Zwiegespräch mit Katze.
Katze: Was machst du hier so spät?
Ich: Hallo ... ist da jemand?
Katze: Ich steh direkt hinter dir.
Ich: Eine Katze???
K: Sehr treffend beobachtet.
I: Aber... wie kommt's, dass du sprechen kannst?
K: Es ist bereits nach Mitternacht.
I: Versteh überhaupt nichts.
K: Wenn es zwölf schlägt, könnt Ihr Menschen uns verstehen.
I: So ein Quatsch. Tiere können doch nicht sprechen, komm endlich aus der Hecke raus!
K: Du hast recht Katzen sprechen nicht, sie werden nur verstanden.
I: Na so was, aber ich habe noch nie von jemandem gehört, der sich mit seiner Katze unterhalten hätte.
K: Das wundert mich nicht. Die meisten Menschen plappern mit ihren Katzen auf einem derart kindisch niederen Niveau, dass wir gar nicht antworten. Ja, was soll denn eine normale vernünftige Katze auf ein "na du süsses Putzilein, willst du fressi fressi machen", antworten?
I: Da hast du recht. Aber du musst zugeben, dass es etwas sonderbar ist, nachts vor der Haustüre von einer wildfremden Katze, angesprochen zu werden.
K: Du hast mir immer noch nicht gesagt was du hier eigentlich machst, ich beobachte dich schon eine ganze Weile, es scheint so, als könntest Du dich nicht entscheiden ins Haus zu gehen.
I: Paah, was heisst hier nicht entscheiden... ich komm nicht rein...verdammt noch mal.
K: Wieso, ihr Menschen versteht es doch, abgesehen von den ganz Jungen unter euch, durch das Herunterdrücken dieser sonderbaren Knüppel die Wand zu öffnen.
I: Meine Liebe, du hast ein winziges aber entscheidendes Detail vergessen. Der Schlüssel fehlt mir... zum ersten Mal seit ich hier in B. bin; und natürlich ist gerade heute keiner da, um aufzumachen.
K: Ah, jetzt verstehe ich, du meinst diese kleinen Metallstücke, die ihr in den Schlitz steckt. Ich dachte immer das sei so ein typisch menschliches Ritual, um sich wichtig zu machen. Ihr könnt euch ja nicht so frei bewegen wie wir Katzen.
I: Na dann zeig mir doch mal wie du hier reinkommen willst.
K: Komm mit... Schau, hier hat's eine Katzentüre im Waschküchenfenster.
I: Sieh mal einer an, du kennst dich aber gut aus.
K: Mike hat mir sein Revier vererbt. Seitdem besitze ich fünf Häuser hier in der Umgebung.
I: Mike ??? ah, du meinst Micky.
K: Er konnte diesen dämlichen Namen nicht ausstehen. Seit er erwachsen ist nennt, bzw. nannte er sich Mike. Netter Kerl, na ja in den letzten Jahren ist er ganz schön alt und gebrechlich geworden. Senil sogar – man kann nur hoffen selber nie so zu werden.
I: Da hilft nur das Wallholz, sagt der Hausbesitzer immer.
K: Du meinst deinen Verehrer?
I: Was, das weisst du auch schon!
K: Man ist ja schliesslich nicht blind. Von Frau zu Frau: ein interessanter Typ, wenn das ein Kater wäre.
I: Pfoten weg, das ist meiner.
K: Keine Angst, wir Katzen bevorzugen eher jüngere. Von platonischer Liebe kriegt man schliesslich noch lange keine Jungen.
I: Platonische Liebe, keine Spur. Da unterschätzt du den Meinigen aber gewaltig.
K: Schon gut. Aber zur Zeit scheinst du ja wieder mal allein zu sein.
I: Ach ja, und diesmal ist es auch noch für länger. Ich weiss gar nicht wie ich das aushalten soll.
K: Schreibt er wenigstens?
I: Oh ja. Blumige Briefe. Jeder ist eine Perle, die ich sorgsam auf eine lange Schnur auffädle, um sie jeden Tag zu bewundern. Und wenn er nach Hause kommt, werde ich mir die dann bis zum Nabel reichende Kette triumphierend um den Hals legen....
K: Kindchen, du bist ja ganz schön verliebt. Pass bloss auf, dass er das nicht merkt.
I: Wieso???
K: Wenn Kater – ich meine Männer, sich der Gefühle einer Frau erstmal sicher sind, werden sie leicht übermütig.
I: Meiner sicher nicht und überhaupt....
K: Pssst! Ich höre Schritte.
I: Wo?...Ah, hallo Anne, na endlich kommt wer!
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...
Soeben surrt Deine zweite Seite herein, während Venija mir Ihren kleinen dreijährigen Sohn vorstellt. Hoffentlich bemerkt sie meine Zerstreutheit nicht, die das unschuldige Blatt in meiner Hand auslöst, na so unschuldig ist es ja nicht, nachdem ich es ans erste gereiht, in meinen usurpierten Chef-Fauteuil gelehnt, genüsslich lese; eine köstliche Geschichte! Wenn Du so weitermachst, wird das Restaurieren ins zweite Glied treten müssen und ich würde mitnichten opponieren!
Inzwischen sitzen Venija und Philip am Bildschirm: die Mutter führt die Hand des Kleinen und sie zeichnen und malen gemeinsam – (wo wir doch gerade bei Katzen sind) also: die Katze mit der Maus – kritzeln mittels Paintbrush-Programm von Microsoft-Windows am blauen, sonnenbestückten Himmel ein etwas zu soft geratenes Flugzeug, aus dessen Fenster (sic!) ein bunter Fallschirm herauspurzelt...
Und jetzt sind sie wie ein Spuk wieder verschwunden und haben offenbar auch meine Übelkeit mitgenommen. Draussen plätscherts auf die Fahnenhalter-Brüstung; die beiden blauroten und weissen Fahnentücher Kroatiens und Ludbregs triefen mit müder Trauergeste in den noch immer nicht ganz angebrochenen Tag – denn dieser begann ohne das gewohnte morgendliche Krähen der Hähne in der Nachbarschaft, die wohl in ihren Federn bleiben wollten, angesichts so trüber meteorologischer Auspizien (in den Federn ihrer unglaublich fetten Hennen mein ich wohl, die, wenn ich sie gackernd um meine Füsse stieben sehe, mir jeweils das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen...).
Du siehst, Nymph, der Hunger hat sich wieder eingestellt und hätte nichts gegen ein nachgeholtes Frühstück einzuwenden – aber da kommt rettend Ivan, mich zu sich nach Hause für ein kroatisches Mittagessen einzuladen, nach welchem wir zwecks Kuchen und Kaffee gemeinsam zu Darvin nach Varaždin pilgern wollen. Glück muss man pachten, nicht erhoffen... Lass Dich küssen! Faun.
(7) Ludbreg, Sonntag 5.2.1995; 19.00
Nymph, mistelbekränzter,
Sieglinde Pfefferkorn ist eingezogen, ins Ehebett mit dem wenigen Zimmer drumrum, man traf sie im Weichbild des Schlosses irrend und nach einer bekannten Seele suchend, denn für einmal war niemand da, die Verfrühte zu empfangen und ich kam mit Ivan leicht angeheitert von Varaždin lediglich zur ausgemachten Zeit. Marija braute zuhaus den unvermeidlichen Kaffee und man trat die Liegenschaftsbesichtigung an, nachdem ein ganzer Golf seine unabsehbaren Innereien entleert hatte, mitsamt der bereits famosen Zeichenmappe, deren Inhalt wohl noch keinem Outsider enthüllt worden ist.
Die Einladung bei Ivans war höchst amüsant, gelang es mir doch so zum ersten Mal, in eines der ebenerdigen, mit Erinnerungen vieler Jahrzehnte vollgestopften Häuschen zu treten und zu sehen, was da zwischen Rustikavitrinen, abgegriffenem Plüsch und modernstem Elektrokram kreucht und fleucht. Eine mollige, grauweiss gescheckte Katze begrüsste mich wohlwollend, was ich als gutes Vorzeichen deutete und in der Tat hofierte mich eine strahlende, gutgelaunte Schar im besten Greisenalter: Mutter, Schwiegermutter, Vater und die gemessen an Ivan noch jung und hübsch wirkende Ehefrau; sie alle kicherten und ratschten unentwegt, während sie kochten, auftrugen und einschenkten, Ivan hingegen kommentierte unablässig seine Gemälde an den Wänden oder schleppte sie verschämt aus unaufgeräumten Zimmern herbei, um sie auf Couchlehnen zu balancieren, auf Sessel und Kommoden zu häufen; selbst auf goldgerahmte Jugendwerke bescheidensten Ingeniums mochte er nicht verzichten, denn ich hatte für alle ein aufmunterndes Wort. Der 85-jährige Vater war dann zu Tisch bei weitem der originellste, wusste er doch so manchen leidlich deutschen Witz, sah eigentlich nur wenig älter aus als der Hausherr und wurde mit zunehmendem Schwenken der Gläser des unlängst mit einer Ludbreger Silbermedaille prämiertem Weines ausgelassener, anzüglicher und polyglotter. Aber auch die Damen holten auf, nachdem ihnen meine Komplimente offensichtlich wohlgetan hatten und das verhutzeltste Dörrweibchen am Tische liess mir nun keinen Zweifel mehr, das es Ivans Mutter sein müsse, nachdem ich seine Frau anfänglich für seine ältere Tochter gehalten hatte. Es war ein hauseignes sonntägliches Huhn angeblich zu Ehren meiner Präsenz – aber wahrscheinlich auch ohne mich – geopfert und Sauerkohl (in Kernöl!), Kartoffelmus, Bohnen und Eingemachtes dem häuslichen Gärtchen entnommen worden, ja es nähme mich wenig wunder, wenn auch noch irgendwo eine winzige Kaffeeplantage zu Tage getreten wäre. Das mir zutrinkende Grossväterchen musste beim Abschied an den Rockzipfeln zurückgehalten werden, um seine Lebensbeschreibungen zu unterbrechen, die ihn aufs farbigste als Kaufmann, Unternehmer und Mühlenverwalter schilderten, aber auch als Hans im Unglück, da ihm sein Reichtum immer wieder abgeknöpft worden war, mal von den Königtreuen, mal den Partisanen, mal von den Deutschen, mal von den berüchtigten Ustascha, den Kommunisten und zuletzt von den Sozialisten..."hops!" lachte er, bei jeder der entmutigenden Etappen, "alles weg!" und sein letzter Goldzahn hüpfte vor Vergnügen.2
Von Ivans ländlichem Häuschen in Ludbregs Bahnhofsquartier zu Darvins stuckverzierter Villa am Stadtpark in Varaždin war's ein sonderbarer Brückenschlag zwischen letztlich sich berührender Welten: abgesehen von Wein und Kaffee, gab's diesmal die modernen Gemälde des Padrone zu bewundern (und solcher seiner Freunde, die auch an den neuesten und internationalsten Strömungen teilzuhaben sich bemühten); darüber hinaus forderten meinen wohlmeinenden Tribut: Darvins skurrile Holzklotz-Skulpturen, seine überraschend gebildete Frau (er hatte sie nur als Eifersuchtsdrachen geschildert!) und deren gehätscheltes Steingarten-Arboretum mit japanischen Miniaturbäumchen, das laubüberhäufte Schwimmbad neben dem geklinkerten und marokkanisch gekalkten Barbecue-Grill-und-Pizzaofen-kiosk, dann das aus den Nähten platzende, bis an die Decke gekachelte Atelier, die von Lämpchengirlanden glitzernde (eines Facteur Cheval würdige) Souvenir-Hausbar, und die von Glückselefanten verschiedensten Materials und nicht immer originalster Heimat bestückten Bibliotheksregale, die bärbeissigen Ordonanzpistolen und kriegerischen Beutetrophäen serbischer Provenienz, schliesslich das scheue Dreizehnmonats-Kind mit den asiatischen Lidern, der joviale Mittelstands-Schwiegerpapa mit seiner Sippe, der sich gerade, vor der Sonntagnachmittagsspazierfahrt zu fliehen, aus dem Staube machte...
"...Darvin ist ein guter Mann", meinte nach längerem Schweigen Ivan auf der Rückfahrt nach Ludbreg und ich hatte nicht das Gefühl, dass der fast kümmerlich wirkende, aber modeste Bohème sein etwas lärmig sich selbst zelebrierendes Gegenstück beneidete...
Faun.
(Sonntagabend, 6.2.1995; 18.10)
retsbeiL nuaF (was das wohl auf kroatisch meint?)
Ich habe mir schon oft vorgenommen, Tagebuch zu führen. Bin aber über ein paar kümmerliche, kurzatmige Anläufe nie hinausgekommen. Zur Entschuldigung habe ich mir dann jeweils gesagt, dass es sowieso altmodisch sei und zudem etwas Buchhalterisches habe. Tagebücher sind eigentlich zum Nicht-Gelesen-Werden verurteilt. Diejenigen, die sie lesen wollen, dürfen nicht und jene dies können, tun's nicht. Wer möchte schon seine kläglichen Erinnerungen auffrischen. Zugegeben, es könnten ja auch schöne Erlebnisse darin stehn, aber hat man die nicht ohnehin im Kopf...? Zum Glück gibt's Leute, die sie trotzdem niederschreiben. Was ist schöner, als seine Neugier in den Tagebüchern anderer zu befriedigen! Hast Du jemals eins geschrieben (ausser dem, leider vorzeitig abgebrochenen Reisetagebuch, das ich schon kenne)?
Dir, Meinster, zu berichten, ist viel anregender als mit einem stummen, alles gleichmütig hinnehmenden Tagebuch zu "dialogisieren". Ich habe erst jetzt entdeckt, dass Briefeschreiben Spass macht. Vor allem, wenn die Übermittlungszeit sich in Sekunden bemessen lässt (es lebe die moderne Technik!). Ich muss zugeben, dass mich unser eiliger Kauf in M. etwas besorgt hatte. Wie konnte ich ahnen, dass Du so ein überschwenglich epischer Faxschreiber (zuweilen auch -enmacher) bist, nach den fast vier Jahren Schwellenangst. Sechs Tage bist Du nun in Ludbreg und genau so viele Blätter sind angeflogen, fast Kafka'sche Zustände! Und ich lasse Dich mit meinen wenigen Zeilen verhungern...
Mir kommt's vor, als hätten wir uns schon seit Wochen getrennt. Eigentlich sollten doch die vielen Briefe die Zeit verkürzen, aber es ist das Gegenteil der Fall. Früher begnügten wir uns mit dem Telefon, es wurde sozusagen "gegessen was auf den Tisch kam". Aber jetzt, da die Delikatessen probiert, auf der Zunge zergangen und verschlungen sind (sie lassen sich übrigens in Faxpausen genüsslich wiederkäuen), bin ich ein für allemal auf den Geschmack gekommen. Die Zeiträume zwischen den Sendungen türmen sich zu Geduldsbergen, die ich nur mühsam mit gespielter Geschäftigkeit abtrage. Mein Armer, pass auf, dass ich nicht eines Tages durchs Maschinchen krieche und Dir die Seiten entreisse, bevor sie gefüllt sind.
Du fragst mich, wie die "Kreuzersonate" auf mich gewirkt habe. Ehrlich gesagt, wusste ich erst gar nicht mehr, um welche Novelle es sich handelte. Ist es jene, in der ein eifersüchtiger Mann seine Frau ersticht, weil er sie in flagranti beim (vorerst) nur unschuldigen Dinieren erwischte?
Es ist jetzt halb zehn, ich sitze in meiner zugigen Ecke im Atelier (gleich neben der Türe) und täusche angestrengtes, ernsthaftes Arbeiten vor. Derweil ich Dir noch ein paar heimliche Zeilen zuklickere. Ich habe befürchtet, dass mit der Anwesenheit von S. Deine freie Zeit begrenzter würde und die Schreibflut abnähme. Aber das Unerwartete von heute morgen wischt meine Zweifel vom Tisch. Ivan und Darvin – zwei perfekte Gegensätze, wobei ich mich im Umkreis Ivans wahrscheinlich wohler fühlen würde. Du scheinst Dich ja schon recht gut eingelebt zu haben, oder entspricht es der Landessitte den "Chef" am Sonntag zu sich zu laden?
Heute nachmittag ist ein Gespräch mit Völkle angesetzt. Wir konnten uns nur durchsetzen, weil wir uns alle auf einmal auf ihn stürzten und er nicht mehr ausweichen konnte. Nur recht widerwillig hat er uns einige Praktikumsstellen und Diplomarbeitsvorschläge versprochen; ich bin ja mal gespannt. Es war natürlich eine bare Ausrede von mir, das längst fällige Bewerbungsschreiben an Halbert zu verschieben und statt dessen an Dich zu schreiben. Aber heute abend (ich versprech es hoch und heilig) werde ich mich hinter die "Schiefertafel" klemmen und arbeiten (sollte V. keine neuen überzeugenderen Ideen auftischen).
Mittlerweile bin ich wieder zu Hause und möchte Dir nur noch berichten, wie unser Gespräch verlief, ums dann noch heute abend loszuwerden. V. war grossartig! Er hat sich sage und faxe zwei Stunden Zeit für uns genommen und wirklich gute Tips gegeben. Jeder hatte der Reihe nach seine Wünsche und Vorstellungen geäussert, wobei komischerweise die Frauen genaueste Vorstellungen von Praktikumsplatz und Arbeit hatten – die Männer nicht! Mein Sandthema fand er "top" und war gern bereit, einen Bewerbungsbrief für H. mit mir aufzusetzen, um, wie er meinte, dem Ganzen einen etwas offizielleren Anstrich zu geben (für eine Museumsstelle wohl ganz nützlich). So werde ich heute abend mit einem ersten Briefentwurf beschäftigt sein und hoffe auf ein Telefongrüsschen von Dir. Deinster.
PS: Die Sache mit dem Mistelzweig ist längst verjährt und kaum noch aktenkundig zu machen!
(8) Ludbreg, Montag 6.2.1994, 18.30
retsbeilrella hpmyn !
welch Eingebung zog mich zum Telefon, bevor ich heimwärts traben wollte, hatte ich doch gar nicht erwartet, noch ein billet d'amour auf der Piepsrolle vorzufinden! Nun bleibe ich noch ein Weilchen, geniesse Deinen Brief, dieweil S. im Nebenarbeitsraum irgend etwas Nützliches auf einem nämlichen Maschinchen verfasst. Das Schloss leert sich nur langsam nach so einem geschäftigen Tag: Montags scheinen alle sich das schlechte Gewissen von der Vorwoche abschuften zu wollen; ich habe sie nie so fleissig gesehen – oder ist es pfefferkornsche Schärfe, die sie so ausser Atem hält? Auch ich habe endlich etwas materiell Sichtbares geleistet und bin davon erschöpfter als von zehn Seiten nymphomanischer Faxerei! Endlich haben wir ein Programm und ich bin glücklich bei den Auszugsbildern gelandet, wo ich ungestraft nach Herzenslust freilegen und reinigen kann; das hoffnungslose Festigen halbvermoderter überbronzierter Altarfragmente brächte mich auf die Dauer noch um – was Du doch wohl auch nicht gerade schätztest – Hm?
Eben kommt Ivan von seinem Weingarten mit einer frischen Kanne seines köstlichen Weins zurück; d.h. es gilt, ein Fass des neuen 95-gers anzustechen; Nymph, ich kann nicht anders als Dir für ein Minütchen untreu zu werden – sein Wein ist zu göttlich und verzeiht dem Produzenten alle seine naivmalerischen Gehversuche! bis sofort –
22.00 – sofort ist gut; Ivan hat uns heimfahren müssen, hatte ich doch das ungute Gefühl, meine Beine bestünden nur noch aus schwanken Drähten. Aber Du siehst, meine stahlsaitige Disziplin verlässt mich nicht, obwohl soeben meine (vorletzte) Birne durchbrannte und Marija schwor, sie hätte keinen Ersatz und ich könne ja auch morrrgen schrraiben... die Birrrnen gingen ja auch nur kaputt, weil ich immmer schrraiben... Da sich ein Computer selbst erleuchtet, was er vor einem gut Teil der Menschheit voraushat, kann ich Dir wenigstens noch eine gute Nacht wünschen und daraufhin meine desorientierten Gehirnwindungen leidlich westöstlich auslegen, um Ivans feuchte Hypotheken loszuwerden. Dieweil konnte ich S. an Marija abtreten, die uns schon verschollen glaubte und wohl eine geschmälerte Miete befürchtete...
Nein, ein regelrechtes Tagebuch habe ich nie wieder begonnen; 1955, war es das erste und letzte Mal, auf einer Reise mit Vater und Schwester von L. über Como, Pavia und Tellaro nach Rom, – ein emphatisches, etwas altkluges, karikierend tusche-illustriertes 24-Seitenfragment. In der Zwischenzeit übermannte mich lediglich eine zehntägige Reise nach Apulien, um unterwegs literarisch zu meditieren, aber das sind „les neiges d'antan“, an die ich mich ungern erinnere, weil ich damals gegenüber der unverdient verklärten Adressatin eine allzu tragikomische Figur gemacht haben muss. Mein Vater vertrat eine Kategorie von Tagebuchschreibern, die nicht unter die von Dir genannten passt, nämlich die, die man lesen möchte, aber nicht kann: schrieb er doch ein halbes Hundert jener kleinen schwarzen Wachstuchbändchen in einer kyrillischen Miniminuskel der einstigen "Deutschen Schrift" die niemand bis heute entziffern konnte. Schade, denn deren Inhalt dürfte nicht nur poetisch und besinnlich sein, sondern zeit- und geistesgeschichtlich von Belang. Er wollte mich immer wieder, namentlich auf einer Jugoslawienreise 1956, wo wir das heute kroatische Inselchen Rab mit dem Faltboot umfuhren, zum Tagebuchhalten verleiten, was mir als Grund schien, es obstinat nicht zu tun, obwohl mir der Wert einer solchen Tätigkeit einleuchtete.
Aber meine Zeilen sollen und können auch nicht zu einem regelrechten Tagebuch ausarten; es würde Dir wie mir über kurz oder lang Luft und Laune ausgehen, weil es etwas – wie Du es so schön ausdrücktest, Buchhalterisches bekäme. Lieber will ich mich an keine Regeln als die des Übermittlungshandbuches halten und mehr Ein- als Ausgemachtes, mehr Ausge- als Vorbedachtes von mir geben. Und überhaupt weiss ich inzwischen kaum noch, wie Tintoretto mit Vornamen hiess! Und in der Tat ist S.s Präsenz einschränkend schon auf meinem "Schulweg", wenn ich nicht mehr frei vor mich hinspintisieren kann, ausheckend, was ich Dir etwa an Übermütigem zutasteln könnte. Nun, wir werden sehen, Deine Antworten sind jedenfalls immer so anregend, dass ich's kaum erwarten kann, mich zu revanchieren; wenn Du fleissig antwortest, worte ich um so emsiger, reine Klettenredaktion...was ist Dokumentionn von Libää, nicht wahrrr?
Gleich schlägt Deine verwünschte Wanduhr zwölf, also gehen wir mal bettwärts; wenn nur nicht die 1111 km dazwischen lägen! Faun Deinster.
(9) Ludbreg, Dienstag 7.2.1995; 18.15
sim ilhpmyn!
ich bin von einem denkwürdigen Tag in meine Klause zurückgekehrt. Er war völlig überlagert von den Geburtstagsfeierlichkeiten, die uns der sonst eher verschlossene Željko, der Hausmeisterschreinermechanikerelektriker angedieh. Er feierte seine 45 Lenze mit einem Festmahle, das er und seine Frau Zdenka bereitet hatten und das so gut wie den ganzen Tag dauerte. Da mir seine Pilzkennerschaft schon von ihm selbst und anderen hinterbracht worden war, wunderte ich mich nicht, dass es zum Auftakt eine Pilzsuppe gab, dann einen wahrhaftig geschossenen Hasen zu köstlichen Knödeln, begleitet von einer Steinpilzsosse und einem Pilzsalat aus Geissbart, Pfifferlingen und anderen, mir weniger bekannten Sorten, die wir mit Salz, Pfeffer und Gottvertrau verspiesen. Es schloss mit zweierlei Quarkstrudeln, mal salzig, mal süss (aber ohne Pilze!) und wurde so üppig mit Ivans Wein begossen, dass ich noch immer Mühe habe, einen geradlinigen Satzbau durchzuhalten. Aber das gewaltige Essen war letztlich nur der geringere Teil einer rauschenden Fröhlichkeit, die nur für eine knappe Gedenkstunde restauratorischer Geschäftigkeit unterbrochen wurde, um wieder loszubrechen, bis sie jäh gegen sechs fast spukartig ausklang, indem die Teilnehmer, ich weiss immer noch nicht wie und warum, plötzlich verschwunden waren und wir an Abschiedszeremonien gewohnte Germanen allein in den leeren Gängen standen.
Aber hör, was sich in der Zwischenzeit ereignete: Željko hatte eine Ziehharmonika mitgebracht und stimmte zum Kaffee ein erstes Lied an, in das unser halbes Dutzend Kroaten stimmgewaltig einfielen, voran Darvin mit einem nicht unmusikalischen Tenor; die Gläser, immer wieder neugefüllt, schepperten kirr und das Repertoire unseres Pilzglücklichen an nationalen und importierten Melodien war beachtlich. Aber dann erbat sich der schüchterne Ivan das Instrument und die Stimmung schwoll zu einem Crescendo an Sentimentalität, Lautstärke und Vibrato. Darvin war nicht mehr zu halten, tanzte, pantomimte, sang sich bis zur Erschöpfung von Slowenien bis nach Mazedonien, die anderen fielen ein, klatschten, trommelten, schnalzten, rasselten mit dem Besteck und schlugen an Gläser, Tassen und Teller; es gab kaum einen kroatischen Schlager, den ich nicht irgendwann oder irgendwo in meinem Leben in der Urform gehört hatte, ob "santa Luciaaaa", den "dritten Mann" oder "arrrrivederci Romaaa", neu und aufregend waren jedoch die Lieder aus Ungarn, Bosnien, Albanien und Herzegowina, die mit Ironie und ulkigen Faxen Darvins begleitet wurden; die serbischen Weisen waren natürlich Anlass tobenden Spottes. Auch steirische Schuhplattler wurden von quietschenden Juchzern allerseits unterbrochen und man entbrach sich nicht, auch den letzten Tango und schmalzigste Evergreens aus der Mottenkiste zu ziehen; Ivan kannte alles, kam jedem Wunsche nach und jedem Stück verstand er eine persönliche Note anzugedeihen; man bekam das Gefühl ein ganzes Kurparkkonzert habe sich eingefunden, einen Wettpreis zu erstreiten. Hin und wieder sang er selbst, als gelte es zwischen Zahnlücken und Goldplomben Kricket zu spielen und seine tausend Fältchen wanderten alle ins hintere Drittel seines Gesichts, die so oft etwas abwesenden Hundeaugen wurden rührig–feucht und jähe schöpferische Begeisterung verlieh seiner spärlichen Künstlermähne für Augenblicke etwas Heilighaftes.
Erwartungsmässig wurde man zunehmend lauter und ausgelassener, nur noch S. vertrat die standhafte Weiblichkeit, die dem Geburtstagskind die Lust auf Tanz und balkanische Zärtlichkeiten weckte, aber lediglich besorgte Verlegenheit auszulösen vermochte; diese nutzte ich schliesslich zwischen zwei Arien, einen dringlichen Heimweg vorzuschlagen, was der mittlerweile heiseren Gesellschaft nicht ungelegen kam, waren doch alle wie bereits gesagt plötzlich wie aus einem löchrigen Fass ins Weite geronnen...
S. hatte ihren ersten Dienst-tag und war ob der Ludbreger fröhlichen Urstände anfänglich mehr als überrascht. Immerhin gelang es ihr, am Morgen über Rissverklebung an Gemälden zu dozieren, während Darvin sie, statt zuzuhören, filmte; die nachmittagliche Pause nutzte man, das Aufgezeichnete dann kommentarreich wieder abzuspielen, dieweil man randvolle Gläser ins Fernsehzimmer nachtrug... Der musikalisch-kulinarische Schock von heute ist vielleicht geeignet, S.-ens etwas altkluge und betüterische Saiten umzustimmen oder ihre deutschen Kanten zu erodieren. Immerhin nimmt sie lebhaften Anteil an Deinen modernkünstlerischen Diplomfragen, die sie alles andere als auf Sand gebaut bewertet. Sie ist eine geborene Lehrerin und ich wünschte ihrer heutigen Bewerbung nach Wien jedwelches Glück. Ihre beredten Fachkenntnisreseven sind zuweilen so entwaffnend und ermüdend, dass man mit einem Seufzer der Resignation die Lehren der Vergangenheit, Erfahrungen und mühsam erstrampeltes Wissen in den Kamin schnitzelt und sich fragen muss, ob man nicht schleunigst noch mal den Beruf wechseln sollte. Ich wähne Dich, Nymph, so wahr Du Dich in Deinem Necknamen spiegelst, davor immun, am Kunstwerk nur noch technologische oder klimatische, physikalische oder chemische Knuspereien zu wittern; das Geniessen seiner Aura und Botschaft sollte auch durch eine Ruine noch hindurchschimmern dürfen und die Relativität seiner ephemeren Existenz ist schliesslich Teil seines Reizes!
Dich soeben zu hören, war mir wie Balsam auf meine wunden Innereien, die vegetativen meine ich, die vom heutigen Tag reichlich mitgenommen sind. Dass man vom Schloss inständig anrief, man sollte zum Weiterfeiern zurückkommen (offenbar war man nur ausgeflogen, in Ivans Weinberg für feuchtfröhlichen Nachschub zu sorgen) liess ich wie Sirenengesang ungehört verhallen, abgesehen davon, dass S. soeben einen gut Teil der zugenommenen Viktualien wieder von sich gegeben haben will und um nichts in der Welt den Weg zum Schloss unter die Füsse oder Räder zu nehmen schwört.
Damit Nymph, bin ich am Ende meiner heutabendlichen Leistungskraft; nicht mal zu Tolstoi wird's noch reichen, aber der Gedanke, Du seist gerade am Verfassen eines Briefes – das Wort ist mir lieber als das scheussliche "Fax", auch wenn unsere Katze in L. diesen Namen mit gnädiger Duldung seit vorcomputrischen Zeiten trägt und mir nur eins auswischt, wenn ich sie allzu kindisch Faxylileinchen beschnuckelputzliebsbüsilire – ermuntert mich gewiss noch lang, wenn ich die Lampe gelöscht, die Decke über die Ohren gezogen und die Zehlein gefaltet habe...
Nuaftteb reginied! (zu steirisch: nua afm Bed regsdinimma, oder bayrisch: nua an Depp kriagt mi ina, oder zu kroatisch: regdinid uuf, s'Bett isch z'chlii...)
NUAF (Navigiere Unter Anderer Flagge).
(Nur Unsre Alte Floskel)
(Nach Uns Allahs Fluten)
(Nie Umgarne Andere Fäune!!!)
nuaF.
(10) Ludbreg, Mittwoch 8.2.1995, 18.30
Hpmyn, retsbeilrella
Heute lag allgemeines Schweigen über dem Schloss und jeder ging fast wortlos seiner eignen Arbeit nach; die katrigen Kroatenkollegen wollten es sich jedoch nicht nehmen lassen, im neuen Kochherd mit Backofen, eine gestrige Errungenschaft, auf die man trotz der hohen Verschuldung des Hauses nicht verzichten mochte, eine fette Ente zu braten, was für die Zeit des Mahles die verschwiemelten Gesichter wieder zum Leuchten und die angerauhten Stimmen wieder zum Klingen brachte.
Heute tagte die Baukommission und ich spielte meinen ersten Auftritt mit dem geforderten Ernst, der mir nach dem durchzechten Vortag nicht sonderlich schwer fiel; in München bat ich erneut um Geld und nützlichen Kram, und von meinem Bilde kratzte ich den Rest der verbleibenden Zeit, um nun für ein Stündchen mit Dir zu verplaudern, während aus dem Nebenzimmer auf der Querflöte schwermütige Etüden ertönen.
...
(8.2.1995; 8.59)
Auf dem Dachboden.
Als Kind glaubte ich, dass Gott auf dem Dachboden wohne. Ich träumte es eines Nachts und war fortan von der Realität dieser "Offenbarung" überzeugt. Von den Anderen, besonders meiner Mutter, erwartete ich dies Wissen ebenfalls. Als ich sie darauf ansprach, meinte sie nur: "das ist aber praktisch!". Die Antwort beschäftigte mich einige Tage hindurch, vor allem abends vor dem Einschlafen. Was sollte an seinem Dasein praktisch sein? Vielleicht weil er bei etwaigen Unfällen sofort hilfreich zur Stelle sein konnte und nicht erst von der weit entfernten Dorfkirche hätte herbeigerufen werden müssen. Allerdings meinte mein Vater immer: "Hilf dir selbst, so hilft dir Gott". Die einfache Logik leuchtete mir ein. Die Frage blieb also vorerst offen, wie so viele andere.
Es war ein riesiger dunkler Estrich, der durch hölzerne Lattenverschläge zu bescheideneren Dimensionen gezwungen und im mittleren freigebliebenen Teil mit einer an den Balken befestigten Wäscheleine ausgerüstet war. Diese war das Ziel der allwöchentlich stattfindenden Besuche meiner Mutter an diesem geheimnisvollen Ort. Mein Bruder und ich durften dabeisein, während die Schwester keinerlei Interesse zeigte, mitzugehen. Wahrscheinlich war sie gerade wieder einmal in einen der Jungs aus den höheren Klassen verliebt. Das Tragische dabei war nicht etwa eine unerwiderte Liebe, nein daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt, (zumal sie vermutlich mit einem echten Interessenten überhaupt nichts anzufangen gewusst hätte), sondern die Qual der Wahl. Aber zurück auf den Dachboden: Meist fanden diese Besuche abends statt, angekündigt durch den Duft der frisch gewaschenen Wäsche in ihrer Zaine. Beim ersten Klirren des Schlüsselbundes schossen wir aus unseren Verstecken, um als erste die steile Dachlukenstiege zu erklimmen. Ich war mir ziemlich sicher, dass mein Bruder nichts von Gott wusste. Aufklären wollte ich ihn um keinen Preis, um sein dummes Gesicht zu sehen, wenn Gott eines Abends aus einem der Verschläge treten würde. Er tat es jedoch nie, vielleicht war er einfach zu schüchtern. Während Mama Stück für Stück sorgsam aufhängte, tobten wir mit einem alten Dreirad durch die dunklen Gänge oder turnten auf alten Autopneus herum, die in einer Ecke gestapelt waren. Versehentlich nicht abgesperrte Abteile wurden von uns usurpiert und aufs genauste untersucht. Was es da alles zu beschnuppern gab: alte ausgediente Möbel, Bücher neben ausgetragenen Latschen, alte Kleider in Koffern und Schränken, die wir als Requisiten für unsere Abenteuer missbrauchten; ganze Kollektionen von Skiausrüstungen, Bildern und Truhen, Kisten und Pappschachteln, deren Inhalt wir gründlich inspizierten. Erwischte uns unsere Mutter (was öfters eintrat, da sie mit wahren Argusaugen über uns wachte) drohte sie immer mit sofortigem Ausschluss aus dem "Paradies". Darüber vergass ich meist nach Gott zu suchen, wie ich mir's eigentlich vorgenommen hatte.
Als mein Bruder fertigbrachte, mit Hilfe eines Stuhles den Dachbodenschlüssel vom Schlüsselbrett zu angeln, verging fast kein Tag mehr ohne einen kleinen Besuch da oben. Eines Tages fanden wir sogar eine Schatztruhe.....
Küsschen, Nymph.
...
Fast hätten sich unsere Briefe auf der Piepsmühle gekreuzt; das wäre wohl eine komische Sache geworden, zumindest kroatisch hätte es geklungen!
Dein ricordo ist köstlich und ich bin auf den Inhalt der Schatztruhe gespannt wie Ali Baba. Du bist eine vorzügliche Erzählerin mit einem herrlich trocknen Humor und bringst Deine Sentenzen so flüssig und überlegen, als sei's schon lange Dein Metier. Sollte ich je die Zeit finden, wieder Graphik zu betreiben, wollte ich Deine Geschichten illustrieren; ich wüsste bereits, wie ich vorgehen würde, ein Strich zwischen Kubin und Bonnard und verschleierte Goyagründe in Aquatinta. Das kleine Mädchen allerdings von heute morgen müsste ein wenig aussehen wie von Ronald Searle mit Laufmaschen im Strumpf und einer pfiffigen Trübe-kein-Wässerchen-Miene um damit dann doch dem Ernste Gottes schüchterner Gegenwart ins Auge zu blicken...
...Auch ich hatte in Deinem damaligen Alter keine besonders scharfe Vorstellung von Gott, obwohl man mich anhielt, beim Nachtgebet alle mir irgendwie greifbaren Verwandten seinem Wohlwollen anzuempfehlen; doch wie er deren Tun und Lassen hätte beeinflussen sollen, war mir schleierhaft, da ich mir sagte, etwas Unsichtbares und Untastbares könne schliesslich auch keine wirklichen Dinge bewegen. Immerhin war mein grösstes Vergnügen, mich selbst als unsichtbar vorzustellen und mit solch unbezwingbarer Waffe bestritt ich die grossherzigsten Heldentaten. Wenn es Gott überhaupt gab – und mein Vater schürte in Wort und Tat den Verdacht, dass er so verdünnt im Äther aufgelöst sei, dass seine Existenz so gut wie irrelevant sein müsse, so war er in meinen Tarnkappenunternehmungen zumindest ein mir ebenbürtiger Kollege ohne nennenswerte Wirkungen und Absichten; er verwaltete hingegen eine Schar von goldgelockten Engeln unter deren Figur sich höchst irdische Töchter aus der Nachbarschaft verbargen, die bei Tageslicht anzusprechen mir mein ungenügendes Alter und mein nicht zu bändigender Zwang zum Erröten verboten hätte. Gottes allgegenwärtige Präsenz in Seufzern, Flüchen und Grüssen meiner ländlichen Erdenmitbewohner hatte mich indessen stets befremdet, fand ich doch, ihn treffe meist kein Verschulden am Tatbestand, fehlten Beweggründe oder Verpflichtungen, die seine Anrufung rechtfertigten. Eigentlich tat er mir leid. Die an Zerknirschung, Busse und Beschämtheit erinnernden Prozessionen auf den Rhön'schen Kreuzberg erlebte ich mit Genugtuung und Schadenfreude, erschien mir deren Tun doch als gerechte Abbitte beim Kollegen für so viel Unmut und Last, die man ihm unwirsch vor die Füsse zu werfen pflegte. An seiner Stelle, sagte ich mir, wäre ich längst "ausgewandert" – ein magisches Wort, das damals jeder Besucher, Freund oder Patient meines Vaters im Munde führte, es wie einen goldenen Bonbon mit der Zunge hätschelte, ihn zum Neid der anderen zwischen den Zähnen blitzen liess; den unverdaulichen aber schliesslich nie zu schlucken wagte, denn auszuwandern hiess für meine Begriffe ein richtiger Held zu werden, in die gleissende Ferne zu reiten und im Abenteuer aufzugehen. Im Westen musste das sein, denn die mutlosen Gernegrauswanderer wiesen mit ihren beredten Gesten stets in die abendliche Richtung und sie meinten jenes Amerika, das mir vorkam wie ein nichtendenwollender Canyon voller friedenspfeiferauchender Apachen. Zwischen diesen hindurch wäre Gott ungesehen mit seinem Bündel immer nach Westen gewandert, bis ihn eine freundliche Ranch aufgenommen hätte, wo man ihn fortan nicht mehr behelligte; und wenn er nicht gestorben ist, so...
Später, viel später, nahm sich der liebe Gott ein Herz und besuchte mich auf dem Operationstisch. Er blickte durch ein unendliches Rohr über mir, noch bevor Hieronymus Bosch mir ein solches gezeigt hatte, und sagte mit einer aus allen Richtungen hallenden Stimme, die mehr ein Orgelfinale, als beschreibbare Worte waren "jetzt weisst Du, was es nicht ist, zu sein". Vom blendenden Ende des Rohres her bohrte sich ein Licht in mein Hirn und lösche alles Widersprüchliche aus, alles Gegenwärtige, Vergangene und Zukünftige und es schien mir, mein Dasein löse sich auf in pure Existenz.
Damit löste sich aber auch die Frage nach der Existenz Gottes auf, denn aus dem lieben Kollegen wurde ich selbst und in dieser Metamorphose gefiel ich mir eine geraume Zeit, bis mir die gehörten Worte wieder rätselhaft wurden und ihre Absolutheit verblasste. Das Leben wurde wieder ein Abenteuer und wieder weiss ich nicht, was es ist. Und was es nicht ist, kaum minder.
Faun.
(11) Ludbreg, Donnerstag 9.2.1995; 19.00
Hpmyn retsbeilrella niem
Nach dem aufmunternden Gespräch mit Dir rief ich zum ersten Mal in R. an und schilderte mein Ludbreger Leben. Auch die kleine A. bekam ich zu hören, die morgen wieder aufs Land reist und sich auf ihre Katze, die nach langer Verschollenheit wieder aufgetaucht war, freut. Noch mehr aber freut sie sich auf den Karneval in Venedig, wo sie sich als Vampir verkleiden will. Was ich mir denn anzöge, wollte sie wissen und ich war etwas verlegen; als ich meinte, ich würde vielleicht als grosse Zeitung auftreten, das liesse sich schnell und einfach bewerkstelligen, fand sie das sehr komisch und schlug vor, ich könne ja ein Papierschiffchen auf den Kopf setzen.
Wie Du Dir, lieber Nymph, ausrechnen wirst, werden wir für dasselbe Wochenende in arge Zeitnöte geraten; noch weiss ich nicht, wie ich unsere Pläne zurechtlegen soll, zumal F. nach jenem Sonntag baldigst wieder abfahren will. Das folgende Wochenende ist dann durch mein touristisches Herumführen bis etwa Sonntag mittag ziemlich gestört und nur ein geschwänzter Montag könnte die Harmonie retten; ich bin sehr beunruhigt, zumal man nie weiss, ob nicht alles doch noch anders entschieden wird. Dass ich die Ausstellung in Florenz nicht sehen kann ist ebenso unglücklich; ich müsste sie lediglich vor der Ankunft der SKR-Verbändler noch erhaschen. Die Perspektive eines weiteren Monats ohne Nymph ist jedenfalls kaum erträglich, besonders da ich während der DRV-Tagungszeit, an die S. eine Freiwoche hängen wird, in Ludbreg bleiben muss, um die Stellung zu halten und Du Deine Museumstour unternehmen wirst. Den ganzen März ist V. so gut wie ausgebucht...
Die trostlosen Prognosen nehmen mir heute jede Inspiration für einen beschwingten Brief; ich werde mich in meinen Schlafsack verkriechen und meine Düsterkeit zu überschlafen suchen; vielleicht lenkt mich Tolstoi ein wenig ab, an dessen letzte Geschichte ich allerdings gelangt bin und nun kaum noch Lesestoff besitze.
Wird jetzt doch die Wüste über mir zusammenschlagen? Aber ich schliesse lieber, als meinen Jammer auszustreuen...
(12) Ludbreg, Freitag 10.2.1995; 7.15
Nymph!
So früh war ich noch nie; aber ich beginne, mich an diese Zeiten zu gewöhnen. Es ist erfrischend, im Morgengrauen allein zum Schloss zu gehen und die abgestandenen Ideen des Vorabends und die Schimären der Nacht im Morgenwind fortflattern zu lassen. S. muss begreifen, dass ich meinen Morgenmuff mit mir selbst austrage und mit dem Kaffee der allgegenwärtigen Marija allein herunterspüle...
Dich wähne ich am Freitag noch lang in Deinen Federn, drum werde ich Dich noch nicht mit dem telematischen Jagdhorn behelligen!
Samstag abend feiert die jüngste Tochter Marijas ihren 22. Geburtstag und lädt uns zum Feiern; für Sonntag Mittag hat mich Blagaj bestellt; er wird wohl wieder irgend eine Unternehmung im Schilde führen. Hier stehen ihm gigantische Reparaturen ins Haus, da alle Türen nicht mehr schliessen und sich die Parketts verformen; wir werden ihm sein Geld so hoch hängen, dass er tüchtige Luftsprünge machen muss, um es zu erschnappen. Eine Baukommission, mit der ich vorgestern tagte, ist ihm als Maulkorb vorgeschnallt worden und man blickt mit etwas mehr Verve in seine so hochherzig behandelten Bücher. Immerhin ist ein Teil seines Enthusiasmus echt und man möchte nicht auf ihn verzichten. Ab heute erhalten wir nun eine Putzfrau vom Bürgermeister über irgendwelche administrativen Winkelzüge ausgeliehen, damit wir den Staub aus dem Oberstock loswerden, der sich wie Puderzucker über alles gelegt hatte, als man die alten Parketts herausriss (was offenbar nicht zu umgehen war; dass sie jemand fein säuberlich dann mit einem Anhänger abholte, war mehr als verdächtig, auch wenn die Riemen nur noch zu bestem Brennholz zu gebrauchen waren...)
17.00. Längst hat sich das Schloss geleert und ist der letzte Kaffee mit Željko, vor dem fast unvermeidlichen Schuss Whisky gerettet; die Sonne geht golden hinter den Weinbergen unter und die kroatische Fahne bewegt sich kaum merklich vor dem Fenster. Ein Augenblick der Ruhe, mit Dir zu plaudern.
Heute sind zum ersten Mal Darvin und S. aneinandergeraten, da ersterer recht unprofessionell an einem Altaraufsatz herumwurstelte. S., zuweilen cholerisch und in delikaten Momenten unfähig, sich zu zügeln, oder Geduld zu üben, geschweige ihrem Ausdruck den Anschein von Verträglichkeit zu verleihen – Frauen sind wohl oft ein wenig apodiktisch – fuhr dem Armen so übers Maul, dass er sich mit zittrigen Händen an eine Zigarette geklammert, im Büro verkroch. Ich brauchte eine gute Stunde an abgewogener Psychologie, alles wieder einzurenken und Darvin an seine Arbeit zurückzuholen, die er dann mit ganzer Hingabe, ja fast übereifrig wiederaufnahm. Ich schonte auch S. nicht, die sich darauf in Selbstvorwürfen erging. Mir hat die ganze Geschichte nicht wenig genützt, meine Autorität, von der ich keinen Pfifferling mehr hielt, aufzumöbeln. S. wird ihr manchmal etwas vordränglerisches Wissen in sanfteren Dosierungen vorbringen müssen...
Auch sonst beginne ich mich durchzusetzen, was Organisieren, Entscheiden, Vorschlagen usw. anbelangt und habe bislang noch keine Aggressionen entzündet, man mag mich zu meiner Verwunderung, obwohl ich weder rauche, noch übermässig trinke, das Singen geflissentlich sein lasse und eigentlich immer da bin. Letzteres könnte schliesslich irritieren, da ja nach Arbeitsschluss so mancher wieder auftaucht, um Leinwände zu grundieren, ein privates Brett zu hobeln, fern der Familie einen Film zu sehen oder einen Slibowitz zu kippen.
Nymph, eben rufst Du an und ich versuche verzweifelt, den Drucker anzuwerfen; die Hauskabel scheinen überlastet – jetzt klappts wohl... Bis bald. Faun.
(13) Ludbreg, Samstag 11.2.1995; 8.00
Hpmyn retsbeilrella niem
Ich war der erste im Schloss, aber es währte nicht lange und Ivan, den ich seit zwei Tagen nicht sehe, erschien, um nach ein paar Plauderminuten wieder loszuziehen, diesmal um seiner Schwester in Varaždin ein armes Schwein zu schlachten. Die letzte Zeit verbrachte er im Weinberghäuschen, um seinen Wein zu dekantieren. Achtzig Flaschen Champagner hat er abgefüllt, statt der üblichen sechzig; wohl in weiser Voraussicht, dass unser aller wachsende Zahl unter seinen Reserven schneller und gründlicher aufräumen wird, als es Feier-, Trauer- und Geburtstage bisher taten. Und die Güte des Produktes ist nicht angetan, seine Dauer zu verlängern, obwohl ein paar Jährchen am Lager dieses mit einem memorablen Prädikat krönen würden. Aber das gute Herz zieht vor, seinen goldenen Trost so flink zu verschenken, als es die Gärung und das Warmhalten der Sympathien zulässt...
Heute früh versuchte ich Marija auf kroatisch zu begrüssen und zu fragen, ob sie gut geschlafen hätte; sie antwortete entzückt mit einem Schwall des unaussprechlichen Idioms, in der Meinung, ich hätte über Nacht die Ausgiessung des heiligen Geistes auf kroatisch erfahren, oder die Nacht über jene Dame beherbergt, die S. sich gestern abend ins Haus gebeten hatte, mit der festen Absicht ab Mittwoch Sprachstunden zu nehmen. S. leidet unter der Ohnmacht, nur auf Deutsch dozieren zu können und jene Lehrerin Franziska, mit ausgezeichnetem Akzent sass begeistert von Marija, Tochter und S. umringt, in der Küche, die alle nachsprachen, was sie einmal auf njemacki und dann auf hrvatski verdeutlichte. Als ich zufällig einer Vitaminpille halber dazugeriet, wollte man auch mich sogleich das Fürchten lehren! Ich werde mich wohl kaum darin täuschen, dass der heutige Geburtstagsabend eine einzige Sprachlektion werden wird, na vase zdravlie, Prost! Soll ich Dir in Zukunft ein paar Kostproben zuzirpen – cvrcakti heisst das, oder gefällt Dir der Vormund besser: skrbnik? oder srdzba, der Zorn ? oder Donnerstag, an dem man besser blau, plav, macht oder silberschwarz srebrncrn, als ihn auszusprechen: cetvrtak, brrrr!
...
(11.2.1995; 10.33)
nieM retsbeilrella nauF
Ich habe mich gefragt, was Dein abenteuerlicher Gott denn im Wilden Westen macht, während meiner wahrscheinlich immer noch verschüchtert in einer Ecke des Dachbodens kauert.
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