Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge Stadt und Hof Jahrgang 1 (2012)


Das neue Projekt Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800) Urbanität im integrativen und konkurrierenden Beziehungsgefüge von Herrschaft und Gemeinde



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Das neue Projekt
Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)
Urbanität im integrativen und konkurrierenden Beziehungsgefüge von Herrschaft und Gemeinde


Im Zentrum des Vorhabens steht ein Handbuch, das die vielfältige Gemengelage, das integrative Gegen- und Miteinander von Stadt und Herrschaft, von städtischem Bürgertum und höfischer Gesellschaft in der Vormoderne beschreibt. Der Blick richtet sich dabei auf die Residenzstädte, an denen sich aufgrund der besonderen räumlichen, personalen und strukturellen Nähe der Sozialformen Stadt und Herrschaft eben diese Gemengelage in herausgehobener Weise exemplarisch und prägnant analysieren und systematisieren lässt. Thematisiert werden damit gerade nicht die von der Forschung bis heute präferierten Reichsstädte, die – insbesondere im Fall der größeren unter ihnen – eigene rechtliche und politische Handlungsspielräume besaßen, oder die überregionalen Handelszentren wie Nürnberg, Augsburg oder Leipzig, Köln, Lübeck oder Hamburg, in der Regel auch nicht die bevölkerungsreichsten Metropolen der jeweiligen Epoche. Behandelt werden anhand der Residenzstädte und herrschaftlichen Zentralorte ganz überwiegend kleinere urbane Zentren, die demographisch allenfalls mittleres Gewicht hatten und teilweise über ‚Stadtdörfer‘ nicht hinauskamen, für die neben ihrer vorrangigen Funktion in der regionalen oder lokalen Güterverteilung die Teilhabe am überregionalen Handel und Gewerbe die Ausnahme bildete, die bei allen Unterschieden im Einzelnen in die Entwicklung von feudaler Herrschaft und vormoderner Staatlichkeit unmittelbar einbezogen blieben. Gerade diese kleinen Orte aber prägten schon aufgrund ihrer Masse nachhaltig das Bild der Städtelandschaften Zentraleuropas. Mithin richtet sich das Handbuchprojekt auf bislang trotz verstärkter Aktivitäten seit den beginnenden 1990er Jahren noch unzureichend erforschte Erscheinungsformen von Urbanität in der Vormoderne.


Das Handbuch gliedert sich in drei Abteilungen:
Abt. I: Analytisches Verzeichnis der Residenzstädte und herrschaftlichen Zentralorte

Abt. II: Gemeinde, Gruppen und soziale Strukturen in Residenzstädten

Abt. III: Repräsentationen sozialer und politischer Ordnungen in Residenzstädten


Abt. I
Analytisches Verzeichnis der Residenzstädte und herrschaftlichen Zentralorte

Die Funktion der ersten Handbuchabteilung besteht in der vollständigen Erfassung und analytischen Beschreibung sämtlicher Residenzorte des Alten Reiches. Zu berücksichtigen sind neben Städten im Rechtssinn auch andere herrschaftliche Zentralorte ohne Stadtrecht, sofern sie über ein Ensemble von Burg/Schloss und rein dörflichen Strukturen hinausgehen (‚Märkte‘ u.a.), ihre Zentralität also nicht ausschließlich herrschaftlich, sondern wenigstens in einem gewissen Maße auch sozioökonomisch begründet ist und zumindest Ansätze zu einer entsprechenden gemeindlichen Formierung erkennbar werden. Für die Aufnahme eines Ortes genügt dabei die vorübergehende, über einen begrenzten Zeitraum verstetigte Residenzfunktion. Die Anzahl der relevanten Orte lässt sich auf ca. 650 schätzen. Für die Beschreibung wird ein detaillierter Fragenkatalog zusammengestellt, mit dem sich die Prozesse urbaner Vergemeinschaftung unter den Bedingungen residenzstädtischer Strukturen, herrschaftlicher Nähe, der Begegnung städtischer Sozialgruppen mit fürstlichem Hof und adligem Haushalt sowie nicht zuletzt der Entwicklung des vormodernen Staates analysieren lassen. Im Einzelnen betrifft dies




  • die sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Grundstrukturen von Urbanität;

  • die Beziehungen zwischen Stadt und Kirche, die in vielfältiger Weise auf die urbanen Strukturen einwirkten;

  • die Gestaltung und repräsentative Nutzung des Stadtraums;

  • die räumlichen Beziehungen und Vernetzungen von Urbanität;

  • das Verhältnis von Stadt und feudaler Herrschaft, Stadt und vormoderner Staatlichkeit, städtischer und fürstlicher ‚Regierung‘, auch mit Blick auf Adel und Stände, Religion, Konfession.

Zusammen mit dem zeitlichen Zuschnitt und der besonderen Berücksichtigung urbaner Dimensionen zwischen Kleinstädten und ‚Stadtdörfern‘ hebt diese dichte und an den Grundfragen des Projekts orientierte Beschreibung von Residenzstädten und herrschaftlichen Zentralorten als rechtliche,  soziale und ökonomische Einheiten und Interaktionsräume in einer übergeordneten sozial-  und kulturgeschichtlichen Perspektivierung den topographischen Teil des projektierten Handbuchs von anderen Unternehmungen ab.


Aufbau: Die Bände der Handbuchabteilung I folgen einer regionalen Ordnung in Orientierung an den 1500/1512 geschaffenen Reichskreisen:


  • Band I/1: Der Nordosten des Alten Reiches (niedersächsischer und obersächsischer Reichskreis, außerdem Herzogtum Schleswig, Deutschordensherrschaft/Herzogtum/Königreich Preußen, bis zum 16. Jahrhundert einschließlich Livland);

  • Band I/2: Der Nordwesten des Alten Reiches (niederrheinisch-westfälischer, kurrheinischer und burgundischer Reichskreis);

  • Band I/3: Der Südwesten des Alten Reiches (oberrheinischer und schwäbischer Reichskreis);

  • Band I/4: Der Südosten des Alten Reiches (fränkischer, bayerischer und österreichischer Reichskreis, Königreich Böhmen, schlesische Fürstentümer).


Abt. II
Gemeinde, Gruppen und soziale Strukturen in Residenzstädten

Die zweite Abteilung des Handbuchs dient der exemplarischen Vertiefung und vergleichenden Systematisierung aus sozialgeschichtlicher Perspektive. Ziel ist die Analyse der Gemeindeentwicklung in Residenzstädten, sozialgeschichtlich umfassend verstanden im Sinne urbaner Vergemeinschaftungsprozesse, stets auch im Verhältnis zu Herrschaft und Hof. Als Kontext zu beachten sind dabei analoge Prozesse in Orten anderer Prägung (Landstädte ohne Residenzfunktion, Reichsstädte, aber auch nichtstädtische Siedlungen), um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausarbeiten zu können. Inhaltliche Schwerpunkte bilden Stadtwerdungsprozesse, Bevölkerung, Sozialtopographie und innere Urbanisierung, die politische Entwicklung der städtischen Gemeinde und ihrer Vertretung, soziale Gruppen in der Stadt, die Einbindung in zwischenstädtische und territoriale Netzwerke, die Beziehungen zum Stadtherrn, zu dessen lokalen Funktionsträgern und zum Hof. Besonderes Gewicht ist dabei auf die strukturellen und personellen Verflechtungen der beteiligten Akteure zu legen. Umfangreiche Prosopographien können im Rahmen des Handbuchs zwar nicht vorgelegt werden, aber das Verhältnis städtischer und herrschaftlicher Strukturen ist im methodischen Anschluss an die Soziabilitätsanalyse als Geflecht sozialer Interaktionen qualitativ, vergleichend und systematisch zu analysieren.


Aufbau: Die Handbuchabteilung II gliedert sich in vier Bände – zwei regional geordnete Bände mit exemplarischen Analysen zu einzelnen Residenzstädten, zwei systematisch gegliederte Bände (zum einen aus struktureller, zum anderen aus personeller Perspektive):


  • Band II/1: Exemplarische Analysen – Residenzstädte im Norden des Alten Reiches;

  • Band II/2: Exemplarische Analysen – Residenzstädte im Süden des Alten Reiches;

  • Band II/3: Vergemeinschaftungsprozesse in Residenzstädten;

  • Band II/4: Eliten zwischen Stadt und Hof.


Bände II/1 und II/2 (exemplarischer Teil): Die Bände II/1 und II/2 liefern exemplarische Analysen zu jeweils fünfzehn Orten, deren Auswahl sich in Koordination mit Handbuchabteilung III nach typologischen Kriterien richtet und den Forschungsstand wie die geographische Streuung berücksichtigt. Auswahlkriterien sind Größe, Stadtherr (fürstlich, bischöflich usw.), chronologische Einordnung der Stadtwerdung (hoch-/spätmittelalterlich, frühneuzeitlich), Residenztypus (z.B. Haupt-/Nebenresidenz), besondere Interaktionsformen (z.B. Konflikte zwischen Stadtherr und Gemeinde, Wechsel der herrschaftlichen oder dynastischen Zugehörigkeit, Abbruch der Residenzfunktion), landständische Einbindung, wirtschaftliche Struktur, kirchliche Institutionen und geistliche Gemeinschaften, Auswirkungen von Reformation und Konfessionalisierung. Besonderes Augenmerk gilt dabei entsprechend der Gesamtkonzeption des Projekts kleineren Städten.
Bände II/3 und II/4 (systematischer Teil):  Liefern die beiden ersten Bände der Handbuchabteilung II auf diese Weise exemplarische Längsschnitte, bieten die Bände II/3 und II/4 die notwendige systematische Zusammenfassung unter übergreifenden Gesichtspunkten. Im Mittelpunkt stehen der Vergleich zwischen Städten und Städtegruppen auf synchroner und diachroner, regionaler und regionenübergreifender Ebene, die Rolle und die Perspektive von Städten im Rahmen der herrschaftlichen Verdichtungsprozesse, der Territorialisierung und der Entwicklung vormoderner Staatlichkeit und die Einordnung der Ergebnisse in den europäischen Kontext. In der Zusammenschau wird so eine Sozialgeschichte der Residenzstädte des Alten Reiches, eine Geschichte der Beziehungen zwischen städtischen und herrschaftlich-höfisch-staatlichen Strukturen der Vormoderne geschrieben. Am Ende werden eine vertiefte, multiperspektivische und chronologisch differenzierte Definition der stadtgeschichtlichen Kategorie ‚Residenzstadt‘ in ihrer inneren und äußeren Formierung stehen sowie eine weiter aufgefächerte Typologie der damit verbundenen urbanen Phänomene.



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