"Iiiiiii!" –
"Ja, und leider auch Nicefor." –
"Ohhh!" –
"Und Baselic." –
"Uuuh; ... Sie Bestie!!" –
"Aber auch Ranusio." –
"Meingott, sind Sie grausam."
Ludberga legte die Stirn auf den inzwischen abgedeckten Tisch und schluchzte hemmungslos in die mäandergemusterte Serviette.
"Fassen Sie sich; Andere haben mich als Anderen gekannt, gehasst, geliebt, verehrt und verflucht, gebenedeit und gebeutelt, exkulpiert und exorziert. Hätten Sie ein anderes Leben und ohne mein Zutun leben wollen?"
Er wusste, dass sie in anderer Verfassung und nach reiflicher Überlegung jetzt den Kopf geschüttelt hätte. Deshalb unterliess er es, sich selbst zu fragen, ob er Mitleid für Ludberga empfände. Vielleicht wäre es ihm sogar zugestossen, überraschend und peinlich bis in die Fusssohlen, denn ohne in den Spiegel der Empfindsamkeit, Selbstliebe und Spontaneität zu sehen, kann auch das Prinzip des Bösen sich nicht verwirklichen.
...
14.45. Ivan brachte, wie nicht anders zu erwarten, einen Riesenkorb mit den stattlichen Resten eines Festmittagsmahles, das ich bis aufs letzte Bröckchen unter dem strengen Auge des notorischen Gönners aufessen musste. Dieweil erzählte er von der heutigen Sonntagemission des Lokalradios, wo ein humoristischer Sketch zum 'Zentrum der Welt' gesendet worden war. Man habe von einem ausländischen Professor erfahren, das Z.d.W. läge in Ludbreg, aber das wüsste man doch schon seit Jahrhunderten; der Beweis: geht ein Ludberger in sein Weinberghäuschen, strömten aus allen Himmelsrichtungen die Freunde auf dieses zu, umrundeten sein Terrain stössen zum tranksamen Zentrum vor, besäuften sich und dann begänne der Weltkreis sich konzentrisch um sie zu drehen, usw. Es muss nach Aussagen Ivans eine sympathische Sendung gewesen sein, mit Witz und guten Ideen, die von einem hiesigen Mittelschullehrer stammten. Des weiteren hinterbrachte er mir eine schöne Geschichte vom letzten Crn-Bel-Essen, wo ich bei Tisch von der kosmopolitischen Signifikanz der Zentrumsidee gesprochen hatte und Blagaj laut beigepflichtet haben soll 'ja ja, politisch, sehr richtig, das ist auch Politik!' bis ihn Križanić unterbrach und beschwichtigend darüber belehrte, dass kosmopolitisch nichts mit HDZ-Politik zu tun hätte.
...
Als sich Ludberga einigermassen gefasst hatte, ihren alten Versucher mit ernüchterter Hassliebe, einer grimmigen Resignation, neu erwachender Kritikwilligkeit und endlich tränenfreien Augen musterte, schien sie geadelt von einer qualvollen Katharsis.
"Ranusio," sagte sie, mit einer fast warmen Stimme, "Ihr letzter Name ist mir zu gekünstelt und zu grecophon und über die früheren ziehe ich vor, nie wieder zu sprechen; Sie haben gewonnen, aber, geben Sies zu, es war ein unfairer Kampf. Was, wenn es nun unbedingt sein soll, muss ich tun, mich vor künftigen Nachstellungen freizukaufen, ohne mich in amoralische Händel, Betrug, Lüge oder Sündhaftigkeit zu begeben." – "Sie werden sich wundern, Madame, nichts, was Sie nicht jetzt schon getan hätten, nur mit äusserster Konsequenz. Sie haben Ihren Kollegen in Sankt und Seide mit absoluter Ehrlichkeit zu begegnen; ohne Funken von Eitelkeit, Bigotterie und Schmeichelei; Sie werden sehn, wie schwer dies ist. Rauchzeichen und Schwefeldämpfe von Revolution werden Sie zuweilen umgeben und man wird Sie verteufeln wollen. Scheuen Sie keine Hexenverfolgung und fühlen Sie sich von keiner Verleumdung betroffen. Wissen Sie stets, dass Sie sich gegen 30000 falsche Heilige zu wehren haben, wenn Sie eine echte werden wollen." – "Und meine Geschäfte, Reisen, meine Kultstätten, Orakel?" – "Ihren irdischen und unterirdischen sprich antipodravinischen Tätigkeiten und Pflichten steht nichts im Wege, als die nämliche Konsequenz, ihren Typus und Antitypus so vollendet auszufüllen, dass man Sie zuweilen als wandelnde moralische Provokation ansehen wird." – "Ausgerechnet i c h soll als Tugendboldin, auftreten, die, ich geb es zu, im Moment der Schwäche mit Vergnügen sündigte!" – "Nicht für Ihre sogenannten Schwächen sollen Sie ja bestraft werden, sondern ihre bigotte nachträgliche Einschätzung jener 'Schwäche' als solcher. Stehen Sie endlich zu Ihrer Lust, Madame; L U S T !" –
"Das muss man sich wieder von einem Mann sagen lassen; einem M A N N." – "Da, wieder eine Ihrer Phobien, Verdrängungen, Fixierungen, die man Ihnen noch austreiben muss; jawohl." – "Darüber werden wir uns nie verstehen; und überhaupt, was geschieht, wenn ich den ganzen Handel ablehne?" – "Dann verfallen Sie ganz meiner Domäne und ich habe keinerlei Rechenschaften gegenüber Dritten, sprich unserm Alten Herrn, abzulegen: Sie können nur den Weg der Sünde begehen, sich dauernd dafür selbst bestrafen und doch nur weiter sündigen wollen, kurz ein Teufelskreis; Sie werden sich mir am Ende an den Hals werfen, MIR, in welcher Form auch immer mir beliebte; und das, liebe unheilige Ludberga, behagte mir geradesogut, als Sie als lodernde Flamme der Tugendhaftigkeit in einem unnahbaren 'Last Tango' vor mir herzuschieben, um Dritte mit Ihnen zu ärgern." –
"Ich werde mich hüten-!" – "Sie haben nur eine Wahl, eine echte Sünderin, oder eine echte Heilige zu werden; Halbheiten sind seit Thomas von Aquin nicht mehr erlaubt." – "Lieber flüchte ich mich in den Schlund der Hölle." –
"Die ist auf Erden Ludberga, ob Sie tot oder lebendig sind, die ist in Ludbreg, dem 'Garten Eden' Kroatiens, im ’Putnik’ so gut wie im ‘Antikaputtnik’ und im 'Schönen Antinous' zu gerbduL und im 'Frankfurter Hof' in München und im 'Münchner Hof' in Frankfurt am Main, ist in Bern und in Rom und in Venedig." –
"Und der Himmel, zum Teufel, wo ist der?" – "In Ihrem Herzen, Madame." – "In einer solch elenden Mördergrube!?" – "Ja, Madame, rund, klein, kitschig und für fast jegliche Heiligkeit zu eng." –
"Geben Sie mir Bedenkzeit."
17.25. Nymph ich mache Pause und geh ums Haus. Mal nachsehen, wo hier die Hölle ist...
(187) Ludbreg, Montag 11.3.1996; 6.30/9.45
Nymph,
der Tag fängt schlecht an; mein vergnügtes Morgenschreiben, das ich gelungen fand, wie immer, wenn man es aus der Datei verliert, war plötzlich unwiederbringlich weg, weil meine Batterien nicht länger als eine Stunde halten und die automatische Speicherung nicht mehr funktionierte, weil sie sich selbst irgend einmal annulliert hatte (eine Unverschämtheit!). Inzwischen gingen mir so viele neue Dinge durch den Kopf, dass ich weder Wortspiele noch den sonstigen Gehalt mehr zusammenbringe. Auch erreichte ich Echterding endlich und er erklärte, definitiv wie vorgesehen, Freitag abend hier anzukommen, um am Samstag die Ausstellung, die wir für die 'Kroatische Woche' in Zagreb gestalten müssen mit Mendel und Vrkalj vorzubesprechen, unsere Programme und Nöte durchzupauken und Neues über den grossen Kredit zu kredenzen. Link und der Kölner Praktikant können wegen Bayerns Geldmangel nicht finanziert werden; um Berchems Genügsamkeit ist man natürlich froh. Damit ist mein kommendes Wochenende bei Dir endgültig out; ich bin recht niedergeschlagen. Vrkalj lud soeben Echterding und mich zudem für den besagten Samstag abend zur Wiedereröffnung einer berühmten Sammlungsabteilung im Mimara-Museum nach Zagreb. Es könnte dort auch moderne Kunst geben, sagte man mir. Und Sand?
Dass Ludberga sich Bedenkzeit erbat, Du erkanntest dies richtig, ist in der Tat bedenklich! Ist sie etwa ebenso unzuverlässig, wie ihre kroatischen Landsleute? die einem die Tauben auf dem Dach des Universums versprechen und Dir keinen toten Spatz aus der Mülltonne beizubringen in der Lage sind, die so prompt sind, wie eine Verabredung mit Blagaj, so fix wie ein einwöchiger Expressbrief nach Varaždin, so effizient wie unser Computermatz, der das Modem noch immer nicht hat installieren können, und die in ihren Freundschaften so konstant sind wie die Blickrichtung des Wetterhahns...
17.30. Cernobyl verlangt inzwischen so hohe Übernachtungspreise von den Hospitanten, dass wir sie wieder zur Pomperin schicken müssen. Mein Beitrag ist geradezu symbolisch. Nur glaube ich nicht, dass Blagaj wirklich die geringste Mark dranzahlt; ich bin ein politischer Gast (mit oder ohne Kosmos...) und ein Markenzeichen dazu, es fehlt ihm nur Ludberga im Panier und die wird er sicher noch adoptieren, wenn er seinen neugestylten Weltmittelpunkt-Wein zur Freude seines unersättlichen Säckels loswird.
20.35. Bis jetzt war Kain mit einem pensionierten Giesser hier, mit Schwester und Nichte. Er entpuppte sich als der Besitzer der Garage in Selnik, die mir im Sommer die Antenne vom Wagendach wusch. Selnik heisst auf Deutsch 'Ost-' oder 'Östlich'; im Volksmund sagt man seit langen "östlich von Eden", da man ja von Ludbreg sicherlich nicht ohne Ironie behauptete, es sei Eden! (Kazans Film ist natürlich allen bekannt...) Kain händigte mir ein offenbar hübsches kleines Gedicht auf Ludbreg seines Vaters Luca aus, das ich mir übersetzen lassen werde und vielleicht nachgeschönt hier einfüge. Dessen Frau war eine Batthyány, aber wohl kaum mit unserem Grafen, geschweige dem kopflosen, verwandt.
Kain, Petrac und der Bürgermeister waren gestern beim Priester und er ist mit allem einverstanden; er wollte nur wissen, ob man den Florian demontierte (verschieben und eine Sveta Ludberga danebenstellen? er würde es vielleicht nicht einmal merken). Also ein Sieg auf allen Registern. Die Varaždiner Giesserei hat Križanić organisiert. Ivan muss nun ein Gipsnegativ von seiner Scheibe machen; das kann er offenbar, weil er mal Zahntechniker war und Goldzähne goss (würde man aus freien Goldstücken heute kaum anzunehmen wagen; ein Goldmund ist er ja nicht gerade!). Kain und Petrac fahren nächste Woche nach Murano, um Mosaiksteinchen einzukaufen.
Ich werde also hier sofort den Einpeitscher spielen und jeden drängen, sein Scherflein selbst ins Feuchte zu bringen, wenn’s sein muss. Wenn alles in Butter ist, kann ich vielleicht doch noch am 22. entweichen. Heute abend muss ich Ivan noch ein bisschen zur Hand gehen, gewisse Unschönheiten der künftigen Bronze-Ludberga zu überschminken.
Das seytelin endet; min herzenslieb nimmer; immer: fawn dynster!
(188) Ludbreg, Dienstag 12.3.1996; 6.30
Nymph,
seit gestern nacht riecht es nach Schnee und die graue Tünche über dem Land erstickt selbst mein armes Hirn. Vor einem Jahr hatte man jetzt schon die Reben geschnitten und an den Bäumen zeigten sich die ersten Zeichen von Regsamkeit. Heuer klaffen überall nur die Wunden des schweren Winters auf: gebrochene Äste jeder Dicke hängen leblos zur Erde und verleihen ihren Trägern etwas trostlos Resignierendes; wer wird sie je stutzen, begradigen. zurechtsägen, in diesem Lande vergessener Kosmese und so liebloser Gleichgültigkeit gegenüber der Natur. Der zu nährende Wanst, die zu wärmende Haut ist den Kroaten jetzt näher als der zu bürstende Rock und die Blume im Knopfloch, aber hat man Kultur jeder Farbe einmal aus dem Auge und dem Herzen verloren, braucht sie Jahrzehnte, um wieder auszuschlagen. Den Garten Eden hat man hier vom Erdreich her verwüstet, nicht vom Stil der Bepflanzung. Die Hässlichkeit wabert schon in der Lymphe der Dinge, überzieht nicht nur die Rinde.
Holyland ist so ein Herpesmal des Unsinns und der Unnatur, das auf einem Boden von Ignoranz und Traditionslosigkeit, Arroganz und Gewalttätigkeit gegenüber Geist und Natur gedeiht. Seit 1739 hatte man es gelobt und geplant in immer wieder neuen zeitgemässen Erscheinungsformen. Was übrig blieb, ist die schale Betonhülle einer geistesentleerten, einst glühenden Idee, die Land und Leute der gesamten Podravina befeuert hatte: die alten Pläne, die man jetzt wieder herumzeigt, zeugen von einer Selbstverständlichkeit, die HB-Kapelle harmonisch ins parkartige Umland zu betten und mit Bäumen zu zieren; ein Hohn, was man nun zwischen Bahndamm, Bednja, Asphaltschneisen, Sportplätzen und Sozialbunkern aus der alten pankroatischen Idee eines katholischen Glaubenszentrums geschaffen hat! Nicht ein Centrum Orbis Terrarum, Mittelpunkt des Erdkreises, sondern CENTRUM ORBIS TERRORUM. Mittelpunkt aller Schrecknisse. Nicht Umbilicus Mundi, der Nabel der Welt, sondern einen UMBILICUS IMMUNDUS, Schmutznabel. Jenseits von Eden. Jenseits von Gott.
Ganz durch Zufall fabulierte ich Dir vor Monaten von Herkules auf Gibraltar, wo die berühmten Säulen des Herkules gestanden haben sollen, von denen Pindar vor zweieinhalbtausend Jahren sang, "bis hierher und nicht weiter" (- habe man die Meere zu befahren). Jene Säulen (im Wappen Gibraltars und anderer verwandter Orte mit der Inschrift "non plus ultra" versehen) galten somit als die Grenzsteine der bekannten Welt, waren Ende Europas, der Terminus mundi, Weltende. Somit hätte ein geographisch minder versierter Römer etwa Ludbreg als am anderen Ende Europas und der Welt liegend eingeschätzt; im übertragenen Sinne aber im barbarischen, unklassischen Uneuropa der Antike, gleichsam an den Antipoden von Kultur; mit der Auflösung des balkanischen Grosstaates und mit einem mörderischen, auch geistigen Zerfleischungskrieg ans Ende der Humanität gelangt, die Selbstzerstörung einer säkularen Kultur vor Augen, würde ein Heutiger versucht sein, jenes Urteil wiederzuerwägen. 'Bis hierhin und nicht weiter' enthält aber auch einen Funken Hoffnung, dass es von nun an nur noch besser werden kann, wieder aufwärts gehen muss. Alle Bodenlosigkeit hat schliesslich ein Ende; in Antibodien, gerbduL oder in der Antipodravina, wie man es immer nennen will. Die Gründung des Ludbreger 'Mittelpunkts der Welt' ist vielleicht ein Symbol dieser notwendigen Erneuerung: bist Du im infernalischen, also animalischen, überhitzten, unmässigen Zentrum einer Kugel, führen alle Wege an die oben- oder höherliegende Peripherie, gleichsam in die kühleren und gemässigteren Zonen des Geistes. Josko Martinovic, der Moderator Fernsehreihe "Živa istina" (Lebendige Wahrheit"), in die wir fast durch wundersame Zufälle mit unserem 'Mittelpunkt der Welt' geraten sind, hatte dies unbewusst mit seinem Tennisball dargestellt, als er vor der Kamera veranschaulichte, dass das Zentrum der Welt überall sein könne.
Mein Plakat mit der Florianssäule kopfunter erscheint mir im nachhinein mehr als ein blosser Ulk: eine Art christliche 'Säule des Herkules' (den sich die christliche Ikonographie bekanntlich einverleibte als ein Symbol der Tugend, der Umkehr, der Besinnung) versinnbildlicht da gleichnisartig ihren Antitypus. Antiflorian wendet sich warnend zum Erdmittelpunkt und vergiesst sein die korrumpierenden Feuer des Instinkts löschendes Wasser. Wasser der Reinheit, der Läuterung, der Klarheit des Gedankens.
12.00. Seit seiner Bigamie mit Ludberga wird Ivan zunehmend von den Künstlerkollegen Kapusta und Velimir aber auch von Željko gemieden; und seit man ihn filmte, seine Portraitgalerie in der Gemeinde anzukaufen sinnt und man sein Einvernehmen mit mir fast täglich spürt, schlägt die Eifersucht so hohe Wogen, dass man ihn kaum noch grüsst und jeder seinem Mittagessen nachgeht, wenn’s ihm passt. Die Schlossfamilie ist regelrecht auseinandergebrochen, die einst so verbindende Musik erstorben. Als erfolgloser Clochard, den man für ein Butterbrot ohne Butter beschäftigte, war er gut genug, der weise greise Narr des Hauses zu sein, dessen Wein man vertrank und zu dessen unerschöpflichen Weisen man sogar tanzte. Seit man ihn in weiterem Kreise ernstzunehmen beginnt, feindet man ihn an, oder genauer, ignoriert man ihn absichtlich. Die Menschen um ihn herum spüren, dass er, so talentarm, undiszipliniert, unintellektuell und altmodisch er auch immer sein mag, etwas hat, das ihn allen überlegen macht: Freiheit. Und das Bewusstsein seiner Nichtigkeit. Sein instinktives Wissen um die Relativität allen Tuns verleihen seinen struppigen Bartstoppeln Würde, seinem mythischen Zahn Respekt und seinem Blähbauch Ehre. Mögen seine Erfahrungen vielseitig, aber disparat sein und seine Anschauungen einseitig und manchmal borniert; sein Zuhören und Zusehen ist von seltener Wachheit und Menschlichkeit und wenn er sein kleines gelbes Wörterbuch zückt, ist die gesuchte Übersetzung, nach der er mit Hartnäckigkeit blättert, stets ein treffender, fragenklärender, synthetisierender Begriff.
Zorbas, für einmal ein Kroate.
15.05. Keine Seele mehr im Haus. Wozu soll ich da weiterkratzen? Eigenartig, diese verbissene Manie, freizulegen; sie muss zu meinem Charakter gehören, an allem herumzubohren und nach Gründen zu suchen. Alle, die hier gekratzt haben, gabens irgendwann erschöpft und angeödet auf; ich tus seit einem Jahr und bin froh, wenn man mich darin nicht stört; ein Drittel meiner Texte und Ideen entstehen dabei. Ludberga ist freigekratzt worden wie Lucy-Galatea aus dem Schiefer von Paphos. An den Ludbergern und Antipoden kratze ich noch bis Ostern oder Pfingsten oder bis St.Nimmerlein (sie sind unerschöpflich)...
Kratze ich an Dir etwa auch? bzw., stört es Dich? Vielleicht tut’s weh? Wehre Dich und kratze zurück; Frauen sind Meisterinnen darin, sagt man!
16.15. Die Wolken verhielten ihre Fracht bis jetzt; aber nun nieseln sie ein Schneestäubchen, als müsse es durch Nadelöhre passen. Schneenebel.
17.10. Wieder mal Mist gemacht, aber mein Maschinchen war intelligenter als ich und hat ins Leere gespeichert, wo ich’s glücklich wiederfand; sonst wäre Obiges wieder im Eimer gewesen und meine Laune auch. Die ist ohnehin nicht rosig: seit drei Monaten hätte Ivan einen Teil des Hausmeistersalärs bekommen sollen; V. sagte mir in Zagreb 50%; später berichtete Velimir von zugesagten 30%; aus dem heutigen Zahltag geht hervor, dass sich überhaupt nichts geändert hat. Entweder ist jemand niederträchtig, will provozieren, oder es stiehlt wer. Morgen schlage ich Krach, wenn die Herren Popanze und Eccellentissimi maffiosi daherkommen.
18.30. Nymph, bester, was machst Du wohl; ich würde ja so gern mal am Draht naschen; anderseits könnte ich auch der Disziplin halber das Seitchen zuendeschreiben und Dich danach mit grösserer Gewissheit vorfinden... Ludbergas Finale werde ich heute kaum noch beginnen; ich brauche eine längere Nacht um morgen zum Streiten fit zu sein. Der Schlosskoller tut das seinige, auch wenn’s mich nicht sonderlich in meine einsame Kajüte zieht. Ach, wenn ich nur mal zehn Zeilen von Dir hätte, säh's sonniger aus, am Omega der Welt! Nicht mal einen besseren Fernsehfilm gibt’s auf den hiesigen drei Kanälen; jegliche Ablenkung muss man sich aus den eignen Fingern saugen! früher gab’s die Französinnen, die Stuttgarter, Sieglinde oder Stefan, Xenia oder Edita; selbst Darvin war ein Unterhalter; jetzt ausser Ivan niemand und nichts, nichts, nichts...
Und kein erlösendes Wochenende in Sicht! Trauerküsschen. Faun.
(189) Ludbreg, Mittwoch 13.3.1996; 6.05
Nymph,
fünf vor sechs hat man Mühe, über Ludbregs Hauptstrasse zu gelangen, so dicht ist der Verkehr von schattenhaften Menschen, die von und zu ihren Fabriken hasten; ungezählte Menschen, die man nie sonst zu Gesichte bekommt; anonyme Zelebritäten, die den Gang des Alltäglichen am Leben erhalten, damit man sein täglich Brot, den alljährlichen Schuh, die lustrale Joppe und die lebenslange Konsumimpfung bekommt. Einem Aussenstehenden am Strassenrand benimmt es den Atem, zu wissen, dass es 99 freiwillige Sklaven braucht, um einen Clochard wie mich durchs Leben zu lotsen und dass diese Menschen sich 99 von hundert Stunden ihres Lebens an Bewusstlosigkeit verdingen, ob in der sogenannten Arbeits- oder der sogenannten Freizeit, von der Illusion getrieben, dass es in diesem monotonen Schichtwechsel einen Unterschied gäbe. 99 von hundert werde abends vor den diabolischen Medieninstrumenten dösen und ihr kostbares Leben verflimmern lassen und 99 von hundert werden sterben und nicht wissen, dass sie schon lange tot sind. Aber keiner wird einmal die erhoffte, beschworene, versicherte, erträumte, ertrogene, erbetene, erkaufte Wiederauferstehung erleben, für die sie 99 von ihren kümmerlichen hundert Jahren hingegeben haben.
Es schneit nun einen heiligen Ernst vom Himmel herunter, als wollte es nie wieder Frühling werden, der eigentlich in einer Woche Einzug halten sollte. Das weisse Rieseln verschluckt das Morgengeläute, das Bellkonzert der Dorfköter, das Brummeln der Motoren und selbst der Morgenzug scheint durch eine zugeschneite Kehle zu keuchen. Da wird wohl niemand aus Zagreb kommen, wenn’s nicht einmal Ivan aus den Federn treibt. Glatteis lauert unter dem scheinheiligen Watteflausch und heute wird’s zur Schadenfreude Kains, des Garagisten, Hekatomben weniger Vehikel geben.
Nun kommt Ivan kopfschüttelnd und meint was gäbe es besseren Beweis für Ludbregs Mittelpunktderweltlage, als dieses antiparadiesische Antiwetter. Wenn sich Adam und Eva erst nach dem Sündenfall bekleideten, was hätten sie gemacht, wenn’s in Eden plötzlich so sündhaft geschneit hätte? Im Kopfumdrehen das nächstbeste Fell abgezogen, wäre arger Spielverderb gewesen! und was zieht man sich an, wenn man das Spinnen und Weben mangels Sündhaftigkeit nicht gelernt hat? sich bemosen lassen, à la Marquez? Ein Feigenblatt hat noch niemanden erwärmt, es sei lediglich für das Darunterliegende. Du siehst, das Sündigen war eine modische, bzw. bekleidungstechnische Notwendigkeit; nicht minder davor wie danach: ohne Kleider half nur die Reibungswärme, am Tag danach ging die Plackerei am Spinnrad los und was hilft da für Abwechslung?
Als ich ob meines zu frühen Zubettgehens schon um vier erwachte, packte mich beim Sinnieren plötzlich die panische Ahnung, dass ich mir mit meiner selbstverfassten Apologie für Dein briefliches Schweigen einen Bärendienst erwiesen hätte. Nun könnte ich nicht einmal mehr Dein schlechtes Gewissen entzünden. Ich würde weder für unsere Briefromanze noch je später noch Briefe von Dir erhalten: mein Blankoschein, vom Löschsand rechtfertigend getrocknet, würde Dir die letzte Motivation rauben, mir etwas von Dir, über Dich zu erzählen (wobei es ja nicht um das WAS, sondern mehr um das WIE geht, das Dich und Dein inneres Leben zu zeichnen imstande ist und das so unendlich reizvoll war). Ohne erzwungene längere Trennungen würde man sich nicht mehr schreiben, schon gar nicht, wenn mich Familiäres abberiefe. Eine letzte grosse Chance des sich Näherkommens ohne sich wirklich nah zu sein, verrinnt nun buchstäblich im Sande Deiner unumgänglichen Pflichten. Offenbar gibt es keine Alternative, als die, sich später willentlich voneinander zu entfernen, um die innere Stimme des Anderen zu vernehmen; die äussere ist zu anders und zu alltäglich, um verborgenere Dinge zum Klingen zu bringen und was wohl noch schlimmer ist, das Zutagetretende ist im Moment des ausgesprochnen Wortes für immer dahin. Das Telefon wird den Rest jener Chance zunichtemachen. Von Zimmer zu Zimmer wird man sich kaum künstliche Briefe schreiben. Ich selbst werde wieder in mein jahrzehntelanges Schweigen zurücksinken, aus dem ich nur dank Ludbreg und seinen 1111 km von Dir erwacht war. Die Vision betrübt mich, so sehr ich mich auf Deine Nähe freue und den Tag herbeisehne, die geringsten Lebenssekunden mit Dir zu teilen. Und trotzdem frage ich mich täglich, stündlich, minütlich, wie Du über dies alles denkst. Was war wohl die Bilanz dieses Jahres in Deiner Erinnerung, wie siehst Du Künftiges, was entfacht Deine Neugierde, was Deine Langeweile, was Abscheu, was Bewunderung, was bewegt Dich, wundert Dich, ängstigt Dich, freut Dich, geniert Dich, grämt Dich? Fragen, Fragen, Fragen, Fragen, Fragen....
Das Schreiben ist mir lieb und wichtig geworden, dass ich kaum künftig darauf verzichten möchte. Dir gegenüber ist es vielleicht mein einziger Schutz gegen das Altern; im Kopf bleibt man immer, sagen wir hochgerechnet diese symbolischen 33 Jahre (andere stagnieren bei 12, 16, 20 oder 25, je nach Glück oder Unglück, Blödheit oder Verstand). Du wirst erst ab etwa einem Jahrfünft erfahren, was das wirklich heisst, weil Dich dieser Prozess längst noch nicht ereilt hat (über die Koketterien hinaus, mit denen man als junge Frau zu spielen pflegt).
Wenn man nicht gerade reaktionäre politische Ideen verbreitet, oder Molralschranze ist, kann man mit einem zeitlosen Hirn sein Alter ganz gut verheimlichen auch wenn man schon an Krücken geht und längst mit seiner Hinfälligkeit die Umwelt beeinträchtigt, das Panorama ästhetisch verhunzt. Mit gewisser Geschicklichkeit kann man sogar Beweise erschreiben, dass man der Gesellschaft noch einen letzten zureichenden Nutzen erbringt, bevor sie uns asyliert und ökologisch beseitigt. Überdies ist Schreiben eine Art Altersturnen, das die Synapsen beweglich hält und Strom durch entlegene, stillgelegte Gedächtniszonen jagt. Man wird aber auch zur Teilnahme an der Gegenwart gezwungen. Wer sich allerdings nicht von 33 an solcher Übungen befleissigt hat, wird Mühe haben, später auf die fatale Talfahrt aufzuspringen, ohne sich den Versfuss zu verstauchen, den Herzrhythmus oder -ton zu verfehlen, das Gesicht, den Geschmack, das Musikgehör, Sinne oder Besinnung, oder's Augenmass und die Nase fürs Wesentliche zu verlieren.
11.40. Zum Entsetzen Aller steht mein Notebook seit heute früh neben der Predella in der Werkstatt und ich schreibe in den Kratzpausen in jenes, just, was mir in den Sinn kommt, ohne mich an meinen Schreibtisch mehr zu bemühen; schade, dass mir das erst jetzt einfällt; ich hätte Dir pro Tag sicher eine halbe Seite mehr liefern können! Nun, vielleicht wär’s dann auch für Dich zu viel geworden!?...
12.30. x Telefonate mit Stinko, Blagaj, Echterding zur Organisation des morgigen Treffens, des Freitagabendessens, der Samstagmorgensitzung, der Samstagabend-Vernissage in Zagreb. Eben rief sogar Darvin an und liess mich – halb im Scherz – fragen, ob ich eine Schlossrestaurierung mitmachen wolle, die 100 000 DM brächte (er wusste, dass ich seit September nicht mehr honoriert bin). Natürlich will der schlaue Fuchs mit meinem Namen die Ausschreibung gewinnen; in einen Scherz packt man 99 Wahrheiten!
17.45. Nofta ist krank und muss die Ludbergerei vom Bett aus dirigieren; aber er ist guten Mutes, obwohl er die Woche vor dem 29. auch noch auf Reisen ist. Er gibt der runden Marmortafel den letzten Textschliff, damit man sich nicht an den verschiedengradigen Heiligkeiten von Florian und Ludberga stösst.
Ich schliesse hier mal vorläufig. Vielleicht gelange ich heute noch mal nach Antipodien, um am Finale zu basteln....
Küsschen, Faun.
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