Ludberga bis 23 95


"An Elija Rijeka, Schloss Batthyány, Ludbreg, Kroatien



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"An Elija Rijeka, Schloss Batthyány, Ludbreg, Kroatien

Liebster Faun, ich vergass, Dir in meinem letzten Brief zu erklären, wer die beiden Rumäninnen Inga und Calin eigentlich sind und was sie bei uns tun; also sie sind beide 22-jährig und bei uns vom Roten Kreuz buchstäblich als Flüchtlinge "eingelagert", bis sie, wenn sich die politische und wirtschaftliche Lage ihres Mutterlandes gebessert hat, wieder zurückkehren können. Inzwischen wohnen sie in der Rumpelkammer neben der Küche und helfen beim kochen, abwaschen und aufräumen; vielleicht werden wir sie zu gegebener Zeit ernsthaft ins Restaurierhandwerk einweihen, damit sie nicht immer indiskrete Fragen stellen; Stephan, Du weisst, der kleinere, schlug vor, sie mit zweien unserer Männer zu verheiraten, um die Geschichten mit der Fremdenpolizei und den Aufenthaltsformalitäten zu vereinfachen, doch der Streit, wer sich opfern oder wer den glücklichen Zuschlag bekäme, nimmt inzwischen bürgerkriegsähnliche Formen an; die Klassenräume sind je in zwei feindliche Lager geteilt, man schiesst mit Schnipsgummis, wirft Skalpelle und Retouchierfarbbomben, erobert zuweilen ein Zimmer, um es nach völliger Demolierung dem Gegner wieder zu überlassen. An die hundert Diplomarbeiten sind inzwischen in Flammen aufgegangen, eine Geisel liegt seit drei Tagen in Melinex verpackt auf dem Niederdrucktisch und will nicht reden; man wird wohl auf Vakuum drehen müssen. Wir, die Linken natürlich, benötigen dringend Verbandsmaterial, das die anderen vor Tagesfrist erbeuteten, nachdem der Versuch, den einen Bräutigam auf unserer Seite zu entmannen, fehlgeschlagen war; und dann vor allem einen Unterhändler: könntest Du das nicht übernehmen?! Völkle erstattet Dir die Reisekosten; aber mach schnelllll!. Ein fliegendes Küsschen zwischen Sandsäcken und Barrikaden aus Parkettriemen,

Dein Nymph."

(95) "Ludbreg idem etc.17.55

Nymph, ärmster,

wie ich sehe hat Eure Partei das Computerzimmer okkupiert, und ich bin so in den zweifelhaften Genuss Deines Hilfeschreis gelangt. Sag schnell, bist Du verletzt, wohlauf, hast Du Proviant? Ich wollt, ich wäre schon vor der Tür, um sie mit der Schulter zu zertrümmern, dann unbeirrt der Schnipssalven durchs Kampfgetümmel zu schreiten und Dich Liebste, aus dem Gefecht zu tragen! Zu tragen, wohlgemerkt. Dann würde ich vor Rührung über meinen Heroismus zusammenbrechen und unter Deinen tränennassen Küssen zerschmelzen. Aufgerappelt legte ich im Lehrerzimmer Feuer und die Schule wäre noch vor Eintreffen der Feuerwehr eine rauchende Ruine, die wir dann von unserem Bibliothekzimmer im Asterweg aus mit Genugtuung, ja Schadenfreude kontemplierten. Endlich wärst Du frei, die Chemie los, die Werkstoffkunde, den Putz-,Koch- und Dokumierzwang, den Zindel, den Zwiesel und den Spindel, den Schaibel und das Geweibel, den Hartkern (pardon, den würdest Du ja vermissen) und den Trockenschwamm, den Störleim und das nächtliche Gewecktwerden oder umgekehrt, den Leim im Weckglas...

Das Schlimme ist, dass ich hier nicht wegkann. Der Bürgermeister hat mir vor zwei Stunden einen feurigen Liebesbrief auf kroatisch zugeschickt, steht mit fünf Varaždiner Polizisten vor der Tür und will mich in einen Weinberg entführen. Oder ist es etwa ein Haftbefehl wegen unerlaubten Fotografierens eines Weinberghäuschens? Man wolle mich lebendigen Leibes visitieren? Ich versuche krampfhaft, das Billett mit Hilfe des Lexikons zu übersetzen, bevor ich den Kübel heissen Wassers über das Grüppchen giesse. Während letzteres sich erhitzt und die Fäuste ballt, dieweil es ohnehin schon nassgeregnet ist, erkaltet ersterer. Ich werde also den letzten Zug, das Flugzeug nach Zürich, und den Kampfhelikopter für die letzte Durststrecke verpassen. Dabei wollte ich Dich doch so gern befreien!! Schicke mir baldigst neue Situationsmeldungen. Sollte ich keine Faxen mehr machen, gib mich verloren. Eben brechen sie die Haustüre ein...!

Dein F."

...

"Ärmster Faun, lebst Du noch? hörst Du mich etc.!!..."

Undsoweiter Nymph; wie wärs? Du könntest Dich gemütlich in den Sessel lehnen, ohne den Gewissensdruck, den Schreibzwang, die Suche nach Stoff und Deine Briefe würden ungefragt aus der Kiste plumpsen und zusätzlich Deine Neugier erregen. Mir kommen allerdings Bedenken, ob ich das doppelte Pensum neben der Arbeitszeit überhaupt noch schaffen würde; ich müsste wohl Ferien nehmen. Die habe ich á propos in der Tat schon wieder nötig. Du wirst es an meinem Geisteszustand gemerkt haben. Ich kann die Tage nicht zählen, die mich hier noch halten: ich weiss immer noch nicht wann ich hier loskomme und für wie lange!...

Ich schliesse hier, Nymphchen, viel Gscheits war’s ja nicht. Morgen wird’s weniger, weil Blagaj mich zum nachmittäglich-abendlichen Würstchenbraten zu laden droht, nachdem ich ihm 30000 DM aus München zugeschanzt habe. Lass Dich küssen! Deinster Faun.

(96) Ludbreg, Donnerstag 24.8.1995; 6.30

Nymph,

am Minutenstand gibt es nichts zu zweifeln, obwohl die Sonne bereits zwei Handbreit über dem Horizont steht. Ich hätte auch schon um fünf aufstehen können, doch habe ich mich in Gedanken noch ein wenig mit dem (schlafenden) Nymph unterhalten... Auf den Ludbreger Avenues Geschäftigkeit von Srassenarbeitern, die Gras, Müll und Erdreich entlang der Trottoirs zusammenkehren, Rasen schneiden, Hecken stutzen und die Strassenbeleuchtung komplettieren: man spürt das grosse Fest auf uns zurollen. Die Rummelplatz-Lastwagen haben Stellung bezogen und entfalten ihre riesigen bunten Innereien; die Marktbuden haben neue Markisenstoffe und werden wohl gar nicht mehr abgeräumt. Im Hof kujoniert Blagaj lauthals seine Arbeiter; er geht mit ihnen um wie ein Südländer mit Schlachtvieh; ich muss ihn mal ermahnen, auch wenn er wie immer dann nicht zuhört. Selbst wenn er die billigen Zigeuner von der Strasse zusammenliest, wie man sagt, die wenig Arbeitsmoral an den Tag lägen, so sind es doch Menschen, die ihm die Taschen füllen. Sie wirken traurig erlöst wenn man ihnen einen freundlichen Blick gönnt und sie des Morgens grüsst. Blagaj ist ein kleiner egoistischer Napoleon, dem die Individuen gleichgültig sind.

...
(24.8.1995; 8.16)

Lieber Faun, zum Glück vergass ich Dir in meinem letzten Brief zu erklären, wer die beiden "Rumäninnen" Inga und Calin eigentlich sind und was sie bei uns tun; (Keine Angst, ich schreibe nicht auch noch Deinen (bzw. "Meinen") Brief ab) da Deine Phantasie wirklich unübertrefflich ist. Ich befürchte, dass die "Wahrheit" (so sie eine Frau überhaupt erzählt) stinklangweilig dagegen ist und meine Freiheit wohl nur auf legalem Schuldienstweg zu erlangen ist. Das Freudenfreiheitsfeuer ist frühestens in einem langen Jährchen unter aufgeregt quietschenden Cervelats zu entfachen und wenn möglich auf den Schulhof zu beschränken, da unser lieber Hausmeister Hans-Rüedu schon hysterische Anfälle bekommt, wenn jemand unter dem Rauchmelder eine Zigarette zündelt – Ordnung muss sein und ist bekanntlich das halbe Leben (wie das brave Schulmädchen weiss). Offensichtlich erzähle ich Dir zu wenig oder gar nichts von der Schule, wenn Deine Phantasie zu derartigen Saltos abhebt. Aber ich dachte immer, Du wüsstest über die "Umstände" hier sowieso Bescheid und ich traute mich nicht, meinem Gourmet den schulischen Alltagsbrei vorzusetzen. Aber ehe Du meine ganze Schulwelt mit Deinem Kriegsgeschrei über den Haufen rennst (Dein Umgang scheint mir in Anbetracht des heutigen Fäxchens doch etwas bedenklich), berichte ich lieber kurz, prägnant und treulich über die hiesigen Verhältnisse. Bei den täglichen Schreckensmeldungen im Fernsehen und den seltsamen Veränderungen Deiner Mitstreiter kann eine Beeinflussung Deinerseits (welcher Art auch immer) allerdings nicht ausbleiben. Da kann es mich doch eigentlich nicht wunder nehmen, dass Du "Fremde" gleich als Flüchtlinge brandmarkst, unsere friedliche, demokratische Klasse in zwei Lager spaltest, uns die heiligen Restaurierungshallen demolierst, Geiseln folterst, Männer entmannst und das ganze Haus in Flammen aufgehen lässt. Faun, ärmster, ich fürchte Du solltest in nächster Zeit die Meldungen der Rappelkiste über Deinem Chefstuhl ignorieren, Dich vom liebesbriefschreibenden Bürgermeister mit seinen fünf Wachhunden lieber etwas distanzieren, nicht an die Visionen Željkos glauben (dass die Männer immer gleich hysterisch werden, wenn ihre Frauen mal für ein paar Tage indisponibel sind), Blagajs fette Würste mit Vorsicht geniessen und nur noch Ivans Wein kosten, mässig natürlich! allzu saurer Wein und dazu noch die voluminösen Speisen, abwechselnd mit französischem Apfelkuchen, scheint Dir nicht zu bekommen. Du siehst ein sorgendes Herz denkt an Dich. Und dazu noch ein einsames, das sich jetzt auch noch vorgefertigte Antwortbriefe gefallen lassen muss. Da wird einem regelrecht das Wort entzogen. Nur weil man sich mal zwei, drei Tage nicht meldet, nicht aufs Wort mit einer Geschichte pariert, sondern eine kleine Denkpause einlegt und auf den Musenkuss wartet, der wie Du liest, auch diesmal ausgeblieben ist. Nichts als Geschwafel, wo ein Ideechen doch eigentlich schon im Kopf herumschwirrt und nur noch nicht den Ausgang gefunden hat...

Wie dem auch sei, wollte ich Dir eigentlich nur noch sagen, dass Du Inga natürlich kennst (studiert im 2.Semester) und Calin ihr Freund ist und normalerweise friedlich in Würzburg lebt...Deinster.
...

8.35. Oh, da kam ungehört und ungesehen Dein Briefchen aus der Rappelkiste. Die Versuchung ist gross, noch schnell zum Hörer zu greifen, um der Strafpredigt mit Herz zu parieren; aber ich werde mich am Abend revanchieren. Prächtiger Brief, so ganz nach meinem Geschmack. Nun hab ich Dich doch aus dem Mauseloch gelockt, auch wenn’s ein wenig Kriegslärm und Feuerwerk benötigte, wie bei einer Fuchsjagd.
14.00. Hier passieren unglaubliche Dinge. Kaum erzählenswert, dass das Fernsehen mich interviewte, wegen meiner initialzündenden Weinberghäuschenideen, die zu der Studie des Conseil d'Europe führten. Verrückter aber der Besuch des neuen Hotels, einer Erweiterung des Restaurants, wo Blagaj seine Tochter verheiratete: ein Dutzend neuer schöner Zimmer im Dachgeschoss des Haupthauses werden dem "Putnik" die Stirn bieten. Ich war mit dem Bürgermeister und Blagaj gebeten, die in der Tat freundlichen Räumlichkeiten zu besichtigen; natürlich gab's ein copiöses Frühstück mit Litern guten Weins zum Anlass. Als es galt, dem neuen Albergo einen Namen zu geben, schlug ich zum Spass "Sveta Ludberga" vor und argumentierte mit dem "-berga" als Allusion an Herberge, Auberge und Albergo; anschliessend erzählte ich meine Legende. Der Erfolg war total, zumal des Wirtes Diplom mit dem Abbild eines Kelters und sein Hauswein mit dem Signet einer Traube auf Ludbergas Attribute passten. Man entschloss sich, nicht nur, das Hotel zur Heiligen Ludberga sondern auch den Hauswein und das 'Menu du Chef' auf die neue Heilige zu taufen. Ja, in den Zimmern will man die Bibel aufliegen lassen mit eingeklebter Legende der Heiligen. Selten so gelacht. Franjo, würde gern einen Vortrag von mir in der historischen Gesellschaft anmelden! Blagaj fragte mich auf dem Rückweg zum Schloss argwöhnisch, ob nicht doch etwas Wahrheit an der Geschichte sei. Und Franjo wollte wissen, ob die Legende mit katholischer Moralität im Einklang stünde. Das Wirte-Ehepaar wusste nicht, wie ihm geschah, notierte aber die Lettern für die Neon-Inschrift und war froh um eine so aussergewöhnliche Namensgebung. Jetzt werden wir die Legende tatsächlich auf Kroatisch übersetzen lassen, damit sie in die Ludbreger Geschichte eingeht. Sie ist gerade fünf Tage alt und schon ein Monument. Ich staune nicht wenig. Genau so müssen die Legenden im Mittelalter entstanden sein, bei Wein und Gelächter; nach uns die frommeifrigen Kniebeuger! Ich werde Ludberga eines Nachts wieder exhumieren müssen, damit sie eine würdigere Bleibe erhielte; vielleicht im Altarstein der neuen Heiligblutkapelle?! welch steile Karriere.

Während des Schwatzes richtete ich überdies eine Gemäldeausstellung regionaler Künstler zugunsten eines herzkranken Kindes im selbigen Lokal ein, deren Erlös seine Operation in Amerika finanzieren soll. Das von mir als bestes erklärte und prompt von der Kommune angekaufte Bild war dann zufällig das des wildbärtigen Organisators... Auf zu den Wurstgrilladen Blagajens! Ich meld mich noch!

Fauno tuo.

(97) Ludbreg, Freitag 25.8.1995; 6...

Nymph,

9.10. eigentlich ist’s ja noch heute; bzw. gestern Abend. Bin mit Ivan und den Mädchen nach einem sangesfreudigen Grillabend im Weinberghäuschen der Freunde Blagajs (in dem ich schon mal im Frühjahr gewesen) ins Schloss zurückgeschlingert. Das Haus ist von johlenden, rauchenden und trinkenden Jugendlichen umlagert. Einer aus Blagajs Equipe ist mit ins Haus gedrungen und sitzt nun still neben den Mädchen und lächelt. Man weiss nicht, wie man ihn loswerden soll, da diese Art des Hofierens für uns recht ungewöhnlich ist. Die Mädchen können so nicht arbeiten und da wir ja französisch sprechen, ist unsere soeben ausgehandelte Strategie die einzig nützliche, nachhause zu gehn. Ich kann Dich also nicht vom Kino zurückerwarten, wie ich eigentlich wollte, um mir ein Stück Stimme Deinigster mit ins Bett zu nehmen. Dann also bis morgen...
6.40. Nymph; fast ist das Wochenende wieder angebrochen. Die Luft strahlt, noch ein richtiger Sommertag, hintermalt von den Rasenmähern der Kommune. Die Fahnenstangen "drüben" entpuppen sich, was schlimmer ist, als Lautsprecherständer, an deren oberstem Teil schliesslich Lampen eingeschraubt werden. Gestern malte man das Betonfachwerk der Arenakirche mitsamt dem Α und Ω ochsenblutrot, während jede Kapelle psychoedelisch polychrom auf die Grundfarben der Mosaiken eingestimmt ist. Auf den Kapellen ragt ein Zinkband-Kreuz und je ein Kupferrohr führt die mirakulösen Wassermassen zur gebenedeiten Erde. Im Lourdischen polierten Kalkstein-Altar hat man eine Rustika-Grabgrotte geschaffen und in die Fenster gelbe Plastikbutzenscheibchen eingesetzt; zwei Fahnenstangen und gigantische Holzkreuze flankieren den Greuel und ein graues halbrundes Plastikzelt mit Guirlandenborte überdacht eine Bühne in grünem Filz. Wie ich aus dem neuen Depliant zur Feier der Eröffnung sehe, hat das kroatische Parlament vor 225 Jahren dieses Heiligtum bereits votiert, aber das Gelübde erst heute eingelöst.
In der Küche diskutiert man Ludbergas nächste Auftritte; Ivan wird vielleicht eine gotische Figur schnitzen, Zlatko ein Signet zeichnen, Željko die Kupfergravierungen machen. Man erwägt ein Gipsmaskottchen zu schaffen. Soeben ist der Patronatstag Ludbergas festgelegt worden: der erste April; warum nicht?. Ein Nachtrag in der Legende ist fällig. Ich muss allerdings versprechen jedes Jahr dann hier beim Fest zu erscheinen!
13.00. Als ich Franjo meinen Legendentext überreichte, wollte er gleich eine Kurzfassung für Hotel und Presse bei der Eröffnung. Die ist nun schon perfekt und wird von Sieglindes Deutschlehrerin heute Abend um acht übersetzt (melde mich dann später noch!). Ivan zeichnet bereits eine recht unheilige Jungfrau mit nackten Füssen in einem Kufen stampfend, ich lasse sie eher würdig mit Füllhorn neben einem Kelter stehend, in der Linken einen Messkelch haltend, auftreten; schade, dass ich hier nicht genügend Mittelalterdarstellungen habe, die als Modelle dienen könnten.

Langsam muss ich überlegen, wie ich unsere neue Galionsfigur gegen das Heiligblutfest anrennen lassen könnte, um das Finale absurder, ulkiger und spannender zu machen. 50 000 gegen 7 Aufrechte Streiter Ludbergas (der achte, der grämliche Zlatko, ist abstinent) eine recht ungleiche Chance, Blut gegen Wein einzuhandeln. Es wird bei einem gepantschten, 'ghüroteten' Kompromiss enden, "spricer" oder "gemišt" auf Urkroatisch.

Nymph, glaubst Du mir überhaupt? Ich habe das ahnungsvolle Gefühl, Du nimmst mich etwa nicht ernst und hältst meine Lügen für wahr und meine getreulichen Berichte für erfunden. Wirst Du in "Sveta Ludberga" probenächtigen wollen, um mir zu glauben? Mit Faun, natürlich! Bis später.
PS: 17.30. Um die Mittagszeit erlebte ich hier ein Erdbeben (mit dem Epizentrum im ostslawonischen Požega, von der Stärke fünf der Richterskala, das ältere Häuser beschädigte und Menschen verletzte) das mich unter das Fenster setzen liess; Lampe und Schrank wankten beträchtlich; hatten wir nicht schon mal, als Du hier warst, eines gespürt? Es scheint hier nicht selten zu sein und die Gegend wurde im Mittelalter mehrfach arg zugerichtet. Wohl wieder eine serbische Barbarei...

und hier noch die Kurzfassung von Ludbergas Legende:
"Gemäss der Legende, die der kroatienstämmige Kunsthistoriker und Restaurator Elija Rijeka in einem unvollständigen Varaždiner Impressum von 1776 , das wohlmöglich als einziges den Brand der Stadt überdauert haben dürfte, gefunden haben will, soll die kroatische Heilige Ludberga oder Liutberga laut ihrem Chronisten, dem Pauliner Abt Honorius von Lepoglava an einem ersten April innerhalb des ersten Jahrzehnts des 12. Jahrhundert unweit Toplices in Zagorien als Tochter eines Gutsverwalters in den Diensten des Grafen Bela II geboren worden sein. Ein Ritter Ulrik soll sie als sechzehnjährige verführt haben, worauf sie als Büsserin mit einem Sohne Theobald zur Eremitin wurde, aber auch so nicht den göttlichen Prüfungen unbeschadet widerstehen konnte. Mit einem zweiten Söhnchen Andrija gesegnet, irrte sie als Penitente, Verdingfrau aber auch als Helferin der Armen und Kranken jahrelang in der Županije Varaždin umher, bis sie sich auf der Flucht vor dem wiederaufgetauchten Ulrik in die Weinberge am Stadtrande Iovias flüchtete. Sie wurde Winzerin und ihr Wein brachte es zu solchem Ruhme, dass die Legende von einer Papstwahl in Viterbo berichtet, wo ein Kardinal aus Buda ihren auf wundersame Weise unerschöpflichen Wein ausschenkte und das Wahl-Konsistorium beträchtlich abkürzte. Ludberga widmete ihren Wein ausschliesslich den Kirchen, Kapellen und Klöstern Kroatiens als Heiligen Messwein und seine Güte soll die erstaunlichsten Wunderheilungen bewirkt haben. Auch Theobald wurde Winzer, der seine Kunst im fernen Burgund vervollkommnete und setzte die Tradition fort, die man bis in die Zeit des Ludbreger Heiligblutwunders reichen lassen will; dem heilighaften Leben und Wirken Ludbergas schreibt man diverse übersinnliche Ereignisse zu, unter anderem den wundersamen Flug der Marksteine ihres Grundstückes, das etwa am Orte des heutigen Crn Bel lag, oder die Vertreibung des Teufels den sie mittels eines Holzkreuzes im Erdboden verschwinden liess, wo heute noch eine schwefel-und methanhaltige Quelle fliesst, deren Strahl sich entzünden lässt. Ludberga starb hochbetagt und verehrt, fand im Brückenkirchlein ihres Sprengels wo heute die Kapela Majka Bozja pri mostu steht eine vorübergehend vielbesuchte Grabstätte, die jedoch in den Wirren der Türkenüberfälle ebenso verloren ging, wie ihre Legende selbst. Die von einem bisher noch nicht feststellbaren Papste des 13. Jahrhunderts kanonisierte Heilige feiert sich jeweils am ersten April und ihre Ikonographie ziert sie mit den Attributen Kelter, Kelch und Traube, den Wahrzeichen Ludbregs, das gemäss der Annahme Abtes Honorius kurz nach Ludbergas Tod deren Namen übernommen haben muss. Die wenig überzeugenden Rückführungen des Stadtnamens auf den burgundischen Kreuzritter Lobring und die semantisch-philologische Erklärung als "Narrenhügel" fänden so eine neue sympathische Lösung in der Gestalt einer frommen, schönen und unternehmerischen Frau des Mittelalters (auch wenn sie nicht das märtyrerische und jungfräuliche Schicksal vieler ihrer Mitheiligen teilte und nur mit der Hl. Francesca Romana vergleichbar bliebe), der man den Ruhm des Weines dieser Gegend und nicht weniger den lauteren Charakter ihrer Bürger verdankt: LUDBERGA."

(98) Ludbreg, Samstag 26.8.1995; 7.20

Nymph,

zurück von Koprivnica, wohin ich unsere völlig verschlafenen Strohüttenmädchen auf den Zug nach Budapest brachte; sie waren eine halbe Stunde zu früh und ich setzte sie in der verräucherten Bahnhofsschenke ab, wo schon die ersten Trunkenbolde beim Bier grölten. Ich floh durch den regenverhangenen Morgen, um meinen Kaffee bei Ivan zu geniessen. Nach Budapest retour kostets nur 40 DM und der Zug kommt schon Mittags an; das sollten wir auch mal machen!

Ivan hat heute Nacht angefangen, mein Portrait umzumodeln der marmorierte Hintergrund hat gewonnen, der Kopf ist um ein Viertel gewachsen, die Augen sind nun geöffnet.
8.08. Ivan stürzt ans Fernsehen: der erste 15-Wagon-Zug mit 5000 Reisenden von Zagreb nach Split durch die befreiten Lande fährt pünktlich los. Die Passagiere zahlten alle 1000 Kuna deren Erlös für die Kinder der Gefallenen der "Sturm"-Aktion gedacht ist. Nur Flüchtlinge und Offizielle, unter ihnen auch der stinkreiche Tudjman, sind ausgenommen (sollten sie nicht gerade doch?). Der Bahnhof quillt vor jubelnden, singenden und das V-Zeichen hochreckenden Menschen über. An jeder Haltestelle wird life gefilmt, gefeiert und kommentiert. Jedesmal steigt der Präsident schwerbewacht aus, um vor Majoretten und Bürgermeistern, fähnchenschwingenden Trachtenweibern und sich drängelnden Kameras zwei antiquiert-pathetische nicht endenwollende Worte zu makrophonieren.

Ich habe entdeckt, dass das Singen der Kroaten etwas ganz Zentrales ist: keine Emotion, kein Festessen, keine Feier ohne Singen. Selbst die ländliche Grillade mit Blagaj endete in sentimentalen zumeist uralten Liedern, die vielstimmig intoniert werden (Ivan ging nach unserer Heimfahrt wieder hinauf mit seiner Harmonika und es soll bis tief in die Nacht gesungen worden sein). Ihre Melodien sind zumeist etwas melancholisch; vielleicht weil der Balkan solange unterdrückt worden ist...

Heute früh wollte Regionalvorsitzender Blagaj mich als hohen Gast in die Parteisitzung der HDZ einladen. Ich willigte nur aus Neugier ein, um zu erleben, was da so kurios hinter den Kulissen gebastelt würde; bis jetzt hat er mich noch nicht geholt; vielleicht sah er, dass ich in Bauernhemd und Jeansweste seiner harrte, als er seine Mannen zum Frühsport anschrie und hält mich so für nicht genügend präsentabel! Für eine katholisierende diktatorische Generalspartei zieh ich mir doch keine Jacke an!
10.40. Bei Franciska Horwat den übersetzten Legendentext abgeholt und dabei ihren Gemüse-, Frucht- und Rosengarten gebührlich bewundert und den hausgemachten Aprikosenschnaps intubiert. Angeljka, unsere Ersatzsekretärin und Ivans Tochter fingert Ludbergas Schicksale nun in den Bios-Speicher für den künftigen Vertrieb. Eben murkst das Huhn den fertigen und schon ausgedruckten Text ab und schreibt ihn noch mal, weil sie nicht weiss, wie man ihn wieder herauskopiert, geschweige graphisch verändert. Ich kann das nicht mit ansehen und gehe spazieren; vielleicht in die Parteisitzung.

Die Legendendrucke sind dem Wirt Crnković ausgehändigt; auch Pressevertreter und unser Tourismusmann Nofta haben den Text schmunzelnd gelesen; jetzt kann wohl niemand mehr von der Sache zurücktreten und ich dürfte meine heimliche Wette gewonnen haben. Dereinst wird hier von mir nichts mehr anderes übrig sein als "Sveta Ludberga" und Ivans Portrait.

Am Fernsehen ein guter aber erschütternder Dokumentarfilm dieser letzter Wochen über die Heimkehrer in ihre zerstörten Dörfer; die Geschichte, die niemand schreibt, die keinen ausländischen Journalisten mehr interessieren dürfte, weil deren Inhalt so repetitiv, so monoton, so stereotyp ist: Menschen, die Generationen in ihren Höfen lebten, für die jeder Stein eine Vergangenheit hat, stehen fassungslos vor dieser vandalischen Methodik, die den letzten Lichtschalter aus der Wand riss, die letzte Kachel aushebelte, den letzten Balken verbrannte, den letzten Krug, den letzten Haussegen, den letzten Grabstein zerschlug, nichts, nichts, nichts übrig oder heil liess. Diese hoffnungslos weinenden Alten, die den Wiederaufbau nicht überleben werden, die gebrochenen Entmutigten vor einer Einöde, die einst ein blühendes Dorf war. Die Kirchen wird man in gemeinsamer Anstrengung und der Hilfe der Öffentlichkeit wieder funktionstüchtig machen, aber das Heiligste, das diese Menschen besassen, Herd und Hof, wird den Makel der niederträchtigen Vergewaltigung und intimsten Profanisierung für Generationen tragen, zu sehr prägt sich das Bild ein, das ein dach-, tür- und fensterloses Heim nach vier Jahren zurückgekehrter Wildnis und Verwahrlosung darstellt.

Diese Menschen sind für Jahrzehnte Leidende, Entwurzelte, Verunsicherte, Geschändete. Etwa eine Viertelmillion an Häusern sind wohl von den Serben zerstört worden; die Racheakte vereinzelter masslos ergrimmter Kroaten im Gegensinne sind verschwindend klein daneben und sind nicht von jener erbarmungslosen Abscheulichkeit die das Auslöschen der Erinnerung bezweckte, die den Mut nehmen will jemals heimzukehren, die die Herzen treffen will, nicht die Dinge. Eine gnadenlose Kamera erhaschte den Moment als eine alte Frau buchstäblich vor ihrer vernichteten Vergangenheit irrsinnig wurde und umsichschlagend fortgetragen werden musste. Genau dies Gefühl der absoluten Hoffnungslosigkeit der Bewohnerschaft ganzer Landstriche zu erzeugen, war in einem perfiden Programm bestialischen Hasses auf höchster Ebene ausgeheckt worden, wie dies wohl kaum seit dem Wahn Hitlers einer halbwegs zivilisierten Welt erinnerbar ist, die zwar immer Individuen mordete und deren Lebensgrundlage zerstörte, aber kaum das kulturelle Rückgrat eines Volksgenossen so nachhaltig zu brechen beabsichtigte. Dieses buchstäbliche Verbrechen wird niemand ahnden können, wird nie vergeben, noch vergessen werden können. Die Serben, die aus der Krajina auszogen, wussten das; sie hatten keinen Zwang und keine Nachhilfe nötig, ihr kollektives Gewissen trieb sie über die Grenze.

Nymph, ich verliere mich in Hiobiaden; wo ich doch vorhatte, was Konstruktives zu ersinnen, wie die Vorbereitung des Finale; allein mir fehlt der Mut und die Inspiration dazu. Ich glaube, ich benötige dringend einen Anstoss Deinerseits, ganz gleich wie er aussähe, ein Schulterklopfen, ein ermutigendes Lachen, eine Rüge oder einfach ein Wegwerfberichtchen!

...

(26.8.1995; 16.29)



Meinster, ich höre gerade Flamenco aus Andalusien. Es erfasst mich dabei eine Erregtheit, die mich kaum stillsitzen lässt. Ich möchte in die Hände klatschen, mitsingen, selber spielen. Es kribbelt mich in die Fingerspitzen und es läuft mir kalt über den Rücken. Flamenco – wild und sanft, roh und zärtlich, streng und stolz, sinnlich, erotisch, eine Musik, die aus dem Bauch kommt. Sie greift mit Händen nach Dir, zieht Dich in einen Strudel, der sich immer schneller und schneller dreht. Wenn ich die Augen schliesse und mich von der Woge mittragen lasse, spüre ich Spanien in mir, als hätte ich dort lange gelebt. Ich rieche das salzig-muffige Meer bei Windstille und die kühle Frische in den kargen Bergen. Kann mich gleichzeitig in einer einsamen, staubigen Landschaft fühlen, wie in einer schwitzenden, tanzenden Menschenmenge. Sehe die Frauen in ihren bunten, weiten Röcken sich mit stolzem Blick drehen, der Bewunderung ihrer Männer sicher. Höre wie sie lachen, trinken und singen in der Kneipe am Hafen, sehe im nächtlichen Park die schwarzäugigen Gitarreros ihren Instrumenten die gewagtesten Akkorde entlocken, während die Kinder um sie herumtanzen und die Liebespaare sich in die dunklen Winkel des Parks zurückziehen; unter die grossen, alten eng aneinander gekuschelten Bäume, die Melodie im Ohr und Flamenco im Blut... Kommst Du mit?

Eben flatterte Deine "Kurzfassung" herein – Meinster, ich glaube! Du hast mich überzeugt, Deine Lügengeschichten müssen wahr sein, so unglaublich Deine Berichte auch klingen. Würde sonst der Bürgermeister, ein seriöser, nicht unintelligenter Mann, der sogar in Geschichte bewandert zu sein scheint, so mir nichts Dir nichts eine Legende propagieren. Wohl kaum, es muss also etwas dran sein. Ausserdem kennst Du Dich ja in göttlichen Dingen bestens aus. Wenn ich da an Deine phantasievolle Neuinterpretation der Genesis denke, überzeugt mich Sveta Ludberga erst recht. Gleich Montag werde ich in unserer Bibliothek nach einer Abbildung suchen. Sollte ich was finden (wovon ich überzeugt bin), werde ich's Dir natürlich umgehend durchmangeln.

Samstagmittag, ich habe gerade mit Dir, Meinster (in Gedanken) gefrühstückt und insgeheim auf ein Zeichen gewartet – vielleicht später? Vorher war ich noch in der Stadt und habe mir Noten besorgt – Flamenco natürlich. Es gibt ein gutes Musikgeschäft in B. mit einem umfangreichen "Notenarsenal"; so konnte ich unter mindestens 20 verschiedenen Publikaten wählen. Vielleicht spiele ich Dir, wenn Du endlich wieder mal den Weg nach B. findest, schon die erste "obra" vor. Jedenfalls weiss ich bereits wieder fünf Stücke auswendig; von einem virtuosen Spiel kann natürlich nicht die Rede sein. Eigentlich ist’s noch ein furchtbares Geklimpere, aber ich glaube, wenn ich mich mal nicht mehr auf Noten und Griffe abstützen muss, kommt der "richtige" Ausdruck wieder hervor. Er ist ja ohnehin von der jeweiligen Stimmung des Spielers abhängig, kleinste Unterschiede können jedes Interpretieren völlig verändern – spannend zu beobachten. Merkwürdig ist auch die Art und Weise, wie man ein Stück auswendig lernt. Für eine Romanze zum Beispiel genügt mir, sie bloss ein-, zweimal vom Blatt zu spielen (ist sie doch recht einfach) und schon habe ich die Melodie wieder im Ohr. Ich konnte am nächsten Tag schon ohne an die Noten zu denken, das Spiel den Fingern überlassen, gewissermassen mir selber zuhören. Schaute ich aber aufs Griffbrett, fanden meine Finger den folgenden Ton nicht mehr und ich musste von neuem beginnen. Umgekehrt gibt es Stücke (auch einfache), von denen ich nicht eine einzige Zeile auswendig spielen könnte, auch nach langem Üben nicht. Wieder andere gelingen mir nur mit dem Blick aufs Griffbrett und ich würde sofort ins Stocken geraten, wenn ich die Noten sähe..., ist das nicht sonderbar?...

Fauno mio, die Seite ist zu Ende und ich hoffe, Dich nicht gelangweilt zu haben...

Küsschen, Nymph.

...

Und da ist es schon, von wegen Wegwerf!- vor einem knappen Stündchen ungesehen hereingesegelt, so ganz wie es mir behagt: munter, bejahend, zukunftsbewusst. Dein Gitarrespiel macht mich ungemein neugierig, zumal Du Dich von den spanischen Rhythmen mitreissen lässt, die Du dereinst dann selber "aus dem Bauch", wie Du so schön sagst, spielen und interpretieren wirst, ohne der Noten zu bedürfen: welch Aussicht auf romantische Abende irgendwo an einer Felsküste, an einem Strand, auf den Höhen von xy bei Sonnenuntergang...mmmh! Ganz ohne das Papiergeraschel. Erst das Schmusen danach, nach Noten, wie sich's gehört, im hintersten Winkel des dunkelsten Parks. Natürlich komm ich mit. Oder würdest Du auch ohne mich...?

Blagaj kommt hingegen soeben in violettem Frack mit schillernder Krawatte, um mir zu sagen, dass ich nicht ins Parlament zu kommen brauche, sondern dasselbe zu mir käme, um das Schloss zu sehen; hoffentlich nur ein verschwindender Teil desselben; besser noch, ich verschwände selber!

Ich hatte Dir, als das Faxgerät morgens verschiedentlich rumorte, aber dann nichts von sich gab, mehrere Hilfepiepse zugesandt, aber vergeblich auf eine Niederkunft Deinerseits gewartet; so ungefähr Frühstücks/Mittagszeit. Hast Du was gehört? Vielleicht aber war der Wurm in der Leitung.

Ich verbringe den Tag fast ganz mit Ivan; mittags kochte ich ihm eine Suppe von vorgestern auf, heute Abend brät er mir Kartoffelhälften in Schale und Salzrock, die man mit Butter verspeist; göttlich; fehlt nur noch der Nymph, das Wochenende zu vervollkommnen! Oder, müsste man sagen, wäre es erst die Bezeichnung wert.

Meine Vereinsamungsgefühle werden langsam existenzbedrohend und... Gott, da kommt doch das Parlament mit Pauken und Fanfaren! – Schluss schleunigst! Faun...Gott sei Dank, sie drehen ab...
19.20. Ein Dutzend staunender Parlamentarier durchs Haus geführt, auf deutsch und von Franjo und Blagaj gedolmetscht. Dann kredenzte Ivan mir Erlöstem gebackenen, ausgelassenen Speck und Wodka, was zwar köstlich, aber vernichtend ungesund sein muss. Inzwischen kam der (obige) Zug) in Split an und Tudjman hielt, völlig heiser, seine letzte, fünfte Rede unter der Jubelei von über hunderttausend Bürgern. Die Stadt kaum wiederzuerkennen im Taumel der Menge. Feiern können die Kroaten, chapeau. Aber die Reden sind zum... Dazwischen immer martialische Kriegsgesänge gesendet, von militärkostümierten Popsängern und alte Sequenzen aus den "Sturm"-Tagen. Panzer und Heere in Zeitlupe voranwalze(r)nd, synchron handgranatenwerfende lächelnde Pioniere, im Schützengraben zuprostende Infanteristen und jauchzende Piloten beim Übungsflug. Hin und wieder, auf dass man’s nicht vergesse, wird immer derselbe tote Serbe auf den Rücken gedreht und dasselbe Kind mit durchgeschnittner Kehle, dieselben rauchenden Trümmer Vukovars gezeigt.

Franjo bittet mich zu neun zum Abendessen, wohl im "Sveta Ludberga", wo er sich vielleicht neuen Schabernack ausdenken wird, wenn der Heiligen L. Leibwein seine wundersame Wirkung getätigt haben wird. Ich hoffe, Dir noch heute über den Abend berichten zu können, wenn Dich das überhaupt interessiert. Meine Beobachtungen und Erlebnisse sind ja lang nicht so poetisch wie die Deinen, die von Musik handeln und Belletristik, südländischen Gefilden und edelischen Festereien. Von all dem bei mir hier keine Spur, ich komme mir zuweilen vor wie ein grauer unmusischer Dorfschullehrer ohne Buch, Hobby, Instrument und Ferientraum; nicht mal zum Kaffee lade ich unsere Mädchen ein, geschweige tröste ich die ewig leidende Jana, noch erlöse ich die noch leidendere Zdenka, die von ihrem Deutschlandbesuch schwärmt und wieder in den Alltagsmuff zurücksinkt... Ich muss eine merkwürdige Figur machen zwischen all den ewig animierten und animalierenden (Ehe-) Männern, die jedem Rock nachhimmeln. Vielleicht hatte Ivan recht, mich mit geschlossenen Augen abzukonterfeien. So spiele ich denn stoisch meinen hobbypsychologisierenden Beichtvater, den geschlechtslosen Onkel, Väterchen Trost, den abgehobenen und alles schon erlebt habenden Philosophen, den entrückten Poeten, den zerstreuten Professor, den clownischen Gelegenheitsspinner, den Freizeitnarren (abgesehen vom Liebhaber alten Brotes, verdorbener Speisen, zerschlissner Hemden und unrasierter Wangen)... So sitz ich denn wie eine fettwerdende Wanze in der Plankenritze und warte auf die Eingebungen der allzufernen Muse und fürchte mich vor jeder räumlichen und zeitlichen Veränderung in meiner philisterlich-sedentären Existenz. Du siehst, was für eine verheerende Wirkung Deine Absenz hat; es wird Zeit, dass Du mich wieder in den Senkel stellst! Faxen macht offenbar unbeweglich und dickleibig; nur das Hirn tickert zuweilen noch ein wenig. Aber auch das meldet täglich neue Lücken an, die ich nächtlich in Alpträumen büsse, wenn ich wieder mal im Examen, dürftig oder unbekleidet vor einem kritischen Publikum sitze, Vorträge über mir unbekannte Sujets halten muss, oder ohne Fallschirm aus einem Fluggerät steige.

Und das Leben verrinnt. Unwiederbringlich. Nichts als alternde Chimären um mich herum, Falten, Fettpolster, Hängebäuche, Krampfadern, arthritische Gelenke, Zipperleins, Menopausierende, ergrauende Midlifer und andere Jämmerlichkeiten mehr, die einem den Existenzschreck einbläuen. Gott, Nymph, bist Du herrlich jung! geniesse es! carpe diem, hic et nunc! Wie doch die Menschen sinnlos und besinnungslos ihre kostbare Zeit verschwenden, als würden sie ewig leben! Man schüttelt den Kopf über so viel Kopflosigkeit. Auch ich werde ihn bald verwetten, um zu wissen, ob er mir noch auf den Schultern sitzt.
Nymph, das war eine Jeremiade. Überlies sie bitte, Du hast noch keinen Anlass deren Klagen ernstzunehmen; nimm die Gitarre und spiel mir eins und wenn's nur 59 Sekunden durchs Telefon sein dürften. Im Ernst, ich stell morgen den Beantworter ein, der nimmt Dich auf und ich kann Dich beliebig wieder abhören, weil hier noch niemand das Gerät benutzt hat, noch weiss, dass solche Fähigkeiten in ihm stecken!

Faun.
(99) Ludbreg, Sonntag 27.8.1995; 7.55

Nymph, meinster,

mein abendlicher Ausgang endete lediglich im "Sveta Ludberga" unter gut hundert Parlamentariern und Mitgliedern der lokalvereinigten Radioamateure und des Ludbreger Aero-Clubs, der hier seine Bleibe hat, weil der berühmte Konstrukteur Fizir Stadtbürger war und dessen Monument an der Stadthauswand jährlich einmal bekränzt wird. Die Veranstaltungen wie Vorträge, Modellflüge und eine elektronische Fuchsjagd hatten den Tag gefüllt, die folgende halbe Nacht galt nun dem Füllen der Bäuche. Ich geriet in eine Fressorgie um den Bürgermeister herum, den ein zunehmend seniler Ex-Kultur-und Sportminister und weitere Partei-Würdenträger jeden Couleurs umlagerten und denen ich immerfort vorgestellt werden musste, während sie versuchten, ihre letzten Brocken Deutsch hervorzukehren. Anfänglich sassen die Frauen alle auf der anderen Seite des Lokals, rückten jedoch mit Dünner- und Jüngerwerden der Belegschaft immer näher zum Präsidententisch: die ältesten Schachteln wurden zu Bett gebracht und das recht unholde Mittelalter versuchte darauf, die Verbleibenden zu charmieren; eine groteske, bis widerliche Phalanx von aufgeschminkten, hohläugigen, dauergewellten, stopfbusigen, augenverdrehenden Contempo-reinen wollte sich am Wildbret 'Mann' im Allgemeinen und an meiner Exotik im Besonderen freihalten, bis die inzwischen singenden Männer sie von ihrer Aufdringlichkeit abzubringen versuchten. Am schlimmsten eine verwitwete Expolin, die unverhohlen gröbste Andeutungen ihrer Freizügig- und Willigkeit anbrachte, am erträglichsten noch der Runde Jüngste in den Spätdreissigern, die nur schmachtende Blicke warf, als sie, von anderen abgedrängt, ihr passables Deutsch nicht mehr über die Tische weg an den Traummann bringen konnte. Gemessen an den kroatischen Ehemuffeln meiner Umgebung, kann man des Leichten ermessen, wie frustriert und erlebnishungrig das Frauenvolk hier sein muss. Ich staunte über so viel Anmach-Vulgarität und Indiskretion.

Blagaj traf erst gegen Mitternacht und in seiner Standfestigkeit schon recht beeinträchtigt, mit einem Trüppchen geringfügig jüngerer Weiber ein, denen aber der inzwischen festgerostete Kern der Un-Witwen und -Waisen nicht zu weichen vermochte. Wenn es mir um zwei Uhr endlich zu fliehen gelang, hiess dies noch lange nicht, dass man etwa aufbrach; ich könnte mir vorstellen, dass die eisernsten Letzten soeben noch immer dort sitzen und singen. Ludbergas Legende machte bei den intelligenteren Honoratioren die Runde, obwohl die meisten ob der Plausibilität der Geschichte glaubten, mein Dokumentenfund sei wahr.

Heute früh ist die erste Heiligblutmesse im "Busni Kolodvor Bogu" bzw. in Gottes Busstation angesagt; noch fehlen die Lampengehäuse an den Holly Trolleymasten doch an den Fahnenstangen flattern die Wimpel der Firma, auch das PX und die Türme erglühen im Caput Mortuum-Flachwerk. Der Altar bricht vor Blumengebinden: Generalprobe. Schade, ohne die Heilige Blutberga, von der ich so gerne eine Kostprobe aufgetischt hätte! Bzw. Blutprobe; nach d e r Zecherei! (Obwohl ich sie förmlich eingeladen hatte, war sie, als ich heute morgen kurz anhielt, um den genauen Ort ihrer künftigen molekularen Tumulation in Augenschein zu nehmen, nicht erschienen...).
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