Nina Kühnle, Kiel
Sohn, Andreas: Von der Residenz zur Hauptstadt. Paris im hohen Mittelalter, Ostfildern 2012 [Thorbecke, 256 S., kart., 26 Euro].
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Werner Paravicini, Kiel
RUF, Theodor: Quellen und Erläuterungen zur Geschichte der Stadt Lohr am Main bis zum Jahr 1559, Lohr am Main 2011 [Stadt Lohr am Main, geb., 603 S. mit Abb., 29 Euro].
Mit der unterfränkischen Stadt Lohr am Main wählte Theodor RUF einen Untersuchungsraum für seine Stadtgeschichte, der untrennbar mit der Geschichte der Stadtherren, den Grafen von Rieneck, verbunden sei (S. 19). So berücksichtigt der Autor eine Vielzahl von Quellen, die nicht nur die Stadt betreffen. Berechtigt plädiert er dafür, dass für die Geschichte des Rienecker Zentralortes im Main-Spessart-Gebiet die Geschichte der gesamten Grafschaft mit ihrem herrschenden Geschlecht zu berücksichtigen sei. Sowohl dem Herrschaftsraum als auch dem Grafengeschlecht hatte sich RUF bereits ausführlich in seiner Dissertation aus dem Jahre 1983 unter dem Titel „Die Grafen von Rieneck. Genealogie und Territorienbildung I. Genealogie 1085 bis 1559 und Epochen der Territorienbildung. II. Herkunftstheorien und Systematik der Territorienbildung“ gewidmet (Mainfränkische Studien, Bd. 32/ I und II sowie Schriften des Geschichts- und Museumsvereins Lohr am Main, Folge 18/ I und II). Die vorliegende Monographie fußt in wesentlichen Teilen auf der Quellensammlung und den Ergebnissen seiner bisherigen Forschungstätigkeit (S. 17).
Hinter dem Titel „Quellen und Erläuterungen […]“ verbirgt sich ein doppelter Zugang zur Lohrer Stadtgeschichte, dem die zweigliedrige Konzeption des Werkes entspricht. Während auf einem Drittel des Gesamtumfanges eine ausführliche und klar gegliederte Lohrer Stadtgeschichte unter Berücksichtigung der regionalen Einflüsse durch die Grafschaft präsentiert wird (S. 39-170), folgt auf den anschließenden zwei Dritteln – dem konzeptionell zweiten Teil – eine Regestensammlung, in welcher der Autor die Überlieferung der Zeit von 1221 bis 1559 (ergänzt durch rückverweisende Quellen bis 1816) erfasst (S. 171-515).
Diesen beiden Teilen vorangestellt ist ein recht konzentrierter Überblick über die Quellen- (S. 9-15) und Forschungslage (S. 16-18) zur Lohrer Stadtgeschichte. Die Zusammenstellung der Überlieferung erscheint sehr stark verdichtet, da vielmehr die Archivgeschichte als die konkrete Überlieferungslage der jeweiligen Quellengattungen in den Fokus gerückt wird. Zwar enthalten die einzelnen Abschnitte z.T. kurze quellenbezogene Anmerkungen (z.B. S. 73-77, 85-91), doch hätte eine gebündelte Quellenkritik und Einschätzung des Autors dem Leser ein wertvolles Instrument bei der Arbeit mit den Regesten an die Hand gegeben. Auch verzichtet der Autor im Rahmen seines Forschungsüberblicks auf die Einordnung seiner Arbeit in breitere Forschungsdiskurse wie z.B. die Hof- oder die Residenzstadtforschung. Die knappe Forschung zu Lohr selbst fasst RUF präzise mit der Nennung der wesentlichen Autoren zusammen. Zu Recht verweist er in diesem Zusammenhang auf bestehende Forschungsdesiderate wie z.B. die Geschichte des Niederadels und bietet potentiellen Anschlussprojekten die Möglichkeit der inhaltlichen Anknüpfung (S. 17).
Die Lohrer Stadtgeschichte greift der Autor im ersten Hauptteil der Monographie systematisch in sieben Analysekategorien: A. Lohr und der Spessart: Die Frühzeit, B. Recht, C. Wirtschaft, D. Kirche, E. Kultur, F. Sozialstruktur, G. Der 3. September 1559: Ende oder Anfang?
In Abschnitt A. (S. 39-122) widmet sich RUF zunächst dem Namen der Stadt Lohr sowie den gängigen Interpretationsmodellen zur Erläuterung von dessen Herkunft (S. 39f.). Es folgt eine sehr umfangreiche Darstellung der Ereignisgeschichte des Main-Spessart-Gebiets im Allgemeinen (S. 47-116), die von der vor- und frühgeschichtlichen Zeit und den ersten Nachweisen der Besiedlung (S. 47f.) über die komplexen Waldnutzungsrechte für den „Aschaffenburger Forst“ im Frühmittelalter (S. 59-72) bis hin zur allgemeinen Entwicklung des Spessartraumes im 11. Jahrhundert (S. 114f.) reicht. Dabei verweist der Autor auch immer wieder auf Erkenntnisse der Archäologie. RUF bettet dabei die Stadt Lohr in einen zeitlichen und räumlichen Gesamtkontext ein, um den Eindruck einer isolierten Stadtgeschichte zu verhindern (S. 116). Erst abschließend behandelt RUF die Stadt Lohr selbst bis zum Einsetzen der frühesten schriftlichen Quellen am Ende des 13. Jahrhunderts (S. 116-122).
Abschnitt B. (S. 123-138) beschäftigt sich mit den rechtlichen Beziehungen in Lohr, die RUF als „die Basis jeder Gemeinschaft“ bewertet (S. 123). Während der Autor den räumlichen Bezugsrahmen auf Lohr verengt, verharrt er in der chronologischen Darstellung und verfolgt die Zeit nach 1300. So beschreibt er zum einen verschiedene Aspekte der Stadtherrschaft durch die Grafen von Rieneck, wie z.B. das Stadt- und Bürgerrecht oder die Leibeigenschaft. Zum anderen erfasst er die Ämter und verschiedenen Institutionen wie den Zentgraf und die Zentgerichtsbarkeit.
Abschnitt C. (S. 138-149) erfasst die Wirtschaftsgeschichte der Stadt Lohr, die aber wiederum in den Kontext der Geschichte der gesamten Grafschaft gerückt wird. Insbesondere wird auf Lohrs Charakter als Residenzstadt verwiesen: „Der gräfliche Hof spielt für das gesamte wirtschaftliche Geschehen die Schlüsselrolle, die Stadt ist aber auch der stärkste Wirtschaftsfaktor für die Grafschaft“ (S. 139). Mit dieser Erkenntnis knüpft der Autor allerdings an die aktuellen Forschungsdiskurse der Hof- und Residenzstadtforschung an, welche die gegenseitigen Abhängigkeiten und Einflussnahmen von Hof und Stadt zunehmend betonen und in den Fokus der Forschungsinteressen rücken: Die Residenzstadt wird nicht mehr als „zweigeteilter Ort“ von Hof einerseits und Stadt andererseits wahrgenommen. Wenn RUF auch keinen expliziten Rekurs auf die neuere Forschungsentwicklung nimmt, so bildet seine Darstellung doch eine einschlägige überzeugende Einzelstudie (vgl. auch S. 153).
In Abschnitt D. befasst sich RUF mit dem vielgestaltigen Kirchenwesen und der städtischen Pfarrei, die er in kurzen Abschnitten z.B. über das kirchliche Personal, den kirchlichen Kultus oder die ansässigen Bruderschaften erörtert.
Abschnitt E. (S. 153-159) fasst unter der Oberkategorie Kultur heterogene stadtpolitische Bereiche zusammen, mit denen der Historiker dem „täglichen Leben“ näher zu kommen sucht (S. 153). Darunter fällt z.B. das Feiern von Festen oder das Bildungs- und Gesundheitswesen. Auch die Rolle des gräflichen Hofes in der kleinen Residenzstadt findet kurz Erwähnung (S. 153). Während der Hof als der „alltägliche ‚kulturelle Überbau‘ auf der ökonomischen Basis der Produktivkräfte, Produktionsweisen und Produktionsverhältnisse“ beschrieben wird, könne man aber ob der Quellenarmut keine Aussage darüber treffen, „ob zwischen Stadtbewohnern und Herrschaft eher eine Kluft oder eher Einvernehmlichkeit“ bestanden habe (S. 153). Wenn auch in einer (Residenz-)Stadtgeschichte, die sich in erster Linie den unterschiedlichen, außerstädtischen Einflüssen verschrieben hat, die Fragen nach den Interdependenzen zwischen höfischer und städtischer Gesellschaft sowie nach der Verklammerung städtischer und adelig-höfischer Lebensformen nicht im Mittelpunkt der Studie stehen, bleibt hier doch zumindest die Rezensentin unzufrieden zurück. Ein großer Verdienst der Arbeit besteht sicherlich in der historischen Einordnung Lohrs in die Geschichte des gesamten Main-Spessart-Gebiets. Dies geht jedoch quantitativ und qualitativ zu Lasten der eigentlichen Stadtgeschichte, die doch nicht von der Geschichte des Grafengeschlechts isoliert betrachtet werden könne, wie der Autor noch zu Anfang deutlich postuliert (S. 7, 19). Aber dies scheint RUF nicht auf die Rolle des Hofes in der Stadt selbst zu beziehen. Letztlich bleibt dies wohl eine Frage des Blickwinkels.
Im Anschluss widmet sich RUF in Abschnitt F. (S. 159-166) der Sozialstruktur der Stadt. Hier zeichnet der Autor die Vermögensverhältnisse aus dem Jahr 1566 nach und beschränkt sich hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung Lohrs auf recht kurze Ausführungen über die Juden und verschiedene Randgruppen. RUF verweist zu Recht auf die schwierige Annäherung an die sozialen Unterschichten bis zum 16. Jahrhundert. Gängige Quellen zur Erfassung von (würdiger) Armut sind Institutionen der Versorgung wie Hospitäler, Waisen- oder Aussätzigenhäuser; diese werden durch RUF aber in seiner darstellenden Systematik dem Kulturbereich zugewiesen. Inhaltlich scheint dies nicht kohärent.
Abschließend präsentiert der Autor in Abschnitt G. (S. 169f.) den Schlusspunkt seiner Darstellung: das Jahr 1559. Am 3. September dieses Jahres starb mit Philipp III. das Rienecker Grafengeschlecht aus.
Die Regestensammlung stellt wie erwähnt neben der systematisch-analytischen Darstellung den zweiten Hauptteil der Monographie dar. Quellen zwischen 1221 (ohne Tag) und dem 1. April 1816 wurden zusammengetragen und nach methodisch schlüssigen und gängigen Editionsprinzipien (S. 169f.) zielbewusst und konsequent aufgenommen. Insgesamt werden auf rund 350 Seiten 764 Quellen erfasst, welche chronologisch angeordnet sind. RUF erleichtert dem Leser die Benutzung dieser Regestensammlung durch einen Orts-, Personen- und Sachindex (S. 570-599). Beleuchtet werden verschiedene Bereiche der Stadtgeschichte während der Herrschaftszeit der Rienecker: So umfasst die Verzeichnung der Kurz- und Langregesten z.B. mit der Lohrer Stadturkunde vom 29. Juli 1333 (No. 32) politische, an anderer Stelle aber auch wirtschaftliche (Bsp. Mühlenordnung: No. 181), rechtliche (Bsp. Leibeigenschaft: No. 585 oder 739) oder andere Belange (Bsp. Franzosenkrankheit: No. 689). Eine besondere Gewissenhaftigkeit bei der Aufnahme der Titel beweist der Autor mit der Aufnahme derjenigen Quellen, die nach dem selbst gesteckten zeitlichen Rahmen (bis 1559) entstanden, aber aufgrund ihres inhaltlich rückverweisenden Charakters besonders relevant sind. RUF gibt mit seinen umfassenden Vorarbeiten, die für den gesamten mainfränkischen Raum signifikant sind, einen wichtigen Anstoß zur Beantwortung weiterer Fragen zur Lohrer Geschichte sowie des gesamten angrenzenden Raums.
In der Gesamtschau hat Theodor RUF mit seiner Monographie einen bedeutsamen und lesenswerten Beitrag zur Regionalgeschichte Unterfrankens und im Speziellen eine spannende Stadtgeschichte für die einstige Residenzstadt der Grafen von Rieneck verfasst. Dieses Werk wird mit seiner Regestensammlung zu weiterer Forschungstätigkeit anregen und dazu beitragen, dass auch kleinere Residenzorte (auch bezüglich der Hof-Stadt-Beziehungen) in den Blick genommen werden.
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