Des Rummelplatzes originellster Beitrag ist die etwa reisetaschenformatige Geisterbahn, deren aufklappbare Frontwände um so gigantischer wirken, besprayt mit wilden Typen aus der Horror-Fernseh-Serien-Szene, die nach dem raren Besucher grapschen. In die Jahre gehende Puppen lassen ihre Glieder und Totenköpfe baumeln, wenn das Züglein an die frische Luft taucht und schrille Geräusche sollen dem Lustfahrenden das Fürchten beibringen. An der Kasse sitzt ein distinguierter frühergrauter Fünfziger im gestreiften Frankensteinfrack, der hier eigentlich gar nicht herpasst, weil er lebhafte stahlgraue Augen hat, während sich ein süffisant überlegenes Lächeln auf den Lippen kräuselt und der mit schönen langfingrigen Händen ein seidnes Taschentuch faltet und entfaltet, als langweile er sich tödlich. Nur als ich breitbeinig vor ihm auf der Wiese stehen blieb und seine markigen, aber nicht kantigen Züge ungeniert musterte, hielt er inne, sog an einem halberloschnen Zigarillo und blinzelte auf dem rechten Auge mit einem Schimmer von Pfiffigkeit, als wollte er sagen, nun, ich bin nicht immer hier und mein Beruf ist das auch nicht... Sowohl das knarrig-dramatisierende Ansagen der nächsten Tour, die M’siö und gnä Frau nicht verpassen dürfen, als auch das Herausgeben von Retourgeld besorgt er mit tödlicher Verachtung und nicht ohne fachkundigem Stil; das Mikrophon ist einem bleichen Hüftgelenkknochen nachgebildet. Noch fehlt mir der Mut, mich in so einen Gruselkarren hineinzusetzen, aber fast hat mich die befremdende Grafenfigur (etwa auch ein arbeitsloser Kunsthistoriker?) dahin gebracht, ein Fährtchen zu wagen.
Wärst Du da, Nymph, führen wir zu zweit! Faun. 18.50. eben ruft Jana von der Insel Brač an und zeigt sich geradezu belustigt ob unserer Sorgen. Eine kranke Grossmutter habe sie zur überstürzten Abreise bewogen – log sie sich vermutlich aus einer reichlich intimeren Geschichte heraus. Wir sind erleichtert aber etwas ärgerlich. Langsam werde ich zum notorischen Rummelplatzgast, auch wenn nur als Beobachter. Neue Elektronic-Spielkästen sind aufgefahren, weitere Laster spucken buntes Wirbelgerät über die zertrampelten Wiesen. Der Lärm der sich gegenseitig übertönenden Boxen ist zum Ertauben. Mit Anbrechen der Dämmerung wächst das Publikum an Menge und Alter. Sogar die Geisterbahn hat Besuch, wenn auch nicht immer mittätliche: so etwa unser Kartäusergreislein, das wieder mal wacker einherspaziert, diesmal fromme Heiligenbildchen verteilt und sich über die Jugend wundert. Er muss sich am Gruselschalter erkundigt haben, was es denn in den knochenstrotzenden Innereien zu sehen gäbe, denke ich; die TV-Schauerhelden wird er ja wohl als züchtiger Mönch kaum kennen. Der Graf reicht ihm einen schlaksigen arm aus dem Glaskäfig und bietet dem empört Widerstrebenden eine Zigarillo an. Welch eines Grafs unwürdige Perfidie!
Jeder Geisterfahrer erhält am Start einen beuligen Zylinder, unter dem eine riesige Zelluloid-Brille fest montiert ist, mit je einem roten und grünen Glas. Ich errate des Ingeniums Absicht: Die Geisterbahn arbeitet mit dreidimensionalen Projektionen und die sperrigen Zylinder gewährleisten die Wiederverwendbarkeit und Restitution der Kopf- und Augenbedeckung nach der Reise ins Inferno.
Interessant, wer da alles fährt: meistens blödelnde Pärchen, angeschwipste Herrenriegen, ein Vater mit ängstlichem Sohn zur Abhärtung des letzteren, ein einziger Single zu meinem Staunen: offensichtlich einer der Verkäufer unseriösen Versicherungs-Klimbims, der, des zu angelnden Publikums bar, gelangweilt zum fiktiven greift. Als er auf der Freitribüne unter die zähnefletschenden Skelettpuppen geriet, verzog er keine Miene, als sei ihm deren Gefuchtel alltäglich! Ich sah seine blonde Mähne bei der Abfahrt in ein rabenschwarzes Höllenloch aufflattern und hätte sein geradnasiges Profil, das er mit der Zylinderbrille zu verunzieren verachtete, gern wieder am Ziel ankommen sehen, um den fremden Vogel besser auf sein Wesen zu prüfen; allein die umstehende Menge war wohl zu dicht, den Blick auf ihn freizugeben und so war er denn jäh verschwunden. Auch die stubsnasige Krauskopf-Exotin von gestern sah ich für eine Sekunde Geisterfahrt wieder, mit lachend aufgerissenem Munde, dessen prächtige Zahnkohorte das strammste Sensenmänner-Heer zum Fersengeld bewegt hätte. Vielleicht sass die lockige Schöne neben ihr, aber noch bevor ich loseilen konnte, für mein Herzklopfen einen hinreichenden Grund zu finden, riss mich Željkos Sohn freundschaftlich am Arm und prahlte vor einem Trüppchen Kameraden mit seinem Anfängerdeutsch. Verfl...!
An der Zielgeraden stieg, sichtlich angeheitert ein Paar aus, das ich Dir noch schildern will, bevor ich schliesse und Dich mit weiteren Rummelplatzgeschichten verschone: die beiden stehen geradezu für den typischen Ferienbummlertourismus der Nordländer; wohl Deutsche, die hier hirnlos ihre harte Mark verplempern: Er ein kurzhosiger Koloss wie Gert Fröbe, aber etwas schöner, body- und sonst kaum gebildet, schon ein wenig aus der Form gealtert und alles Überschüssige um den Bauch. Sie schmächtig, halbertrunken in der Jeansjacke ihres Gefährten, die dieser ihr ob des kühlen Abends umgehängt hatte, er trug ihr statt dessen ein lächerlich klein wirkendes Necessaire, ein rosa Schirmchen und ein Strohhütchen, über das der Stereo-Zylinder mit Leichtigkeit hätte gestülpt werden können. Das ulkige an den zweien war, dass bei einem Wagenhopser ein Strickgarnknäuel aus dem Körbchen den Ausgang gefunden hatte und der entrollte Faden über drei Durchgänge lang den Schienenweg durchs Geisterlabyrinth begleitete, sich schliesslich ein Teil des Strickzeugs unter dem Geschrei der Ferienmaus aufzutrennen begann, was sie krampfhaft zu verhindern suchte, als sei ihr Faden aus purem Gold. Der Geiz der Alpenländler ist ja sprichwörtlich! Ich glaub sie steht noch immer unten und haspelt auf, während ihr Monument-man geduldig und ob der belustigten Kroaten ungerührt, die Arme zum Aufspulen hochhält und gleichzeitig krampfhaft versucht, eine Bratwurst vor dem endgültigen Erkalten zu verschlingen...!
(102) Ludbreg, Mittwoch 30.8.1995; 6.50.
Nymph,
vorgestern vergass ich, meine Empörung über den bereits zweiten schändlichen serbischen Granatenangriff auf den Marktplatz Sarajevos anzubringen. Fast vierzig Zivilisten liessen das Leben, an die 50 sind schwer verstümmelt, ja man soll anschliessend noch das Spital beschossen haben. Die Amerikaner drohten mit militärischem Eingreifen; die Engländer versprachen "humanitäre Hilfe", wie zum x-ten Mal; was das auch immer heissen soll! Aber ist es nicht glatter Mord, wenn man die serbischen Batterien auf den Höhen nicht endlich zum Schweigen bringt? In Sarajevo gibt’s nur noch hungernde kläglich untergebrachte Zivilisten in einer Ruinenstadt! Auf was wartet die Welt eigentlich? Dass diese Muselmanen, Greise, Kinder und Frauen an der humanitären Hilfe krepieren? Wäre man endlich erleichtert, dass es kein Problem mehr gibt, mit Toten? Man kann sich über die Serben nicht mehr empören; sie ekeln nur noch; aber über die Europäer sollte man sich entsetzen!
7.15. Man berichtet in der Küche, die Nato habe endlich mit Flugzeugen und Bodentruppen die Serben angegriffen; drei Jahre zu spät, aber wenigstens das.
11.00. Die ersten Nachtbilder des Angriffs auf eine Munitionsfabrik. Als Antwort beschiessen die Serben erneut Sarajevo.
17.00. Mittags mit Blagaj und zwei Architekten des RZH zum Essen im Sv.Ludberga. Nichts als Klagen über Vrkalj. Jetzt erwarte ich den Minister –-
(103) Ludbreg, Donnerstag 31. August 1995; 6.30
Nymph,
so ein kurz angebundenes Briefchen wie oben hast Du wohl noch nie bekommen! Der Minister mit einem ansehnlichen Gefolge, mitunter einigen Uniformierten – kam dann doch eine Stunde zu spät; er hatte vor mehreren Dutzend Zöllnern und Zöllnerinnen die neue Zollhandelszone Ludbreg einweihen müssen; was bestätigt, dass es doch der Mittelpunkt der Welt sein muss, soll doch diese Station die gesamten Ostländer Kroatiens bedienen. Ich hatte noch schnell alle Depots und Ateliers aufräumen lassen, was nicht umsonst war, denn der gesamte Pulk wollte bis in den hintersten Winkel geführt werden und der Minister, ein sportlicher Nussknackertyp in den besten Managerjahren, aber auch alles sehen, ja er unterhielt sich eingehend mit unseren Französinnen und liess sich Ivans Ahnengalerie kommentieren. Ein auf 11 geschrumpfter Würdentrupp zu dem ich widerstrebend auch gebeten wurde, nistete sich darauf im "Putnik" ein für kaltes Abendessen mit Unmengen Weines. Während der Bürgermeister seinen einstigen Schulbankkameraden mit Finanzen behelligte, unterhielt ich den immer aufgeräumteren Minister mit Schrullen über mein hiesiges Dasein, Deutschland, Italien, die Schweiz und das mit der letzteren verglichene Kroatien, dem ich weissagte, dass es in zehn Jahren die Schweiz des Balkans sei, schliesslich wurde auch Ludberga hervorgezogen und am Ende hieb der Minister Franjo auf die Schenkel und man lachte wie im Kabarett. Ich geizte nicht mit indiskreten Fragen über das alltägliche Leben eines Finanzministers und entlockte diesem so manchen befreienden Seufzer. Gelder hat er natürlich keine, wenn’s aber nur um Unterschriften und Empfehlungen ginge, würde er wohl unser Schloss noch heute mit allen Privilegien ausstatten...
Bei Tisch erfuhr ich, dass den Wirt ob der Namensgebung seines Lokals das Zaudern ereilt hätte, da ihm die Heiligkeit Ludbergas doch nicht ganz astrein und geheuer erschienen sei. Franjo, Blagaj und Genossen bilden hingegen eine feste Phalanx, für sie zu kämpfen und sind indigniert über den Feigling. Sie wollen eine Delegation aussenden, die Reputation Ludbergens zu reparieren.
Man kann nur noch auf heimlichen Schleichwegen um Halte-, Park-, Fahrverbotsschilder und Umleitungen zum Schloss fahren; morgen ist’s dann ganz aus mit der Bequemlichkeit. Die Sonne ist zurückgekehrt und man erhofft sich, sie halte es bis Sonntag hier aus (man hat ihr im 'Ludberga' das schönste Solozimmer nach Süden reserviert, eine Art Sonnenzelle mit Sonntagsgemälde, sonnengeblumten Spitzenvorhängen (noch ohne jeden Sonnenfleck!), Sonnenstoren, Sonyradio, Sonnenuhr und Kühlschrank "Solaris" für die heissen Ludbreger Nächte.
18.00. Nymph, mit viel Schreiben wird heute wohl nichts; seit sieben Uhr baue ich verzweifelt an meiner Ausstellung herum. Mein Staff verlässt mich unberührt prompt halb vier und überlässt mich meinem Schicksal. Gott sei Dank helfen Jana, Pascale und Sarah unter anderem das Amateur-Gewurstel von Željka, Ivans Tochter zu korrigieren: Schildchen neu zu schreiben, zu schneiden und aufzukleben usw.; auch die Retuschen, die unsere Leute hätten ausführen sollen, tüpfeln sie als Laien gar nicht schlecht. Der Saal wird vielleicht doch noch ganz ulkig, mit den verrotteten, putzlosen Ziegelmauern, dem groben Bretterboden und den disparaten Exponaten in unfertigem oder unrestauriertem Zustand; vom gesäuberten Emporen-Balkon blickt man auf den fertigen Altar in der Kapelle unten. Šišinec ist ein "work in progress" mit nur zur Hälfte eingebauten Säulen, Engeln und Heiligen; die Ergänzungen in Rohholz; die Vitusse nebeneinander, die mannshohen Franziskanerscheusale an die Betonsäule im Saale angeschraubt, wie Karikaturen von Chartres. Einzelfiguren "vor der Rest." habe ich als Gruppe auf weisse Sockel von verschiedener Höhe in den Raum hikegebanert und in einer Ecke soll Jana an der Stereolupe an Engelpöen schaukratzen und zugleich das Ausstellungsgut bewachen und kommentieren. Grell beleuchtet der fertige Altar von Stari Brod, den wir einigermassen nach den Ausstellungsschäden in Zagreb wieder hingekriegt haben und entlang der rechten Wand und in den Fensternischen Fotos, Dokumente, Graphiken, mit denen ich nichts zu tun haben will, da mir schwant, sie seien schnell und zufällig aufgeklebt und nicht immer zutreffend (kroatisch) beschriftet worden; zu was Besserem reicht die Zeit nicht mehr; morgen kommt die Kulturministerin und wird kaum Zeit haben, die Legenden zu lesen, geschweige die Retuschen aus der Nähe zu beäugen! Štefica hatte doch tatsächlich in ihrer Sauberkeitsfrenesie, aber aus Zlatkos Händen – ich merkte es noch rechtzeitig vor der Müllabfuhr – den von ihm und Sieglinde sorgfältig eingepackten vergoldeten Nimbus eines der Franziskanerhünen in die Tonne im Hof spediert! Ivan wühlte ihn mir wieder heraus, er stank teuflisch und sah entsprechend aus!
18.30. Trotz der Gewittergüsse will ich um halb acht zur Heiligblut-Monstranz-Prozession; die Reliquie wird feierlich von der Schlosskapelle in die Stadtkirche überführt; vielleicht treffe ich alte Bekannte. Vorläufig ist der Rummelplatz, von dem das Schloss zur Hälfte eingekreist ist, noch am Ohrenbetäuben. Mal sehen ob die Priester mit ihren Lautsprecherbatterien eine Breitseite über die Bednja böllern müssen, um für das Prozessionisieren Ruhe zu bekommen.
Sibilas Mutter ist seit gestern eingetroffen und macht sich nützlich mit Kuchen und Kochen heute Abend. Mal sehn was es da Leckeres geben soll!
Blagaj holt mich zur Messe in der Kapelle ab, aber ich flüchte nach zehn Minuten feuchten Gelabers des mir überdeutlich aus dem Fernsehen bekannten Don Narziss, der da verzückt seine Monstranz streichelt. Ohmei, nun lud mich Blagaj zum kroatischen Chanson-Abend im Ludbergalokal, wo man mich zum zweiten Mal zu essen nötigen wird. Ich stürze zum Neunuhrtelefonat, um wenigstens einen Trost zu haben, bevor ich am Bürgermeistertisch mit der Kulturministerin pflichtschäkern muss. Ich werde mich tödlich langweilen und bin froh, dass Du das alles nicht miterleben musst. Die anstrengenden Mähler sind das Schlimmste, weil nach drei Bissen vom eigentlich immer selben Sortiment man sich für vierzig Tage Fasten in die Wüste wünscht. Jetzt schnell ans Maschinchen, Dir das einzuspeisen! Lass Dich küssen, Faun.
(104) Ludbreg, Freitag 1.8.1995; 6.35;
Nymph, kränkelnder,
Hätte ich einen Grund wie Du, das Bett zu hüten! Heute beginnt das infernalische Wochenende. Den Auftakt gestern Abend habe ich noch mal unbeschadet überstanden. Die Honoratioren wurden vom Priester geschlagene zweieinhalb Stunden in der Kirche unter hermetischem Verschluss gehalten: um halb zehn torkelte der Trupp um Franjo erschöpft von der Stadtkirche her ins Lokal, wo alles längst getafelt hatte und bereits bei der Versteigerung der gutzwecklichen Gemälde angelangt war. Blagaj hatte ich versichert, ich ässe mit dem Bürgermeister und dem bedeutete ich dann, ich habe schon mit Blagaj gegessen; also brauchte ich nicht mal an den Ministertisch wo eine knalligrot gekleidete italianisierende dunkellockige Mittvierzigerin thronte, ohne sonderlich nach Kultur auszusehen. Sie wird uns ja heute überfallen; gestern ging sie von der offiziösen Mühsal gepeinigt baldigst wieder. Franjo kaufte zum Einstandspreis ein von mir empfohlenes Bild, Blagaj sein Blumenstilleben, Nofta, ein banjoartiges Musikinstrument, das irgendwie und -wann einsam hinterhergehinkt war (vielleicht hatte er mein zustimmendes Nicken, bzw. Zutrinken missverstanden und deshalb so überraschend zugeschlagen!). Die unablässige Volksmusik in Kostümen mit mittelgealterten Sängern passte zum Publikum in jenem Alter, in dem es am unerträglichsten ist. Die Weiber sassen herum wie geschminkte Eulen, die alle Midlife-Fett ansetzten, während die Teenies, Twens und Thirties der Szene ferngeblieben waren. Ich fühlte mich wie vom Mond herabgefallen und sah mit Entsetzen, wo man mich traditionsgemäss einzureihen pflegen würde, wäre ich nicht ein unverbesserlicher Exot. So manches mir inzwischen von Führungen und Parteiessen bekannte Samtauge blinzelte mir in der Tat wieder zu und joviale Erpel schlugen mir im Vorbeiquetschen freundschaftlich schnatternd auf die Schulter. Es wird Zeit, dass ich von hier flüchte, bevor man mich hier vor lauter Wohlwollen gesellschaftlich einzuzementieren versucht.
7.30. Zlatko wütet herum und wirft die Türen. Unser Lachen über den aus dem Müll geklaubten Nimbus, hat den seinigen so angekratzt, dass wohl drei Tage mit ihm nichts mehr anzufangen ist. Er versteht keinen Humor und ist deshalb auch so unbeliebt. Für ihn ist die Geschichte reine Ehrverletzung.
12.10. Seit Stunden putzen wir – die Europäer – hinter den Kroaten her; sie haben nicht begriffen wie peinlich sauber eine Bauruine, ein unrestaurierter Schlosshof, eine unbehandelte Depotfigur sein muss, um sich als solche von der Umgebung abzusetzen und um etwas auszusagen; selbst Dreck muss ästhetisch wirken. Das balkanische Gewurstel macht einen krank: bringt man mir eine Zimmerpflanze um einen Kabelsalat zu kaschieren, dann ist sie sicher seit Wochen am Verdursten! Braucht man eine Lampe, ist sie ohne Birne, der einzige Tacker: ohne Munition, "bestellen aus Deutschland" die lakonische Antwort; Glasfaserradierer ohne Nachschub: "gibt es hier nicht"; kein Pinsel ohne anständige Spitze; Željka zerschneidet 20 Klammerordner aus München, weil sie roten Karton benötigt und hat wegen ihrer Schussligkeit einen halben Wald an Druckpapier vertüdert, immer vom besten. Darvin ist zurück und kommandiert herum wie ein Despot, meint durch Anschreien der Mitarbeiter könnte man sie motivieren. Wenigstens ist er von meiner Expo angetan.
Das Gerumpel draussen, inzwischen purster Techno, ist zermarternd; selbst Ivan kommt mit seiner Harmonika dagegen nicht an und die mittäglichen Faxen Darvins sind nur eine kurze Erlösung. Alles wartet auf die Eröffnung um sieben, auf die Münchner und mit recht gemischten Gefühlen auf Sieglinde, der man so viel Wüstes nachgesagt hat, dass alle nun ein schlechtes Gewissen haben. Lieber Nymph, hoffentlich bis Du wieder wohlauf! wie gern würde ich Dich jetzt verwöhnen, bekochen, bevattern, bekuscheln und vieles mehr! Mein ziviles Leben ist unmenschlich verarmt, vertrocknet, vernachlässigt, veräusserlicht ohne Dich; gar nicht wert, gelebt zu werden. Die Durststrecke seit Korsika und Sardinien ist qualvoll lang und scheint noch immer nicht zu Ende zu gehen...
Das nur schnell zwischendurch; noch weiss ich nicht, ob ich heute noch mal an die Tasten gelange. Innigst, Faun.
(105) Ludbreg, Samstag 2.9.1995; 7.10
Nymph,
ich hatte mich verstiegen, Dich nachts um zwei noch anzurufen, als ich endlich nachhause durfte. Thomas, Sieglinde, Weilhammer und überraschend Tilman kamen auf die Minute genau zur Ausstellungseröffnung. Der Raum platzte aus den Nähten, aber der Erfolg war gross, so bescheiden die ganze Sache ja war. Selbst S.s gestrenges Auge konnte keinen Makel erkennen. Anschliessend Essen mit der gesamten Belegschaft im Festzelt des "Putnik" bei so ohrenbetäubender Musik, dass einem die Bissen im Halse stecken blieben. Zwischenhinein Runde im Schloss um nach den übrigen Gästen zu forschen und die Angekommenen im 'Ludberga' einzuweisen. Echterding kam dann mit Cristina und dem Chemiker um elf. Sie wollten sofort, noch vor dem Essen das ganze Haus und die Ausstellung sehen und sie waren begeistert. Sie assen mit Bürgermeisters und Blagajs und wir feierten im 'Ludberga' bei etwas gedämpfterer Musik bis zwei, unter Gelächter und Anstossen auf den Mittelpunkt der Welt, Ludberga und den gelungenen Krieg. Ich bin nun völlig heiser, wie immer nach solchen Touren und brav seit sieben im Schloss zur Nymph-Morgenvorgabe. Um acht Frühstück mit den Deutschen, um zehn die grosse Sitzung, dann Mittagstisch von der Stadt gestiftet, abends glaub ich, von Blagaj usw.
12.10. Letztes stimmt; eben komme ich vom Lokal Ludbergens zurück, mich Dir an den Hörer zu werfen. Die anderen machen wohl noch bis zwei weiter, wie immer. Gerade regnets mal nicht; die Menschenmassen haben Pech das Jahr und die Schirmverkäufer goldene Zeiten. Der Tag war ein Tollhaus mit Bischof in meiner Ausstellung und einem eiligen Klerus, der zum Mittagsschmaus drängte. Zwei Sitzungen mit den Münchnern und Zagrebinern, von Echterding souverän beherrscht. Als es drum ging Blagaj die Erneuerung der Dachtraufen als Auftrag anzuhängen, fiel doch prompt aus etwa 20 m Höhe ein Ziegel auf meinen Kotflügel. Das einzige Mal, dass ich im Schlosshof parkiert hatte, um meine Mitfahrer undurchnässt im Schloss abzuladen! Ludberga hat da mal wieder zugeschlagen und Blagaj im Nu 30000 DM zugeschanzt, wegen des schlagenden Beweises...! Und ich bin wohl nicht einmal für so was versichert! Unser 15-Auto-Konvoi fuhr unbeirrt durch die Menschenmassen und Verkaufsstände mit Polizeieskorte versteht sich, hin und zurück – eine Frechheit eigentlich; aber es goss halt in Strömen. In Crn Bel dann opulentes Essen, ich am Busen Vrkaljs, wohin man mich spediert hatte, um ihn zu unterhalten; eine kleine Niederträchtigkeit, aber ich tat bis zur Erschöpfung mein Bestes. Abends dann das besagte erneute Gefresse mit ebenso gewaltsamem Sängergeschrei und Gerumpfe (rumpf-rumpf-rumpf-rumpf…!!!) wie am gestrigen Nachtspuk. Hier im Schloss rumpft es weiter und ich kann nicht weg, weil Tilman, der zum Schlafen ins Schloss kommen muss, aber keinen Schlüssel hat, und doch noch in die Disko hatte gehn wollen, als hätte es ihm nicht schon genug in den Ohren gerammelt, nicht geruht, an der Tür zu klingeln. Ich warte nur noch bis vier, denn nachher lohnt sich das Schlafen ohnehin nicht mehr, da ich ja um halb sieben den Nymph bedienen will...
Ludbergas Legende unterhielt während der Sitzung die sonst allzu gelangweilten Kroaten und unsere Leute lasen sie in der Originalversion am Abendtisch, sobald der Lärm jede Unterhaltung ohnehin verbat. Man kicherte gebührlich. Ein kleiner uralter Professor drohte mit dem Finger und meinte es seien da einige gewagte Anachronismen enthalten; C.s Begleiter – ihr synthetisch- sympathischer Pseudogespan – meinte, als guter Katholik, die Allusion an die Heiligblutwandlung sei doch wohl ein wenig stark.
(106) Ludbreg, Sonntag 3.9.1995; 19.45.
Nymph,
der Heilige Sonntag hat ausgeblutet. Ich war erst gegen neun erwacht und kaum im Schloss, gingen die Dinge ihren anstrengenden Lauf: etwa eine Hundertschaft Privilegierter sammelte sich und wurde unter Polizeibegleitung zur Holyland-Kapelle gebracht, wo uns etwa sechzig Stühle im Halbrund erwarteten (eben sah ich mich dort im Fernsehen von weitem in wenig taufrischer Pose...!). Kardinal Kuharić, der dem Papst zum verwechseln ähnlich sieht, hielt, umgeben von einem Heer von ministrierenden Priestern in ihren Metzgerschürzen, eine Messe, die nicht enden wollte (von etwa elf bis gegen zwei), wenigstens bei gutem Wetter, obwohl die Bauern und Weiblein vom Land bis zu den Knöcheln im Schlamm der aufgeweichten Wiese staken. So mancher schlief auf unseren Privilegierten-Stühlen ein; auch ich konnte mich kaum zurückhalten! Just neben uns; bzw. Thomas und Weilhammer wollte sich der Dorfidiot in religiöser Verzückung auf den Kardinal stürzen und konnte von harschen Polizisten rechtzeitig zurückgehalten werden. Während der Messe war vom Rummelplatz kein Mucks zu hören, erst mit deren Ende hob das Inferno wieder an. Der Mittagszug schlich ohne Motoren im Schritt vorbei und entliess nur ein zaghaftes Pfiffchen um die Menschen zu verscheuchen, die sich über den Bahndamm und die Brücke den inzwischen unpassierbaren Weg zu verkürzen suchten. Man schätzte zwischen 60- und 80 000 Pilger und der nicht mehr eskortierte Rückweg wurde im Gewühl hungriger Würstchenstandbesetzer zurückgelegt. Im Schloss erneut unsere 2.Eröffnung der Ausstellung, diesmal für den Kardinal, der uns alle persönlich begrüsste und auch von mir auf bestem Deutsch wissen wollte, woher ich stammte. Man führte ihn durchs Institut, gefolgt von einem rabenhaften Pulk provinzieller Geistlicher. Die Ausstellung füllte sich anschliessend mit Hunderten von Neugierigen, während man sich zum Restaurant eskortieren liess. Dort allerlei Begrüssungsworte an einzelne Anwesende; mitunter mich, der bis in die Fussspitzen errötete. Während des Nachtisches hielt der Kardinal eine weitere Rede von etwa einer dreiviertel Stunde, die ein gutes Drittel der Zuhörer an den Rand des Tiefstschlafes brachte. Ein bekannter Märtyrer-Priester aus dem geschundenen Banja Luka schlummerte so fest, dass er für seine kleine Rede geweckt werden musste. Alle waren jedoch der Meinung, der Kardinal habe wunderbar gesprochen, was er in der kommunistischen Vergangenheit in Zagreb jeden Sonntag getan habe, ohne je verhaftet zu werden. Auf dem Weg zum Schloss hatte ich ein anregendes Gespräch mit dem gefeierten Gast Reissmüller, dem Haupt der ‘Frankfurter Allgemeinen’, der sich so oft für die Kroaten in die Bresche geschlagen haben soll. Er kannte meinen U-Boots-Ur-Onkel, meinen Grossvater de Boor und war mit Schlesien so vertraut wie mit Kroatien, dessen Sprache er bestens parliert. Echterding entdeckte ihn als Freund des bayerischen Ministerpräsidenten Scheuber, was ihm gute Querverbindungen verspricht und er konnte auch den Bruderkuss des bayerischen Kardinals an den hiesigen überbringen, was, wie er meinte, wieder 100000 DM wert sei. Die ersten Münchner fuhren ab, während man vergeblich auf Marcin wartete, der mit E., Darvin und mir hätte reden sollen, uns aber sitzen liess. Und jetzt, nach unserm Gespräch hänge ich erschöpft im Schloss und lass zum letzten Mal das Rummelplatzgetöse über mich ergehen, während es wieder zu regnen beginnt und Hunderte von Bussen das Weite suchen. Dem ausgezirkelt gnädigen Wetter hat Ludbreg wahrlich eine Messe zu vergüten! Unser Mosaik-Künstler Petrac war gebührend begrüsst und beräuchert worden; nach der Messe trugen Bürgermeister und sein Sekretär feierlich einen foliantgrossen Leidens-Christus in Mosaik auf Masonit zur Bühne um dem Kardinal seine 50 Amtsjahre zu verdanken. Ein eigenes Essay verdienten die ungezählten Buden und Stände am Wegrand, die ich während der Prozession nach Holyland und zurück, aber auch schon auf meinem Morgenweg zu Fuss habe ansehen können: nichts gab es, was man nicht hätte kaufen können, vom Wellensittich zum Gummibaum, vom Schlagbohrer zur Barbiepuppe, vom Kerzenstock zum Büstenhalter, vom Gesundheitsschuh zum Gebrauchtwagen. Das militärische Plastikspielzeug aus Übersee war jedoch allgegenwärtig und im Auge eines jeden Kindes wohl das einzig attraktive. Die Mordwerkzeuge bekränzten, bekrönten, erstickten jeden Stand, auch wenn’s dort vornehmlich Devotionalien zu verkaufen gab: eine kleine Handgranate gefälligst zum Rosenkranz? fast gratis!
Bester Nymph, jetzt muss ich mich noch zwei geschlagene Wochen auf Dich gedulden! Die nächste soll allerdings recht kurz werden, wenn ich drei Tage mit Vrkalj durch Dalmatien reisen soll, um die jeweiligen Institute in Zadar, Split und Dubrovnik zu besuchen. Nur werde ich mit Mühe mit Dir ins Gespräch kommen können!
(107) Ludbreg, Montag 4.9.1995; 7.25.
Nymph,
ich gäbe zwar viel für ein heutiges Ausschlafen, doch Sibila und ihre Mutter an den Bahnhof zu bringen, ist Kavalierspflicht. Sie waren arg bepackt; die eine reist über Istrien, wo’s noch zu tun gäbe, nach Paris, die andere gen Osijek in Slawonien wo ihre noch immer gefährdete Heimat ist. Letztere hatte sich mit Marija angefreundet, die eines nachts von den Ferien zurückkam und sich um ein Haar auf die schmächtige Unbekannte in ihrem Bett gelegt hätte. Da beide vorzügliche Kuchenbäckerinnen sind, profitierten wir alle vom häufigen Wettkuchenbacken.
Das trübe Ludbreg dümpelt in Katerstimmung vor sich hin und der Müll ist noch nicht von Wegen und Strassen geräumt. Aber fast alle Stände sind in Auflösung begriffen; manche zerfielen schon gestern Nacht auf meinem Heimweg in ihre Einzelteile. Das Alljahr kehrt in Gemüter und fromme Herzen zurück und damit auch der unabwendbare Herbst, der sich merklich in Blattwerk und Morgennebeln abzeichnet. Dass sich meine Perspektiven hier verlängern sollen, hat erfreuliche und bedrückende Seiten zugleich; spätestens am zweiten Februar wird mich die Routine des Schicksalsrades überholt haben und mir bedeuten, dass es Zeit wäre, andere Horizonte anzupeilen. Ich will nicht in Ludbreg altern; dafür habe ich keine Zeit zu verschwenden; und ich bin austauschbar wie jedes Zahnrad auch. Nur die Materialien unterscheiden sich zuweilen: die edleren nutzen sich erfahrungsgemäss mechanisch schneller ab; die anderen sind widerstandsfähiger, aber korrodieren.
Nichts ist so disparat wie ein sich auflösender Rummelplatz, wenn all der farbige Schein in rostige Gestänge übergeht, Kabel, Tuchballen und rohe Bretterwände. Das wahre Gesicht dieser geistigen Armut ist so grotesk wie die Gestik von Popsängern am Fernsehen, wenn man den Ton abschaltet. Man muss zugeben, dass Holyland inmitten eines verwüsteten Rasens einen besseren (Himmels-)Staat macht, als sein weltliches Gegenüber. Um zehn Uhr nachts brannten die Kerzenbatterien noch und die Floristen räumten das Nutzbare ab, es bei den Beerdigungen wieder zu verwenden. Ansonst lag Grabesstille über dem Schlachtfeld Gottes, das sich in eine Lagunenlandschaft verwandelt hatte, auf deren nächtlichen Spiegeln Papiertüten und Getränkeflaschen schwammen, wie Wasservögel: eine melancholische Poesie, derer es der Rummelplatz noch in vollem, wenn auch regenschaudrigen Betrieb, gebrach. Die Geisterbahn ist wie von Geisterhand entführt, bereits verschwunden, hat sich in sich selbst geklappt, gefältelt, geschachtelt, bis sie wohl nicht mehr da war; sie muss als Floh in einem letzten Sprung ins Nichts gesetzt haben, sich andernorts wieder zu entpuppen. Ich habe es ob des gesellschaftlichen Rummels verpasst, durch ihre Innereien zu zirkulieren und es wird mir auf ewig verborgen bleiben, zu erfahren, wie es gewissen Leuten gelang, ungesehen aufzutauchen und ebenso unbesehen zu verschwinden. Ich werde Dir in späteren kleinen Raten berichten, was ich da in den Momenten, in denen ich vor den gesellschaftlichen Pflichten entweichen konnte, beobachtete und wem ich allem über den Weg lief, selbst in meiner Ausstellung. Schade, dass Du meine tanzenden Derwische nicht zu Gesichte bekamst, jene hünenhaften Franziskaner mit ihren Fahnen, die ich um die einzige Säule im Saal garniert hatte. Man sah sie schon vom Eingang her und musste sich wundern, was da wohl aufgeführt würde, denn sie sahen mit ihren Schiessbuden-Inkarnaten wie überschminkte lebende Kabuki-Tänzer aus. Dem Klerus erklärte ich fromm, sie repräsentierten den Heiligen Franz als Patron der Restauratoren, da er ja in Missverkennung seiner spiritualen Mission im Hinterland von Assisi drei zerfallene Kapellen restauriert hatte, bevor er merkte, dass er nicht mit Kelle und Mörtel sondern mit Gebet und Beispiel seinen Restaurations-Auftrag an der Institution zu erfüllen habe. Das historische Detail war den meisten unbekannt, obwohl es keineswegs Legende ist und die Kapellen noch heute existieren. Nur in die Restaurierungsgeschichte sind sie noch nicht eingegangen und meine Erhebung des Franz zum Berufs-Patron hat offenbar noch kein Echo gefunden, obwohl ich seine metierspezifische Kanonisierung seit Jahrzehnten betreibe und in so manchem Vortrage in Erinnerung rief.
Ob mir die Promotion des Serafico als Katholik besser gelungen wäre, als im Geruch der Unheiligkeit und des Heiden, bleibe dahingestellt. Manchmal bringen Negative Feinheiten besser zu Gesichte, als kommune Abzüge. Ohne Judas kein Christentum, ohne den Versucher keine Tugend! Trotzdem ging mir dieser Tage mehrfach durch den Kopf, ob mein Lästermaul nicht Schaden anrichte und meine Blasphemien den Ludbregern nicht Ungemach brächten. Denn Holyland ist ihre Hoffnung, ihr Symbol geworden, so kitschig und verkorkst es sein mag; die spirituale Leistung ist ein Analogon zur wiederauferstandenen Schlosskirche in San Michele29, nur war diese eine rückwärtsgewandte Aktion und das Objekt ästhetisch ein Bijou. Die Versammlung bzw. Sammlung von 100000 Menschen an einem Punkte des Landes einzig zur Bezeugung einer Idee ohne unmittelbaren Nutzen, ist in dieser materialistischen Zeit faszinierend und rührend. Man gedachte auf wahrhaft christliche Weise der Toten, Versehrten und Vertriebenen auf welcher Seite auch immer und wenn, wie ich aus den wenigen mir verständlichen Worten entnahm, sie den Frieden erflehten, so war dies ein aufrichtiges Anliegen aller. Wenn diese unendliche Flut von Menschen einstimmig, energisch und klar zu singen verstand, war dies nicht nur das Verdienst der vierzehn Lautsprecher in der Runde, sondern Ausdruck echtester Spontaneität und Begeisterung. Nichts vom verschleppten Trauergeliedel der halbherzigen Augusthymnen Helvetiens! A Propos Lautsprecher: am dem Rummelplatz nahesten Mast hatte man zusätzlich einen riesigen trompetenhaften angebracht, der schlosswärts gerichtet, offensichtlich die Heiden zu bekehren gedacht war! Denn in der Tat wagten es doch einige Festbummler, namentlich solche mit ungeduldigen Kindern, während der Messe Achter-, Geister- und Schleuderbahn zu fahren, auch wenn nahezu geräuschlos. Immerhin dürften dort die Anrufungen Gottes aus Angst, Schreck oder Übelkeit einen ähnlichen Pegel erreicht haben als die jenseits der Bednja aus Gottesfurcht, Inbrunst und Schnupfenbeschwörung (ob des stundenlangen Stehens im Sumpf).
Nie habe ich anlässlich eines Massenereignisses so sehr das Zusammenspiel der geistlichen und weltlichen Hand zu spüren bekommen wie hier: wenn die erstere über Dein moralisches Tunichtbös wacht, so ist die letztere allzeit bereit, Dir manu militari in die Speichen zu fallen; waren wir zu Ende der Messe uns selbst überlassen, zum Schloss zurückzuwallen, bekam man als Allerweltsbürger sofort den ruppigen Arm des Gesetzes zu spüren, weil etwa ein Bischof schneller zur Futterkrippe wollte, als ein kommunen Hungers Sterblicher, oder weil ein narzisstischer Minister ein Interview nicht verpassen mochte. Man, ob Frau, Greis oder Kleriker wurde zur Seite gefegt wie Müll, um Exzellenz, Ihro Gnaden oder Magnifizenz vorbeizuhuldigen. Dass die strammen Äuger der Justiz auf offenen Hemdbrüsten Goldkettchen mit Kreuzerln trugen, war nur die Bestätigung der gemeinsamen Sache. Die lockeren Halfter der Gendarmen demonstrierten denselben Ungeist der Verkaufsbuden, wo über ein Arsenal von Kriegsspielkram hinweg ein mildlarmoyanter Hologramm-Christus blinzelte.
11.00. Im Schloss hält sich ausser Ivan nur das Geweibe auf; die einen warten auf eine Regenpause und den von Željko entwendeten Dienstwagen, in die Weinberge zu schwärmen, die letztere, Jana, weil sie nichts Besseres weiss, da sie ja im Schloss einquartiert ist, bzw. in Darvins Kabuff nächtigt. Die Anstrengungen des Wochenendes veranlassten Darvin, seinen Leuten freizugeben. Auch er war ja erstaunlicherweise länger und öfters als gewohnt in der Menge; allerdings mit Frau, die ihm so die Fluchtdistanz verlängerte. Von den Gästen war Cristina die aufgekratzteste, war doch ihre Inkognizität gewährleistet und die angestammte Rivalin fern. Sie will im Oktober für zwei Wochen hier mitarbeiten; vielleicht hat E. vor, ihr Ludbreg schmackhaft zu machen, zumindest für meine grösseren Absenzen, die ich forderte, wenn ich nochmals für länger kommen sollte. Sie wäre ja unzweifelhaft ideal für hier, nur Ludbreg nicht für sie, fürchte ich, da sie kaum minder unter der Ambiance zu leiden hätte, wie die reichlich verstörte Jana; zumal Darvin ein gebrochenes Verhältnis zu Frauen hat, was sich bereits bedenklich gegenüber unseren Französinnen ausdrückt. Er ist auf sie eifersüchtig, weil Mendel ihnen ministerielle Spesengelder in Aussicht stellte...
Echterding würde mir übrigens freie Hand lassen, wenn ich mal geeignete Schweizer Restauratoren für Ludbreg finden sollte; wir würden sie für ein konkretes Objekt aussuchen, das sie im Rahmen eines bestimmten Zeitraums zur Gänze zu bearbeiten hätten. Dies wäre eine Alternative für Marcin, dem wir kaum grosse Chancen einräumen, es hier zwei geschlagene Jahre aushalten zu können. Ich solle ihm reinen Wein einschenken, meinte E. und ihn nicht ungewarnt ins offne Messer laufen lassen.
13.00. Vrkalj rief an, wir flögen Mittwoch oder Donnerstag Nachmittag nach Split; auf der Rückfahrt, die ich im Zug allein machen wollte, um die Strecke zu geniessen, werde ich in Zagreb mein Material für den Vortrag in Köln abholen.
Eben will mich Ivan zum Essen im Restaurant verführen, aber ich widerstehe. Nicht noch einmal die Menüs der drei hiesigen Hotels, die sicher ihre Festtagsreste loswerden wollen; lieber mit ihm nur eine Pizza heute Abend. Seine Ahnengalerie im Gang zeitigte übrigens grossen Erfolg, selbst mein Marmorbildnis (das die Mädchen aus Schabernack kopfunter aufgehängt hatten, wie sie auch einem der Derwische einen grünen Zehennagel aufklebten, mein Erkennungsschildchen durch eine Fälschung darüber verunzierten und sonst allerhand Faxen machen, die dem Oberclown Darvin natürlich missfallen), erregte nicht weniges Erstaunen.
Morgen stösst zum Bedauern unserer Winzerinnen eine neue Architektin aus Paris zu uns, die den Arbeitsprozess nur verlangsamen und den Wohnraum beengen dürfte. Dieweil haben wir keine Kroaten mehr für die Knochenarbeit an den Altären, bis Stefan kommt und sein Können unter den Scheffel stellt. Die Absenz des Hauspsychologen vom 16. bis Ende Monat wird schon jetzt bedauert, da man fürchtet, es gäbe unumgänglich Reibungen unter der heterokliten Belegschaft. Aber ich darf die Leute hier mit meiner ewigen Präsenz nicht verwöhnen; man könnte mich als billiges, stets disponibles Antikmöbel missverstehen, das man je nach Besucher herumrückt und namentlich unter prominente Hintern schiebt.
So, jetzt genug mit den alltäglichen Dusseleien; ich muss Dich schrecklich langweilen mit dem Kram, den ich mir da von der Seele kratze. Schön wär’s ja, auf ein Anstösschen Deinerseits antworten zu können, statt wie ein Pinguin Eigengek(l)autes auszuspucken (diese dürfen allerdings hin und wieder auch ein fremdes Ei bebrüten, wie mich kürzlich ein Worldlife-Bericht belehrte!).
15.30. Fast ist die Stille draussen so entnervend wie der Lärm der vergangenen Woche. Die schlagartige Entwöhnung macht einem bewusst, wie ephemer die Ludbreger Kirmes ist und wie schnell das Dorf wieder in seinen Äonenschlaf zurücksinkt. Selbst Ludberga ist plötzlich irrelevant geworden; sie könnte jetzt wieder ein Säkulum auf ihre Kanonisierung warten, es wäre egal, wie es einerlei ist, ob die Sonne eben mal wieder scheint.