MASARYK – UNIVERSITÄT
BRÜNN
Philosophische Fakultät
Institut für Germanistik, Nordistik und Niederlandistik
DIPLOMARBEIT -
„Von Christian Morgenstern
zur Dada-Poesie“
Milada Bobková
Betreuer:
Brünn 2007 PhDr. Jaroslav Kovář, CSc.
Erklärung
Ich erkläre hiermit, dass ich die Diplomarbeit zum Thema:
„Von Christian Morgenstern zur Dada-Poesie“
selbstständig und nur mit Hilfe der angegebenen Quellen erarbeitet habe.
Datum: Unterschrift:
Danksagung
Besonders danken möchte ich Herrn PhDr. Jaroslav Kovář, CSc. für die fachkundige Führung bei der Bearbeitung dieser Diplomarbeit.
Inhalt
Einleitung............................................................................................................................ 5
1.Über Christian Morgenstern.......................................................................................... 6
1.1 Sein Leben und Werk.....................................................................................................6
1.2 Über den Dichter Christian Morgenstern von Dieter Zimmer................................... 16
1.3 Analyse der Gedichte von Christian Morgenstern......................................................19
1.3.1 Mit Anmerkungen von Jeremias Müller............................................................... 26
2. Überblick über den Dadaismus................................................................................... 47
2.1 Was ist Dadaismus?................................................................................................... 47
2.1.1 Dadaistisches Manifest…………………………………………………………49
2.2 Das Cabaret Voltaire und der Dadaismus………………………………………… 52
2.2.1 Erste Nennung von Dada……………………………………………………... 55
2.3 Entwicklung des Dadaismus……………………………………………………… 58
2.4 Reaktionen der Kritik auf die Dada – Kunst………………………………………. 60
2.5 Analyse der dadaistischen Gedichte………………………………………………. 64
2.5.1 Tristan Tzara –
Um ein dadaistisches Gedicht zu machen………………………………………64
3. Was verbindet und was trennt Christian Morgenstern und den Dadaismus………71
Schlusswort……………………………………………………………………………….. 73
Literaturverzeichnis………………………………………………………………………... 75
Einleitung
„Im echten Mann ist ein Kind versteckt, das will spielen.“ Dieses Zitat von Nietzsche erscheint in fast jeder Auflage von Morgensterns Galgenlieder. Wie stark es mit diesem Werk verbunden ist, ist nach dem Lesen sehr gut zu begreifen. Dieses Zitat gehört aber nicht nur zu diesem Werk, es ist eigentlich das Motto von Morgensterns Leben, aber auch von vielen, die nicht vergessen, dass man das Leben nicht nur ernst nehmen muss, und die zugleich wissen, dass der Humor das Leben nicht lächerlich macht, sondern eine Hochachtung vor ihm hat.
Manche der Galgenlieder kommen aus seinen Studentenjahren (um 1895). In dieser Zeit machte er mit seinen Freunden einen Ausflug zum Galgenberg. So hieß ein Berg in der Nähe von Berlin und zugleich ein Restaurant. Die Inspiration für den Namen der Sammlung ist daher offensichtlich.
Die Galgenlieder wurden erst im Jahre 1905 herausgegeben und manche der in dieser Sammlung erschienenen Gedichte kommen aus dieser späteren Zeit. Damals war er kein Student mehr und seine vererbte Lungenkrankheit holte ihn wieder ein. Auch in dieser schwierigen Lebenssituation verlor er seinen Humor nicht und nach dem Motto, dass Humor heilt, schrieb er die nächsten verspielten Gedichte und gab diese Sammlung heraus.
Diese Gedichte schrieb er aber nur zur Entspannung, zum Spaß und später zur Erleichterung der Krankheit und um sie für kurze Zeit zu vergessen. Er schrieb den Galgenliedern kein großes Gewicht zu. Wichtiger waren für ihn die ernsten, philosophisch gestimmten Sammlungen. Paradoxerweise machten gerade diese ihn nicht so viel berühmt, aber dank der Galgenlieder wurde er unsterblich.
Die erste Veranstaltung von Dadaisten Im Cabaret Voltaire am 5. Februar 1916 war den Wortspielen in Morgensterns Gedichten sehr ähnlich. Sowohl Morgenstern als auch die Dadaisten hatten auch eine Vorliebe für die Dekonstruktion der Wörter, aber die Dadaisten gingen darin noch weiter. Von Wörtern bleiben nur die einzelnen Laute übrig und den Schwerpunkt der Lautgedichte bildet die Akustik. Bei Morgenstern sind die Lautgedichte nur Randwerk, aber dank der Wortspiele und der Benutzung von Teilen des Wortes wird Morgenstern als Vorgänger des Dadaismus bezeichnet.
1. Über Christian Morgenstern
1.1 Sein Leben und Werk
„Wenn ich aber tot sein werde, so tut mir die Liebe und kratzt nicht alles hervor, was ich je gesagt, geschrieben oder getan. Glaubet nicht, dass in der Breite meines Lebens das liegt, was euch wahrhaft dienlich sein kann. Die wichtigsten Daten meines Lebens: Geburt, Tod der Mutter, Friedrich Kayßler, Nietzsche meine Frau, Rudolf Steiner.“
Am 6. Mai 1871 wird Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern in München geboren, Enkel des Landschaftsmalers Josef Schertel, einziger Sohn des Landschaftsmalers Carl Ernst Morgenstern.
Er verlebt glückliche, eindrucksreiche Kindheitsjahre: Sommermonate am Ammer-, Staffel und Kochelsee, weil sein Vater dort mit Vorliebe malt, und erlebt zahlreiche Reisen – darunter eine nach Tirol, der Schweiz und dem Elsaß -, weil diese Lungenleiden der Mutter lindern. Ein geregelter Schulbesuch bleibt dem Sohn erspart. 1881 aber nimmt der „Sonnenschein“ dieser Kindheit mit dem Tod der Mutter ein Ende. Der Zehnjährige wird zunächst nach Hamburg zu seinem Paten, dem Kunsthändler Arnold Otto Meyer, geschickt, 1882 dann in eine Landshuter Erziehungsanstalt, wo ihn bald der Vater trösten muss: „Der nicht geschundene Mensch wird nicht gebildet.“
Als Carl Ernst Morgenstern – inzwischen verheiratet mit Amélie von Dall´Armi – Professor an der Königlichen Kunstschule zu Breslau wird, lässt er seinen Sohn 1884 folgen, der bis 1889 dort ein Gymnasium besucht. Der Gymnasiast dichtet – dreizehnjährig: „O Afrika, du Land der Träume, du der Kamele Heimatland…“ und historische Trauerspiele, setzt Teile der Jason- und Troja-Sage in Knittelverse und schreibt sechzehnjährig neben humoristischen Versen Alexander von Bulgarien, ein Trauerspiel. Sechzehnjährig lernt er die Schriften Schopenhauers kennen, „vor allem auch schon die Lehre von der Wiederverkörperung“, und studiert Volapük.
Auf Wunsch seines Vaters verlässt der Achtzehnjährige das Gymnasium vorzeitig, um in der Militär-Vorbildungsschule des Obersten von Walther zum Offizier sich bilden zu lassen. Bereits ein halbes Jahr später aber schreibt Morgenstern: „Ich muss gestehen, meine Neigung zum Soldatenstande oder besser zum Soldatenberufe war nie eine echte, tiefe. Mich hält die Poesie die Kunst, der Drang nach Wahrheit zu sehr in ihrem Bann.“ 1890 besucht er wieder ein Gymnasium, diesmal in Sorau, und schließt dort 1892 ab. Morgenstern blickt zurück: „Zuerst hat mich die Schule zur Unaufrichtigkeit verleitet, sodann hat sie meine Sittlichkeit gefährdet, darauf hat sie mich durch absolute Nichtachtung und Verhöhnung meiner Individualität verbittet und verdüstert, zuletzt hat sie mich tödlich gelangweilt.“ Ein wichtiges Ereignis dieser Jahre aber ist die Bekanntschaft mit Friedrich Kayßler, dem späteren Schauspieler und „Lebensfreund“, dem Empfänger zahlloser Briefe Morgensterns, dem dieser sein drittes Buch mit den Worten widmet:
Wär´ der Begriff des Echten verloren,
in Dir wär´ er wiedergeboren.
1892 beginnt Christian Morgenstern in Breslau das Studium der Nationalökonomie, hört Deutsche Rechtsgeschichte bei Felix Dahn und begeistert sich für Werner Sombart, dessen „Sozialismus und soziale Bewegung“ 1897 erscheinen wird. Er gründet mit Freunden den „Deutschen Geist“ – „hoffentlich beginnt mit ihm eine neue Ära“ -, eine von Patriotismus getragene, die Einheit des Reiches beschwörende, hektographierte Zeitschrift, in der zitiert zu werden Sombart gestattet und die Dahn abonniert. Er schreibt Sansara, die humoristische „Zeichnung eines originellen Kopfes“ und plant Menschen, einen humoristischen Roman.
Als Morgenstern das Sommersemester 1893 gemeinsam mit Kayßler in München verbringt, fällt ihn zum ersten Mal schwer „das Leidenerbe der Mutter“ an und zwingt ihn zum ersten Mal zu einer Kur – im schlesischen Bad Reinerz – und, nach Breslau zurückgekehrt, zu seiner fünfmonatigen „Zimmerhaft“ im Winter. In den Wochen der Erholung entsteht „eine Anzahl humoristisch-satirischer Aufsätze“, darunter „Die Feigenblätter“ und ein „Interview bei einem“, das Morgensterns Lektüre in Bad Reinerz widerspiegelt, Sternes „Tristam Shandy´s Leben und Meinungen.“ In die Monate der Zimmerhaft fällt das wichtige Ereignis des Breslauer Studienzeit: „Wenn die Sonne emporsteigt, erwachen die Lerchen. Die Sonne ging auf – da bin ich erwacht, eine Lerche Zarathustras.“ Christian Morgenstern lernt das Werk Friedrich Nietzsche kennen, unter dessen Einfluss er in den folgenden Jahren dichten wird.
1894 trennt sich Professor Carl Ernst Morgenstern von seiner Frau Amélie, heiratet Elisabeth Reche, seine dritte Frau, seine Malschülerin und eine Jugendfreundin seines Sohnes, und erklärt sich – wegen der Unterhaltungszahlungen an Amélie – außerstande, das Studium seines Sohnes weiterhin zu finanzieren. Ein Angebot Dahns, den gemeinsame Breslauer „Bayernabende“ mit Carl Ernst Morgenstern verbinden, die Finanzierung zu übernehmen, lehnt seinerseits – möglicherweise auf väterlichen Druck – Christian Morgenstern ab. Als schließlich 1895 der Vater den Sohn auffordert, jegliche Verbindung mit Amélie Morgenstern aufzugeben, und dieser sich weigert, brechen sie miteinander und werden eineinhalb Jahrzehnte lang nicht mehr miteinander reden. Rückblickend schreibt Christian Morgenstern seiner Stiefmutter 1908: „Als mein Vater dreiundzwanzig Jahre alt war, da schloss ihm mein Großvater die Welt auf; als der Sohn dreiundzwanzig Jahre alt war, da schloss sich die Tür seines Hauses hinter ihm, wie hinter einem Toten.“
1894 zieht Morgenstern nach Berlin, nicht um Volkswirtschaft, sondern nun Kunstgeschichte und Archäologie zu studieren, bis er „den bezüglichen Doktor gebaut habe.“ Der Student wird von Geheimrat Jordan in der Nationalgalerie angestellt, „um einen wichtigen Katalog sämtlicher Porträts anzufertigen,“ und erhält dafür Monatsgehalt von 75 Mark. Einige Vorlesungen werden besucht, aber das Studium bleibt weit davon entfernt, jemals abgeschlossen zu sein. Das Interesse Morgensterns liegt längst anderswo. Gleich nach seiner Ankunft im April besucht er die Brüder Hart, deren letzte „Kritische Waffengänge“ nun schon acht Jahre zurückliegen, deren Friedrichshagener Künstlergruppe aber noch immer, wenn auch schon ohne den Mitbegründer Wilhelm Bölsche, am Müggelsee zusammentrifft. Morgenstern wird dort freundlich aufgenommen und auf Empfehlung der Harts schließlich auch in den Klub der Mitarbeiter der Täglichen Rundschau. Im Mai kann er berichten: „Alle Freitage habe ich hier sehr interessanten Verkehr im Schriftsteller-Klub: Heinrich und Julias Hart, Friedrich Lange, John Henry Mackay, Hanns von Gumppenberg, Paul Scheerbart, Hegeler, Cäsar Flaischlen, Evers, Bruno Wille, Willy Pastor, O. E. Hartleben, der Maler Hendrich etc. etc.“
Christian Morgenstern beginnt 1894 in dieser Umgebung, „Sünde wider den heiligen Geist zu üben“: das Feuilleton, bis zum Oktober allein für wenigstens neun Zeitschriften: Frei Bühne, Zuschauer, Magazin für Literatur, Penaten, Deutsche Dichtung, Bremer literarische Blätter, Frankfurter Zeitung, Monatsschrift für neue Literatur und Kunst, Hannoverscher Kurier, Wegwarten, Wiener Rundschau, Das deutsche Dichterheim, Die Gesellschaft. Das kulturelle Leben der Stadt Berlin kostet Morgenstern aus: Premiere des Florian Geyer, Josef Kainz als Hamlet oder Misanthrop, die Generalproben der Philharmoniker… Er schreibt Briefe an einen Botokunden, Zeitsatire in der Tradition der „Letteres persanes.“ Christian Morgensterns erste Jahre in Berlin: „Es geht mir hier außerordentlich gut.“
Im Sommer 1894 reist er nach Bad Grund, 1895 nach Sylt, 1896 in die Alpen. Der Plan einer poetischen „Symphonie“ entsteht: „Die Symphonie enthalte alles, was ich empfinde, das Ewige, Überzeitliche, wie das Zeitliche, im Augenblick Bedingte: die Sorgen unserer Tage um unser Haupt wie schwarze Dohlen.“ Die vier Sätze: I. Illusion, II. Höchster Friede, III. Venus Kobold, IV. Große Leidenschaft. Der Anspruch des Planes ist hoch – der erste Satz „muss Niegesagtes enthalten“, der vierte „große Lebensoffenbarungen und Gewissheiten“ – und er kann nicht eingelöst werden. Als groteske Dichtung wird gleichzeitig der „Welt-Kobold“ geplant: Nicht Gott, sondern ein Kobold ist der Schöpfer der Welt, „er träumt Symphonien, er komponiert Sphärensymphonien. Und wo er einen ton denkt, da klingt ein glühender, glüht ein klingender Stern auf, und die Spur, die im Äther er zieht, die ist der gewollte Ton.“ Der „Welt-Kobold“ wird nicht vollendet.
1895 erscheint In Phanta´s Schloß, „ein Zyklus humoristisch-phantastischer Dichtungen“, Christian Morgensterns erstes Buch, 1896 sein Horatius travestitus, „ein Studentenscherz“, und 1897 und 1898 wird mit den Bänden Auf vielen Wegen und Ich und die Welt die Lyrik der Berliner Jahre schließlich zusammengefasst.
Der ehemalige Offiziersschüler, Student der Nationalökonomie und Kunstgeschichte ist freier Schriftsteller geworden. Zu seinem Alltag gehört darum auch Geldmangel. Als ihm 1897 der Georg Bondi Verlag anbietet, Strindbergs Inferno – mit dessen Autorisation – aus dem Französischen zu übersetzten, nimmt Morgenstern den Auftrag an. Und er nimmt nur wenige Wochen später auch an, als Paul Schlenther ihn als Übersetzer der Versdramen und Gedichte Henrik Ibsens vorschlägt, die im Rahmen der autorisierten deutschen Gesamtausgabe der Fischer Verlags – Herausgeber: Schlenther, Brandes, Elias – erscheinen sollen. Im Oktober 1897 einigen sich Fischer und „ein junger deutscher Dichter, der sich in der Literatur bereits einen Namen gemacht hat.“ (so die Umschlagankündigung), des Norwegischen aber noch unkundig ist.
Weil Sämtliche Werke bei der Gelegenheit des siebzigsten Geburtstages Ibsens im März 1898 zu erscheinen beginnen sollen, willigt Morgenstern ein, bis zum Februar für den als ersten vorgenommenen Band II Gildet paa Solhaug zu übersetzten. Das gelingt. Die Überlegung, „ich könnte mich (…) überhaupt für dänische Literatur einrichten. – Vom Honorar wird ja alles abhängen,“ wird Wirklichkeit. Komödie der Liebe erscheint 1898 im dritten, Wenn wir Toten erwachen 1899 im neunten Band. 1901 folgen Brand und Peer Gynt im vierten und 1903 schließlich Gedichte und Catilina im ersten Band. Morgenstern wird Knut Hamsums Dramen Aftenrode und Livets Spil und Gedichte Bjornstjerne Bjornsons übersetzen.
Um seine Kenntnisse des Norwegischen zu vertiefen, reist Morgenstern 1898 nach Kristiana – seit 1924 „Oslo“ – und trifft dort im Gand Hotel der Stadt zum ersten Mal mit Henrik Ibsen zusammen. Der siebzigjährige Dichter und sein siebenundzwanzigjähriger Übersetzer zeigen sich – auch in den Treffen, die noch folgen – miteinander umgänglich, höflich, herzlich bisweilen. Ibsen lernt Morgensterns Arbeit schätzen. Am 14. Januar 1899 – übersetzt sind Gildet paa Solhaug und Kjarlighedens Komedie – notiert dieser: „Mit Ibsen im Lesesaal des Grand zusammen. Mittags.“ (Er hatte einen braunen Mantel an mit Seideneinsätzen.) Er kam bald auf meine Übersetzung zu sprechen: „Ja, ich finde sie außerordentlich gelungen, die Verse sind in so fließendem Deutsch, wie ich das bei einer Übersetzung gar nicht für möglich gehalten hätte.“
Nach Vollendung seines letzten Dramas, Naar vi dode vaagmer, schreibt Ibsen darum an Elias. „Ich hege den lebhaften Wunsch, dass Herr Christian Morgenstern seinerzeit die Übersetzung meines neuen Stückes besorgen möge. Er ist ein höchst begabter, wirklicher Dichter.“ Der Übersetzer selbst weiß um die Grenzen seiner Kunst: „Mann kann nicht von guten und besseren, sondern nur von schlechten und weniger schlechten Übertragungen fremder Poesie sprechen.“
Dem Werk Henrik Ibsen steht Christian Morgenstern kritisch gegenüber, er lehnt den „Dogmatiker, Theoretiker, Scholastiker, (…) den Theologen in Ibsen“, den „Nihilisten“ ab und klagt 1902 vor Abschluss des Auftrags: „Die Gedichte Ibsens liegen schwer auf mir; ich möchte endlich frei sein und soll immer noch diese fremde Welt mit mir herumschleppen, der ich mich oft aufs bitterste Feind fühle.“ Als Ibsen 1906 stirbt, zeichnet die Witwe sechs Personen für ihre Verdienste um das Werk des Dichters mit einem Silbermedaillon aus, Christian Morgenstern darunter.
Der Aufenthalt in Norwegen dauert ein einviertel Jahre, im letzen Vierteljahr bereist Morgenstern die Westküste – Trondheim, Molde, Bergen -, besucht in Troldhangen den Komponisten des Peer Gynt, Edvard Grieg, kann notieren: „Ein jedes Jahr schmeck ich den Wein des Lebens um eine Nüance reicher.“ Nach einem Arztbesuch in Bergen aber erhält die Metapher eine andere Wendung:
Dunkler Tropfe,
der mit heut in den Becher fiel,
in den Becher des Lebens,
dunkler Tropfe Tod.
Im Herbst 1899 kehr Morgenstern nach Berlin zurück, im Sommer 1900 erkrankt er, sucht Linderung in einem Sanatorium in Schlachtensee, dann um Winter bei Hofrat Dr. Turban, einem Lungenspezialisten, in Davos. In diesem Jahr erscheint Ein Sommer, sein fünftes Buch. Morgenstern bleibt auch 1901 in der Schweiz, zunächst am Vierwaldstättersee in Kastanienbaum und Wolfenschießen – Peer Gynt wird abgeschlossen -, während des Winters dann in dem Gebirgskurort Arosa: „Arosa, nur mit der Post von Chur aus zu erreichen, liegt noch höher als Davos…“ auch in den Zauberbergen aber reißt die Verbindung mit Berlin nicht ab. Als Ernst von Wolzogens Überbrettl am 18. Januar 1901 im Sezessionstheater am Alexanderplatz Premiere feiert, werden auch zwei Stücke Morgensterns aufgeführt: die d´Annunzio-Parodie Das Mittagmahl und Der Hundeschwanz, eine Kerr-Parodie, die den Stil des Kritikers so genau trifft, dass man diesen im Publikum – er selbst ist anwesend – für den Autor hält. Max Reinhards und Friedrich Kayßlers Schall und Rauch, das eine Woche später im Künstlerhaus in der Bellevuestraße mit einem Benefiz-Abend für den Davoser Patienten öffnet, wird die ersten Galgenlieder präsentieren, vier Jahre bevor diese in einem Buch erscheinen. Von der Zensur verboten werden eine Parodie auf Josef Lauff, den Dichter des Hohenzollern-Stückes Der Burggraf (1897) und eine Parodie auf Georges Feydeaus Komödie la dame de ches Maxim´s (1899), die eine – Der Lauffgraf – offenbar wegen despektierlicher Anspielungen auf Wilhelm II., die andere – Die Dame von Minime – wegen eines Betts auf der Bühne. Kayßler drängt den Freund, weitere Beiträge zu schreiben - „du ahnst nicht, was für ein fruchtbarer Boden für diese leichte Kunst jetzt Berlin ist“ – doch dieser kann eines nicht: „auf Bestellung arbeiten.“
1901 lernt Morgenstern durch seinen Freund Efraim Frisch die Deutschen Schriften des Orientalisten und Philosophen Paul de Lagarde kennen, sein Ideal vom „deutschen Wesen“, seine Version von dessen völkischer Mission… Lagarde wird nach Friedrich Nietsche zum zweiten geistigen Führer Morgensterns, der sich sechs Jahre später noch diese Grabinschrift wünschen wird: den eigenen Namen, „nur den Namen und: Lest Lagarde.“ Christian Morgenstern ist der Kritiker eines bornierten Kaisers Wilhelm, aber Monarchist. Den Sozialismus fürchtet er –„dann fängt das Blut überhaupt erst an, zu fließen“ -, Napoleon verehrt er: „Nicht nur einmal – zehnmal Absolutismus – und nicht Parlamentarismus.“
Anfang 1902 erscheint Und aber ründet sich ein Kranz, Morgensterns sechste Sammlung. Im März verlässt er Arosa, reist nach Rapallo, an die italienische Riviera und logiert schließlich im Piccolo-Hotel des Kurorts Portofino. Er reist im Mai über Pisa nach Florenz, widmet sich ganz der Kunstgeschichte der Stadt und besucht dabei auch San Marco, das Kloster Savonarolas. Der Plan einer Renaissance – Trilogie entsteht: Savonarola, die Tragödie der religiösen Leidenschaft, Cesare Borgia, die Tragödie des Weltmenschen, Julius II., die Tragödie der heroischen Ungeduld.
Nach seiner Rückkehr in die Schweiz und nach Deutschland entschließt sich Morgenstern noch Ende des Jahres, erneut nach Italien zu reisen, diesmal mit dem Plan, den Lebensunterhaltung dort mit Feuilletons zu bestreiten. Die Ibsen-Übersetzung ist abgeschlossen, das Guthaben bei Fischer beträgt noch 15 Mark. Die Reise führt über Mailand nach Florenz, dann „in den römischen Morgen hinein. Um sieben Uhr kam ich an und ließ mich von einer Droschke ins Unbekannte hinausfahren.“ Rom aber erfüllt die Erwartung nicht. Der umherstreifende Liebhaber der Kunst- und Baudenkmäler bleibt einsam, der freie Schriftsteller unversorgt: „Vier Aufsätze monatlich = 100 M., wer bringt das fertig…“ Auf Einladung des Musikers Ludwig Landshoff verbringt Morgenstern im Frühjahr 1903 noch einige Wochen in Fiesole bei Florenz und kehrt schließlich im Mai nach Berlin zurück.
Christian Morgenstern im Juli: „Berlin hat mich verschluckt, dazu bin ich einmal wieder voll von tausend Dingen (…). Nebenbei werde ich vom 1. August ab Dramaturg bei Felix Bloch Erben: täglich fünf Bürostunden, zehn Briefe, zwei Dramen.“ Im September ist er Lektor bei Bruno Cassirer und „vom 15. September ab wird im Verlag von Bruno Cassirer unter Leitung von Christian Morgenstern eine Theaterzeitschrift (Halbmonatsschrift) des Titels Das Theater im Umfang von etwa einem Bogen erscheinen.“ Das Programm: „jeden zu Gehör kommen lassen, der zur Weiterentwicklung des Theaters irgend etwas zu sagen weiß. Befruchtenden Anregungen soll ebenso wie Polemik und Kritik der weiteste Spielraum gewährt werden.“ Verkauft wird die Zeitschrift im „Kleinen Theater“ und „Neuen Theater“ mit Programmen. In zwei Jahrgängen erscheinen 25 Ausgaben mit einem Umfang von 12 bis 16 Seiten, mit Zeichnungen von Beardsley, Corinth, von Hofmann, Menzel, Slevogt, Somoff, Toulouse-Lautrec, Karl Walser und anderen, mit Beiträgen von Julius Bab, Louise Dumont, Efraim Frisch, Julius Hart, Richard Beer-Hofmann, Felix Hollaender, Friedrich Kayßler, Josef Ruederer, Johannes Schlaf, Wilhelm von Scholz, Otto Stoeßl…, und im September 1904 teilt Morgenstern mit: „Wir haben soeben Hofmannsthals Beitrag erhalten, natürlich zu lang, aber ein Dithyrambus, der nicht zu zerreißen ist.“ Die Zeitschrift stellt im Frühjahr 1905 ihr Erscheinen ein. Der Herausgeber nennt die Gründe: „man hat ihr (…) alle Freiheit unterbunden, dazu ihren Umfang noch mehr beschränkt, so dass sie mir kein Vergnügen mehr macht.“ Morgensterns Projekt einer freieren und umfangreicheren Theaterzeitschrift scheitert, weil Geldgeber fehlen, sein Projekt „Berliner Monatshefte“ – geplanter Titel: „Der Dürfer“ – ebenso.
1905, als die Galgenlieder zum ersten Mal erscheinen, holt Dichter erneuert seine Krankheit ein: Sanatoriumssommer in Wyk auf Föhr, Santoriumswinter in Birkenwerder. Er schreibt Kindergedichte, Vom großen Elefanten, Die Enten laufen Schlittschuh, plant ein Galgenliederkinderbuch und stellt für den Berliner Julius Bard Verlag Gedichte Walthers von der Vogelweide zusammen, übersetzt von Simrock, Text neu ausgewählt und durchgesehen von Christian Morgenstern. Im Mai 1906 noch immer febril, entscheidet sich für einen Wechsel nach Tirol. Auf der Reise dorthin verschlechtert sich sein Zustand und hält ihn einen Monat lang in München fest, bevor er endlich Längenfeld, dann – stiller und höher gelegen – Obergurgl erreicht.
„Inzwischen war dem Fünfunddreißigjährigen Entscheidendes geworden. Natur und Mensch hatten sich ihm endgültig vergeistigt. Und als er eines Abends wieder einmal das Evangelium nach Johannes aufschlug, glaubte er es zum ersten Male wirklich zu verstehen.“: „Ich und der Vater sind eins.“ Christian Morgenstern glaubt sein Weltbild „auf einem Punkte, wo der Mensch mit Gott zusammenfällt, wo er aufhört, sich als Sonderwesen fühlen zu können“, und meint zu erkennen, „dass Gott nur soweit Gott ist, als er Welt ist, dass die Welt nichts anderes ist als Gott selbst, - dass in demselben Augenblick, da ein Mensch sich eines Gott-Seins bewusst wird, Gott in ihm sich seiner selbst als Mensch bewusst wird.“ Morgenstern liest Meister Eckhart und Jakob Böhme, er beginnt das Tagebuch eines Mystikers, welches er als Höhepunkt eines großen Romans mit einem Helden Wilhelm Friedemann plant, und beginnt den Zyklus Der Christus. Beide Vorhaben bleiben unvollendet. 1906 erscheint die Sammlung Melancholie, Morgensterns achtes Buch.
Im Herbst dieses Jahres reist der Dichter hinunter in den Winterkurort Meranund mietet sich in der Villa Kirchlechner von Obermais ein. Im Frühjahr 1907 reist er an den Gardsee, im Sommer an den Vierwaldstätter See, bearbeitet dort für Reinhardt Ibsens Gespenster, Hedda Gabler, Baumeister Solneß und Brand, reist weiter in das Schweizer Tenigerbad und kehrt im Herbst – „da ich bei all dem Herumzigeunern wenigstens einen festen Punkt haben muss“ – nach Obermais zurück. Dort liest er im Winter Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache und bleibt bis zum Sommer des kommenden Jahres. Christian Morgensterns Resümee dieser Jahre der Krankheit, der Mystik, der Skepsis: „Wenn ich das Gegenwärtige nicht so liebte, wenn ich diese Liebe nicht hätte wie einen großen und sicheren Fallschirm, ich wäre längst ins Bodenlose gefallen. Wie wenig meiner sicher bin ich doch noch, ich irre in diesen europäischen Ländern umher wie ein Vogel in einem Treibhaus.“
„So kam das Jahr 1908 –
Da traf ich Dich, in ärgster Not: den Andern!
Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut…“
Morgenstern trifft im Tiroler bad Dreikirchen Margareta Gosebruch Freiin von Liechtenstern. Sie wird er 1910 heiraten, in Hinblick auf sie wird er 1911 notieren: „Ich darf wohl sagen: Die Entdeckung meines Mannesalters ist die Frau.“ Den August 1908 verbringen sie gemeinsam – gemeinsam auch mit Margaretas Freundin Leontine von Hippius -, dann reisen die beiden Damen ab, Morgenstern kehrt nach Meran zurück und schreibt von dort am 2. September: „Chérie, mir fehlt bereits Ihr Bild unendlich…“
Die Jahre der „Melancholie“ nehmen ein Ende: „Meine Phantasie arbeitet jetzt stark. Mein Glaube an mich ist mir jetzt endlich wiederkommen. Ich setzte mir jetzt unter anderem vor: vierzehn mal vierzehn Sonette…“ Seinen „großen“ Roman greift Morgenstern wieder auf, „einen Menschen, der sich als die Ewigkeit, die er ist, nach und nach aus der Zeit (die er auch ist) herausgräbt.“ Geplant werden Römische Dithyramben: „welthistorische Gesänge, ganz großen Stiles, gewaltige Erden – und Sonnenlieder.“
Seine Liebe aber ist nicht unbeschwert. Als er die erkrankte Margareta in Freiburg besucht, weisen ihre Mutter, eine Generalswitwe, und ihr Bruder, ein Offizier, ihn zurück. Zur Trauung am 7. März 1910 in Meran-Obermais erscheinen weder ihre Mutter noch sein Vater: „ich bedauere geradezu Deine Verirrung.“ Christian Morgenstern sorgt sich um eines: „Daran, dass unsere Liebe nicht verbürgerlicht, hängt alles, alles. Wenn wir nicht die Distanz eines namenlosen Ernstes zwischen uns legen und aufrecht erhalten, wird unsere Liebe den Weg aller Liebe gehen.“ Dass diese Liebe einen besonderen Weg gehen wird, entscheidet sich im Januar 1909. Im Berliner Architektenhaus hören die Verlobten einen Vortrag Rudolf Steiners über Tolstoi und Carnegie. Von nun an wird ihre Verbindung im Zeichen von Theosophie und Anthroposophie stehen. Beide werden gemeinsam die Schriften Steiners studieren und – wenn möglich – gemeinsam seinen Vortragsreisen folgen. Im April hören sie in Düsseldorf „Die geistigen Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt.“ Im Mai – Margareta begleitet ihre Mutter nach Florenz – reist Morgenstern, um Steiner zu hören, nach Kristiana: „Er ist ein Menschheitsführer, und es bedeutet etwas, einem so Seltenen im Leben zu begegnen.“ Die Reise ermöglicht ein „Fonds“, den Bruno Cassirer einrichtet. Im selben Monat wird Morgenstern Mitglied der theosophischen Gesellschaft, im selben Monat nimmt er an einem internationalen theosophischen Kongress in Budapest teil und kann die Stadt erst wieder verlassen, als ihm telegraphisch Geld angewiesen wird: „Diese ganze Tournée ist gewiss sehr phantastisch…“ Im Juni trifft er, um einen Zyklus Steiners über das Johannesevangelium zu hören, mit Margareta in Kassel zusammen. Hier endlich kommt Christian Morgenstern dem verehrten Lehrer auch persönlich näher, er wird in den Kreis der „Esoteriker“ aufgenommen: „Glück in medias res.“ Im August hören die Verlobten Steiner in München – „Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi“ – im September, zurück in Meran, erkrankt Morgenstern schwer.
1910 erscheinen Palmström und Einkehr. Morgensterns ziehen im Sommer dieses Jahres in den Dolomiten-Kurort Dürrenstein, hören Steiner in Bern, wohnen im Herbst in München, reisen im Oktober nach Verona, nehmen in Genua ein Schiff nach Palermo und mieten sich für den Winter –„200 Meter über dem Strand“ – in Toarmina ein. Morgenstern erkrankt schwer: „ich beginne, Heine um seine Matrazengruft zu beneiden.“ Einem Krankenhausaufenthalt in Rom im Frühjahr 1911 folgen Sanatoriumsmonate in Arosa, wo das Paar schließlich auch privat wohnen kann. Die Gedichtsammlung Ich und Du erscheint, die letzte zu Lebzeiten Morgensterns. Den Herbst 1912 verbringt er – wie den Herbst 1900 – im Davoser Sanatorium des Hofrat Dr. Turban, kehrt nach Arosa zurück und reist im Februar 1913 an die Adria: Portorose, wo er mit seinem späteren Biographen, dem Theosophen Michael Bauer, zusammentrifft. Wochen in Bad Reichenhall schließen sich an, Monate in München , Stuttgart, Leipzig in der Folge Rudolf Steiners: „Es gibt in der ganzen heutigen Kulturwelt keinen größeren geistigen Genuss, als diesem Manne zuzuhören…“ Anfang 1914 verweigert das Sanatorium in Arco/Südtirol die Aufnahme des Schwerkranken, der schon seit Monaten nur noch flüstern kann, widerstrebend gewährt sie ein Sanatorium in Gries bei Bozen, bis sein Zustand sich weiter verschlechtert. Nierenkoliken setzen ein. Letzte Zuflucht findet er in einer Pension in Meran. Dort stirbt er am 31. März 1914. 1
1.2 Über den Dichter Christian Morgenstern von Dieter Zimmer
Über Christian Morgensterns Werk wurde schon viel geschrieben. Mir hat besonders gefallen, wie zutreffend sich Dieter Zimmer im Buch Die schönsten Galgenlieder von Christian Morgenstern über ihn und seine Literatur ausdrückt:
Der arme Christian Morgenstern zählt zu jenen Dichtern, denen nachgeborene Kritiker bisweilen mit erhobenem Zeigefinger nachweisen, sie hätten Großartiges schaffen wollen, sozusagen höchsten Tiefsinn, es sei ihnen jedoch, gelinge gesagt, zum Unsinn geraten: Die ernsthaften Empfindungen in allen Ehren, lieber Meister, aber die Umsetzung in Worte…Gewollt, aber nicht gekonnt! So streng ist manchmal die Wissenschaft. Nun hat Morgenstern insofern Glück, dass er außer Ernsthaftem eine Menge wirklichen Unsinn geschrieben hat. Absichtlich. Der gebildete Mensch nennt so etwas Nonsens. Damit ist Christian Morgenstern unsterblich geworden. Wer, frage ich mal, hat je etwas anderes von ihm gelesen als die Galgenlieder? Und wer, andersherum gefragt, kennt nicht wenigstens die berühmten zwei Zeilen, die von Palmström handeln:
„Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.“
Da frage ich mich aber schon, inwiefern dies Nonsinn oder Unsens sein soll. Beschreibt er nicht vielmehr ganz ernsthaft ein zentrales politisches Prinzip, ohne das keine Demokratie und schon gar keine Diktatur auskäme?
Überhaut scheint vieles in den Galgenliedern gar nicht unsinnig, sondern höchst plausibel. Zum Beispiel die folgende, Allgemeingut gewordene Feststellung:
„Die Möven sehen alle aus,
als ob sie Emma hießen.“
Wer es nicht ohne weiteres glaubt, lese die erläuternde Bemerkung des Dichters dazu: „Eine Erfahrung, die sich jedem aufdrängt, sobald er eine Möve daraufhin betrachtet.“ (Das Wörtchen „daraufhin“ verrät den Meister und lässt den Empfänglichen mit der Zunge schnalzen.)
Der solches geschrieben hat, dachte ich lange, sollte wohl ein heiterer Gesell gewesen sein. Aber so einfach ist es nicht. Christian Morgenstern gehörte zu den vielleicht beneidenswerten, vielleicht bedauernswerten Menschen, die mit großer Hingabe nach Höchster Vollendung streben und sich nie mit sich selbst zufriedengeben. Das erhebt sie über manche geistige Niederung, aber – so Christian Morgenstern schon als sehr junger Mann: „Ich verbrenne an meinen eigenen Maßstäben.“ Später beklagte er, trotz glänzender Begabung „alles in allem ein Dilettant“ geblieben zu sein.
Die Mystik, die Philosophie Nietzsches, die Anthroposophie Rudolf Steiners haben ihn bewegt, geradezu umgetrieben: Er reiste zu Steiners Vorträgen durch halb Europa. Empfindungen in Dichtung umzusetzen…Das Publikum hat es ihm schlecht gelohnt. So dass von seinem Werk – außer den klassisch gewordenen Übersetzungen norwegischer Dichter, vor allem Ibsens – „nur“ die Galgenlieder überlebt haben, die er selbst „Beiwerkchen“ genannt hatte.
Ob sie ein anderer teil seines Wesens waren, ob sie sein eigentliches Wesen waren, ob beides Ausdruck desselben Wesens war – darüber ist gerätselt worden. Jedenfalls beschrieben alle, die ihn gut kannten, Christian Morgenstern als den liebenswertesten Menschen, der sich denken ließ. Sein gutes Leben, fand sein Freund und Biograph Michael Bauer, sei „vom Nachleuchten der glücklichen Kindheit erhellt“ gewesen. Einer Kindheit in einer Münchener Künstlerfamilie. Danach hat Morgenstern manches erlitten, ein unstetes Dasein, lange Zeiten voller Existenzsorgen, eine frühe Lungenkrankheit, die ihn zu zahlreichen Kuren zwang und ihn am Ende nicht einmal vierundvierzig Jahre alt werden ließ. Spät erst fand er die richtige Frau, die sich nach kurzen Ehejahren dann nur noch um den literarischen Nachlass kümmern konnte. Zeit seines Lebens aber war Christian Morgenstern einer, der Freundschaft und Zuneigung in ungewöhnlichem Maße auf sich zog. Für einen Freundeskreis, der sich „Galgenbrüder“ nannte, entstanden die ersten der skurrilen Gedichte, die ab 1905 gesammelt in Buchform erschienen. Unter wechselnden Titeln und in unterschiedlicher Zusammenstellung kamen bis heute viele Ausgaben heraus, eine Unordnung, die manche Wissenschaftler ganz grimmig werden lässt.
Lebensdaten können wir ein Omen sein oder wenigstens als solches gedeutet werden. Christian Morgenstern wurde 1871 geboren, als ein Krieg endete, und starb 1914, ehe der nächste Krieg begann. Konnte sein Nonsens, dem seine Gegner politisch-gesellschaftliche Harmlosigkeit zum Vorwurf machen, nur in so einer Friedenszeit entstehen? Vereinfacht gesagt: ab 1914 keine Zeit(en) mehr zum Lachen? Dem steht die Merkwürdigkeit entgegen, dass die Galgenlieder erst im Krieg und danach, also postum, ihren Siegeszug antraten. Weil die Zeit was zum Lachen brauchte?
Kurt Tucholsky schrieb 1919: „Man lacht sich krumm, bewundert hinterher, erster geworden, eine tiefe Lyrik, die nur im letzten Augenblick ins Spaßhafte abgedreht ist – und merkt zum Schluss, dass man einen philosophischen Satz gelernt hat.“
Es gibt ja Forscher, die heftigst beklagen, dass die geistesgeschichtliche Stellung der Galgenlieder noch gar nicht gründlich genug erforscht sei. Es wäre wohl wirklich höchste Eisenbahn! Aber bis wir alles ganz genau erfahren, bleibt uns kaum anderes, als uns einfach zu ergötzen. Der Dichter selbst gibt uns, wenn wir nur das richtige Zitat benutzen, eine Rechtfertigung. Er bekannte nämlich mal, seine Galgenlieder seien geschrieben worden „von einem großen Kind für große Kinder.“ 2
1.3 Analyse der Gedichte von Christian Morgenstern
In diesem Teil der Arbeit werden die Gedichte aus der Sammlung Die Galgenlieder (1905) analysiert. Die zur Analyse ausgewählten Gedichte sind nach mehreren Kriterien ausgewählt: Sie sollen Christian Morgensterns beliebte und typische Dichtungsmethoden (Wortspiel, Neologismen, Personifikation usw.) zeigen, weiter sind hier die Gedichte, die bei breiterem Publikum bekannt sind und nicht zuletzt die, die Christian Morgenstern mit seinen eigenen Anmerkungen versehen hat (Morgenstern, Ch.: Über die Galgenlieder, Berlin 1921).
Die Sammlung beginnt mit einer kurzen Erzählung, die dieses ganze Werk, aber nicht nur Werk, sondern auch Morgensterns Lebensansicht erläutert: „Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. Man weißt, was ein „mulus“ ist: die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiteres. Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als andre.“
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