte Sieglinde zurück, da er eingesehen hat, dass deren eiserne Hand so übel nicht gewesen ist. Er hofft in seiner Ratlosigkeit auf eine Importfigur, eine Art Gouverneur(in) und ich gab ihm keine Chance mit mir. Sogar jeden Monat ein paar Tage wären ihm recht; ich stellte eine solche Pendelei höchstens bis Ende Jahr in Aussicht, wenn wir unsere internationalen Ambitionen, den Praktikandenaustausch und den Fertigbau des Hauses erreichten und Ludbreg sich zum regelrechten Ausbildungszentrum mauserte, mit mehrköpfigem und qualifiziertem Personal – eine Quadratur des Weltkreises....
Mit V. verstand ich mich erstaunlich gut, eigentlich wie damals in Split. Er weiss zu gut, dass wir in der gleichen vollaufenden Wanne ums Überleben ruderten; nur einmal, wohl vor Erschöpfung, wollte er böse werden und kündigte diesen Zustand, besser sein Werden, freundlicherweise an. Ich meinte, das lohne sich nicht und lenkte ihn mit einer neuen Indiskretion ab, nämlich jener, dass sein geliebter Kapusta jedem Rocke nachstelle, wenn’s gerade niemand sähe und dass seine Anzüglichkeiten, die ich aus erster Hand habe (Bojana), den Rahmen des Ertragbaren sprengen würden, wollte man ihm irgendeine personelle Veranwortung übertragen. Peng! Das war unter der Gürtellinie, aber musste einmal gesagt sein, wenn er so falsche Bilder unserer Leute mit sich herumträgt.
8.35. Wie gut es tut, nach einem solchen Tag, Deine Stimme zu naschen und noch ein Seitchen hinterdrein versprochen zu bekommen. Die Mühen heben sich auf, dieser ausschliessliche Männertag rundet sich zum vollen, ist ein Weibchen wie Du im Spiel. Eine unbegreifliche Energie teilt sich mit und wenn ich im Wagen verschiedentlich am Einschlafen war, so bin ich nun plötzlich quicklebendig und werde auch meine Seite runterhaspeln. Zumindest so weit, Dir zu sagen, wie nah, aber auch allzu ferne Du mir bist. Das Tollhaus hier, das heute so oft zur Sprache kam, verliert seine gefährlich grellen Farben und schrumpft zu einem gewöhnlichen grauen Gefängnis zusammen, in dem ein Lichtschimmer kündet, dass man in absehbarer Zeit wieder herauskann, an den Hals der unfreiwilligen Strohwitwe...
(23.1.1996; 22.00)
Faunster meinster,
Heute versuche ich doch endlich mal ein paar Zeilen zusammenzuschustern, obwohl Du nichts Besonderes (eigentlich nicht mal Mittelmässiges) erwarten darfst. Gestern wäre ich zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Nicht nur wegen des Weines; ich war auch ganz schön müde von dem anstrengenden Tag. Zwei volle Tage brauchten wir allein um die "Tischgesellschaft" von Katharina Fritsch einzupacken. Um die Bank mit den jeweils 16 lebensgrossen Herren auf beiden Seiten, vom Tisch wegrücken zu können, mussten unsere sämtlichen "Bürohengste" (und "-stuten" natürlich!) herbeigetrommelt werden, um alle Figuren synchron anzukippen (die Hände der Figuren liegen auf dem Tischtuch) und um gleichzeitig die Bank nach hinten zu ziehen. Es war lustig anzusehen, wie die sonst so seriösen und überlegenen Herren und Damen herumalberten und sich nur mit Mühe von H. zur Ruhe und schliesslich auch zur Tat rufen liessen. Natürlich klappte es auf ersten Anhieb nicht. Während die einen bereits an der Bank zogen, hatten andere noch nicht einmal zugegriffen. Zum Glück passierte nichts Schlimmeres und beim zweiten Mal gelang’s dann schon besser. Nachdem auch die Säumigsten sich gegenseitig beglückwünscht und schultergeklopft hatten und in allgemeiner Fröhlichkeit wieder in ihre Amtsstuben verschwunden waren, begannen wir jede Figur in Seidenpapier und Luftpolsterfolie einzuwickeln und dann einzeln in ihre Kisten zu verstauen, die aussahen wie das "stille Örtchen" aus Grossmutters Zeiten. Und das mit 32 Figuren; Du kannst Dir vorstellen, wie öd dies mit der Zeit wird. Auch das meterlange Tischtuch vom Staub zu befreien, bedeutete mühevolle Stunden. Erst gegen Abend wurde es dann nochmals spannend, als das Riesengemälde von Julius Schnabel (das bei uns im zweiten Stock gleich um die Ecke hängt, Du erinnerst Dich wohl nicht daran – ausser seiner Grösse fällt an ihm auch nicht viel auf) ins Erdgeschoss überführt werden musste. Man trugs bis zur zentralen Treppe, und seilte es schliesslich an zwei langen Kordeln ab, die vom dritten Stockwerk herunterbaumelten, Es passte nur um Haaresbreite am Treppengeländer vorbei, gelangte aber am Ende heil unten an. Ich hatte lediglich die Aufgabe, alles Tun zu fotografieren.
Mein Lieber, ich hoffe, Du bist nicht enttäuscht, nur von meinem "Arbeitskram" zu hören und dass ich Dich nicht endlich über Eifersucht und Flirtgebaren des Weibes im allgemeinen und meines im besonderen aufkläre. Aber heut bin ich zu schlapp (lach nicht, es ist keine Ausrede!) und ausserdem weiss ich, wie ich bereits am Telefon gestand, zumindest über die Eifersucht nicht viel auszubreiten, was Du nicht selbst auch, oder gar besser wüsstest...
Gerade hatte ich Deine liebe Stimme am Ohr und möchte Dir nur noch meine Februarpläne unterbreiten, um Dich dann schnell wieder an den Draht zu bekommen (selber schuld – Du machst eben süchtig).
Also Meinster, ich habe meinen Kalender gezückt und festgestellt, dass erstens der 7. Februar ein Mittwoch ist, Du also bereits am Donnerstag in meine Arme zu liegen kämest (miam), dann wäre schon bald das Wochenende da, wo wir irgendwohin fahren könnten; zweitens ist der 20. Februar ein Dienstag, der damit wohl der letzte Karnevalstag ist. Ich könnte das Wochenende vor dem 20. also vom 16.-19.Feb. schwänzen und zu Dir nach V. fahren. Du würdest dann nach L. zurückfahren und ich den Zug nach F. schnappen. Was hältst Du davon??
Nymph.
...
Hab Dank für Dein erfrischendes Schildern eines so turbulenten Arbeitstages; wie sehr fühle ich mich an meine eignen Museumstage erinnert! Wenn man solch voluminöse Dinge einpackt, wird man sich zuweilen fragen müssen, ob Kunst immer mit Quantität zu tun haben muss und ob es nicht auch handlicher ginge. Und das oft jahrelange Einmotten solcher Monster in Depots ist nicht weniger desillusionierend als unsere Altarmumien, die aufs nächste Jahrtausend warten...
Die Februarpläne werde ich abklären, wie weit V. sturmfrei ist; das Auto nach F. zu nehmen, würde mich versuchen, obwohl ich von der Zagreber Sitzung erst mal nach L. zurückpreschen müsste; aber vielleicht nähme mich ja jemand mit...
Nun, Nymph, jetzt kann ich mit serener Heiterkeit ins verdiente Ludbergo stiefeln und mich der Sonntagskluft entledigen (!). Kuss, Faun.
(165) Ludbreg, Mittwoch 24.1.1996; 6.35;
Nymph,
Ein Zuckerschnee hat sich heute nacht über Ludbreg gebreitet, dass man bangt, hässliche Löcher in ihn hineintreten zu müssen.
In der Küche ist Zagreb das Tagesthema; ich bin gezwungen so manche Korrektur den hiesigen Vorstellungen aufzusetzen und die Illusionen von Autonomie zu dämpfen, weil sie zum Teil irrealistisch und nur auf Personen gemünzt sind und weniger auf die Fundamente des Gebäudes in dem diese wirken. Als ich die Wiederkunft Sieglindes vorschlug, so halb im Scherz, war niemand dagegen, man begrüsste die Idee, sofern man Sieglindes Furien ein wenig im Zaum zu halten verstünde! Ich glaube, da wird ein Telefongespräch mit Darmstadt fällig...
17.15. Dies ist inzwischen geschehen. Sie war ganz munter, ist aber nur für äusserste Urgenzen und auch nur sporadisch bis Ende Jahr einzusetzen. Vielleicht käme sie im nächsten... Edita wäre bereit, drei Monate hier zu vertreten; man müsste sie aufmuntern und ihr Mut machen.
Seit heute ist eine neue weiter- oder umzubildende allzuquirlige Dame aus Slavonsky Brod hier, der ich Wachsdoublierung und zu schnelles Rumwuseln abgewöhnen und das Blicken durch die Okulare angewöhnen muss. Habe Echterding die Neuigkeiten von gestern zugeschaufelt, bevor man mir den Printer zur Revision entriss; Du wirst heute abend leer ausgehen!
Es schneit und schneit, ein Schnee von der flaumigen, fast schwebenden Art, der die Bäume nicht quält und die Schritte fast nicht zum Knirschen bringt. Mit Dir jetzt zu Wandern wäre ein köstliches Wintervergnügen; aber allein pfade ich mich gerade einmal hin und zurück in die mönchische Klause unterhalb derer der Schnee selbst die Hunde zum Verstummen gebracht hat.
...
Dostları ilə paylaş: |