Die Kongregation der Schwestern


Die Gründung einer Bruderkongregation und ihr Ende



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Die Gründung einer Bruderkongregation und ihr Ende.

Der Ankauf von Oberbronn.

Von Anfang an hatten die Stifter ihr Werk nur im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung gegründet. Wir sahen, wie dieses Vertrauen nicht getäuscht wurde. Die Schwestern betrachteten den hl. Joseph, der ihre besondere Verehrung genoß, gewissermaßen auch als ihren Nährvater, so wie ihn der demütige Glaube Reichards bei Ausführung der großen Klosterbauten als seinen Baumeister betrachtet hatte. Bis zum Jahre 1853 hatten diese Bauten einen Aufwand von fast 130000 Franken erfordert. Dazu kam der Unterhalt der immer zahlreicher werdenden Klosterfamilie, Ausgaben für Kleidung und Reisekosten der auf ihre Mission ziehenden Schwestern, ganz abgesehen von den Unkosten, welche die vom Mutterhaus unterstützten zahlreichen Armen und Kindern verursachten. Sichere Einnahmequellen existierten nicht. In der Hauptsache war man angewiesen auf die sogenannte Mitgift, welche die eintretenden Postulantinnen mitbrachten; aber die größere Anzahl kam mit leeren Händen, und die für die Vermögenderen festgesetzte Summe überstieg 800 Franken nicht. Bevor das Werk in seinen auswärtigen Niederlassungen nicht fest organisiert war, konnten auch die in der Ferne weilenden Schwestern, sofern sie für ihre Dienste in manchen städtischen Anstalten entlohnt oder für ihre Hauskrankenpflege reichlicher beschenkt wurden, das Mutterhaus nicht unterstützen. Die Kongregationsleitung hatte anfänglich durch den Erwerb kostspieliger Häuser in Andlau und Hagenau beträchtliche Summen ausgegeben, statt daß man, wie es von nun an die Regel wurde, die Gemeinde oder wohltätige Vereine für eine Wohnung der Schwestern sorgen ließ, wenn nicht jemand ausdrücklich ein Kapital zum Bau einer Wohnung gestiftet hatte. So taten mitunter an Reichard und die ehrw. Mutter doch sorgenvolle Stunden heran, in denen man mit einigem Bangen in die Zukunft blicken mußte. Seitdem die Anzahl der Niederlassungen sich vermehrte, für welche das Mutterhaus selbst oft schwere Opfer bringen mußte, schloß die Jahresbilanz mit einem beträchtlichen Fehlbetrag ab, der im Jahre 1858 beispielsweise sich auf fast 10000 Franken belief. In einem Augenblick großer Bedrängnis hatte Bischof Räß ein Darlehen von 20000 Franken gewährt - ein Gläubiger, von dem man wenig zu befürchten hatte.

Angesichts dieser unsicheren Lage kamen die Obern auf den Gedanken, den Feldbau in größerem Stile zu betreiben, um so das Mutterhaus mit seinen vielen Insassen leichter und billiger mit den wichtigsten Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Pachtzinsen der Feldgüter um Niederbronn herum waren nicht hoch. Freilich konnte man den Schwestern die Bewirtschaftung größerer Grundstücke nicht zumuten, und an bezahlte männliche Arbeitskräfte war wegen der nicht rosigen Finanzlage gar nicht zu denken; solche hätten auch von vornherein die Ertragsfähigkeit des geplanten Unternehmens ausgeschlossen.

Der Superior wußte Rat; man gründete eine kleine Genossenschaft von Laienbrüdern.

Zweck und Einrichtung dieser Bruderkongregation war in ihren Statuten folgendermaßen umschrieben: Die Brüder treiben Ackerbau, um die Produkte ihrer Arbeit zum eigenen Unterhalt und dem der Schwesternkongregation zu verwenden. Sie hängen auch ganz von dieser ab. Ersparnisse dürfen nur für karitative Zwecke angewendet werden, nicht zum Ankauf von Ländereien. Die Kongregation steht unter dem Schutz des hl. Joseph. Aufnahme finden nur Zölibatäre oder Witwer. Sie wird geleitet durch einen vom Bischof zu ernennenden Geistlichen und einen Direktor für die materiellen Angelegenheiten. Die Zentralverwaltung hängt von der Generaloberin ab, der Superior der Schwesternkongregation hat auch die geistliche Oberleitung. Der Beichtvater ist zugleich Novizenmeister. Das Noviziat dauert ein Jahr; dann erhalten die Brüder das vorgeschriebene Kleid und legen nach unbestimmter Zeit mit Genehmigung des Bischofs die drei Gelübde auf fünf Jahre ab. Beim Austritt aus der Kongregation werden die geleisteten Arbeiten nicht vergütet. Die Brüder bebauen ihre und des Schwesternklosters Güter, sie sorgen für die Herbeischaffung des Winterbrennholzes und der nötigen Vorräte, überwachen und leiten die Bauarbeiten und Reparaturen. Sie haben ihren Obern Gehorsam zu leisten, sich in den Tugenden der Einfachheit, Demut, gegenseitigen Liebe, Geduld und Sanftmut zu üben. Da sie das Gelübde der Armut abgelegt haben, dürfen sie ohne Ermächtigung nichts besitzen.

Der Name Niederbronn übte Zugkraft aus, so daß eine hinreichende Zahl Kandidaten dem Aufruf Folge leisteten; sie kamen fast alle aus Deutschland herbei; Bayern und Baden lieferten die meisten. Reichard hatte am östlichen Ende von Niederbronn einen Bauernhof mit angrenzenden Grundstücken erworben, der durch Umbau zur Aufnahme der Brüder und ihres geistlichen Leiters hergerichtet wurde. Ende 1854 konnte er schon bezogen werden. Eine kleine angebaute Kapelle wurde am 21. Juni 1855 durch den Domkapitular Doffner, den außerordentlichen Beichtvater der Schwesternkongregation, eingeweiht. Der erste geistliche Vorsteher der Brüdergemeinschaft war Felix Andreck, der sie nach zwei Jahren wieder verließ 49).

Neben dem Bruderkloster, auf der sanft aufsteigenden Berghalde, war seit Juni 1853 ein besonderer Friedhof für die Schwestern angelegt worden. Als erste stille Bewohnerin trug man am 18. Juni dieses Jahres die Schwester M. Paul hinauf, die noch auf dem Sterbebette Profeß gemacht hatte. Die feierliche Einweih­ung des Friedhofes und des großen Kruzifixes fand am 15. Oktober 1855 im Beisein aller Schwestern des Mutterhauses und der Katholiken der Pfarrei statt; bei dieser Gelegenheit hielt der Jesuitenpater Schlosser eine vielbemerkte Predigt.

Auch das Bruderkloster erhielt schon bald zwei Filialen: die Gutshöfe Quelingen, im lothringischen Kreise Diedenhofen gelegen, und Singlingen im Kreise Saargemünd. Das Mutterhaus war in den Besitz dieser Güter gelangt durch zwei Schwestern, die Töchter des Friedensrichters Nicolas zu Pont-à-Mousson, die zu Niederbronn eingetreten waren 50). Auf beide Höfe wurden Brüder gesandt, um sie rationell zu bewirtschaften. Da aber Quelingen, dessen Bodenfläche 51 ha umfasste, zu weit entfernt war, so verkaufte die ehrw. Mutter das Gut für 40000 Franken und erwarb für den Erlös ein anderes großes Gut, das 45 ha umfasste, in unmittelbarer Nähe von Singlingen. Hier wurden nun große Umbauten vorgenommen, auch eine neue Kapelle wurde errichtet. Man scheute die großen Unkosten - ca. 100000 Franken - nicht, weil man sich von diesem stattlichen, jetzt schön abgerundeten Gute beträchtliche Einnahmen versprach. Aber diese Erwartungen sollten sich nicht erfüllen.

Singlingen ist stets das Sorgenkind des Mutterhauses geblieben. Man mußte schon einen eigenen Geistlichen dort unterhalten 51). Dazu lud sich das Anwesen im Jahre 1861 eine neue Last auf, indem die Kongregationsobern beschlossen, ein Waisenhaus auf dem Gute einzurichten, um der Genossenschaft mehr Sympathien in Lothringen zu gewinnen. Man hatte von Anfang an in den maßgebenden kirchlichen Kreisen der Diözese Metz das Unternehmen in Singlingen nicht sehr freundlich begrüßt. Der Präfekt 52) des Moseldepartements gestattete die Errichtung des Waisenhauses, für das man zunächst Kinder aus der Waisenanstalt St. Nikolaus zu Metz annahm. Im Jahre 1864 siedelten auch die Waisenkinder aus dem aufgelösten Waisenhause Neunhofen, das in der Nähe von Niederbronn vom Mutterhause unterhalten worden war, nach Singlingen über. Eine Zeitlang schien es, als wollte die Kolonie in Singlingen wohl gedeihen. Die ehrw. Mutter zog sich, um sich von Überarbeitung und Krankheitsfällen zu erholen, gerne in die Abgeschiedenheit von Singlingen zurück und sah nach dem Rechten. Noch kurz vor ihrem Tode hatte sie hier drei Wochen zugebracht. Nach ihrem Abscheiden verlegte ihre Nachfolgerin das Bruderkloster in Niederbronn, das bisher als Mutterhaus der Brüdergenossenschaft gegolten hatte, ganz nach Singlingen, um nicht eine doppelte geistliche Leitung zu benötigen. In dem Niederbronner Bruderhof brachte man eine Waisenanstalt unter, welche die Stelle des aufgehobenen Hauses in Neunhofen vertrat. Dazu kam, daß sich die Zahl der Brüder merklich verringerte; neue Anmeldungen erfolgten nicht. Der Personalbestand der Brüdergenossenschaft genügte allmählich nicht mehr den Anforderungen, welche die Gutsbewirtschaftung stellte, und der Betrieb durch Zuhilfenahme bezahlter Taglöhner stellte die Rentabilität des Gutes in Frage, ebenso die weite Entfernung vom Mutterhause.

Der spätere Superior Sattler, in dessen Augen die ganze Brüderkongregation keine Gnade fand, weil er sie mit Recht als den kirchenrechtlichen Bestimmungen zuwiderlaufend ansah, wandte sich bei seinem Aufenthalt in Rom mit einer Anfrage an die Kongregation der Bischöfe und Regularen, ob eine solche Gründung den kirchlichen Gesetzen nicht zuwiderlaufe, worauf man ihm bedeutete, daß dieses Institut durchaus irregulär sei. Damit war das Schicksal Singlingens schon entschieden. Bischof Räß löste die Brüderkongregation auf und gestattete, das Singlinger Gut zu verkaufen. Im April 1870 verließen die Brüder Singlingen und zerstreuten sich in alle Welt, einige gingen nach Algerien unter die Fahne des Bischofs Lavigerie 53). Die Schließung des Waisenhauses erfolgte am 1. Juni, und am 26. dieses Monats kehrten auch die Schwestern, die den Haushalt besorgt hatten, ins Mutterhaus zurück. Es war ein Glück, daß sich ein Käufer gefunden hatte, der um eine annehmbare Summe das ganze Anwesen erwarb 54). Kaum einen Monat später brach der deutsch-französische Krieg aus, und die Kaufsumme mußte, wenngleich sie mit den großen Opfern, die man für das Gut gebracht hatte, nicht im Einklang stand, für die nun folgende schwere Zeit als ein Geschenk des Himmels erscheinen.

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Von ganz anderer Bedeutung aber sollte sich der Erwerb eines anderen Gutes für die zukünftige Entwicklung der Kongregation erweisen: der Ankauf des Schloßgutes von Oberbronn, in nächster Nähe des Mutterhauses. Das erfreuliche Wachstum der Genossenschaft, zu der aus Frankreich, Deutschland und Österreich der Zuzug immer reger wurde, seitdem die Gründung von Niederlassungen die Straßburger Bistumsgrenze weit überschritten hatte, ließ die Obern erkennen, daß auf die Dauer die Gebäulichkeiten in Niederbronn nicht ausreichten. Superior Reichard, der im März 1856 endgültig seine Pfarrstelle aufgab, um sich ganz dem Werke der Genossenschaft zu widmen 55), mußte beizeiten Vorsorge treffen, um das wachsende Personal unterzubringen. Die bereits errichteten Klosterbauten zu vergrößern ging nicht gut an, weil man in der Umgebung keinen Baugrund mehr erwerben konnte.



Da bot sich eine unerwartet günstige Gelegenheit. Die Inhaber des am Eingang des Dorfes Oberbronn gelegenen Schlosses Oberbronn 56), die Familie des Grafen Karl August von Strahlenheim, wollte es mit allen Liegenschaften veräußern. Die malerische und gesunde Lage ließen das Anwesen als besonders geeignet für die Anlage eines Noviziates erscheinen. Trotz der wenig günstigen finanziellen Verhältnisse zögerte man im Mutterhause nicht, die gute Gelegenheit zu benutzen, und am 17. Dezember 1857 wurde der vorläufige Kaufakt mit den Erben Strahlenheim abgeschlossen. Bei der niedrigen Kaufsumme von 60000 Franken war das Geschäft für die Kongregation äußerst vorteilhaft. Durch kaiserliches Dekret vom 7. Juli 1859 wurde der Erwerb gesetzlich anerkannt 57).

Schon im Sommer 1858 verlegte man das Noviziat nach dem neuen Besitz, der allerdings nur mit ziemlichem Kostenaufwand diesem Zweck dienstbar gemacht werden konnte. Die hölzerne Umzäunung des Parkes und des Gartens wurde durch eine Mauer ersetzt. Der rechte Flügel des oberen Gebäudes, in welchem die Pferdestallungen untergebracht waren, wurde in eine Notkapelle umgewandelt. Darüber legte man die Räume für das Noviziat an. Zum Beichtvater und Hausgeistlichen wurde der Abbé Birgentzle ernannt; die Heranbildung der Novizen oblag auch hier der bestbewährten Novizenmeisterin Schwester M. Joseph. Bis 1870 blieb das Noviziat in Oberbronn, wo es wieder mit dem Mutterhaus in Niederbronn vereinigt wurde. 1880 endlich ist Oberbronn selbst das Mutterhaus, die neue Wiege der Genossenschaft geworden. In den darauf folgenden Jahren hat es allmählich das Aussehen genommen, das heute den Besucher erfreut.

Man kann sich für eine große klösterliche Niederlassung, in der junge Menschen­kinder sich ausbilden sollen für den erhabenen Beruf der im Dienste der Armen und Kranken sich aufopfernden Klosterfrau, nicht leicht einen passenderen Ort denken. Die brandenden Wogen des unruhigen Weltgetriebes machen Halt vor dieser gesegneten Bergeinsamkeit. Schützend und hegend steigt hinter den Klosterbauten eine waldige, steile Bergwand auf. Wohlgepflegte Weingärten schmiegen sich an den Waldrand, und lichte Haine von mächtigen Edelkastanien verleihen dem Landschaftsbild fast etwas Südländisches. Wenn der Frühling ins Land kommt und die zahllosen Obstbäume auf dem fruchtbaren Hügelgelände ringsum mit weißen und rosaroten Blütenschleiern behängt und der lenzblaue Himmel die grünen Matten und sprossenden Saatfelder anlacht, möchte man sich in ein kleines Stück Paradies versetzt glauben. Dann flöten im prächtigen Klosterpark in dem Buschwerk, das die Lourdesgrotte umgrünt, die Amseln; um die blütenweißen Spalierpyramiden des sanft aufsteigenden, sonnigen Gartens summen die Bienen, und die wärmende Sonne saugt sich gierig ein in die weit geöffneten Fenster des luftigen Krankenhauses, dankbar begrüßt von den Siechen und Müden, die als frühe Opfer ihres harten Berufes in den weißen Kissen gebettet meist mit allen Hoffnungen des Diesseits abgeschlossen haben und still und gottergeben dem Lohne ihres Opferlebens entgegenharren.

Steigt man hinter dem Klostergarten den steinigen Bergpfad hinauf und blickt in halber Bergeshöhe, etwa von den Zinnen des Bückelsteinfelsens, ins lachende Land hinaus, so staunt man über so viel prunkende Naturschönheit. Wie Schwalbennester kleben die Häuser des lang gestreckten Dorfes Oberbronn am Bergabhang des Wasenköpfels; manches Dach liegt fast ganz versteckt im Blütenmeer der Kirsch- und Birnbäume. So weit das Auge reicht, sieht man bis an den verschwimmenden Horizont auf den Wiesen und braunroten Äckern des sanftgewellten Landes die Riesensträuße blühender Obstbäume. Die roten Dächer und malerischen Kirchtürme freund­licher Dörfer grüßen von allen Seiten herauf. Das Auge haftet zuerst auf dem ganz unten in der Talsohle versteckten Städtchen Niederbronn, dessen saubere Häuser sich um die berühmte Heilquelle scharen, die seit der Römer Zeiten von nah und fern Leidende und Erholungsbedürftige herbeilockte 58). Ein halbes Stündchen davon entfernt ragt der stattliche Kirchturm des Fleckens Reichshofen empor, der sich auf der breiter gewordenen Talebene ausdehnt. Wir sehen eine breite, weiße Fahrstraße diesen Ort verlassen und einen sanft aufsteigenden, waldbewachsenen Hügel sich hinaufschlängeln, der von einer stattlichen, schlanken Kirchturmspitze überragt wird. Dort liegt Fröschweiler und, unserem Auge unsichtbar, zu Füßen des im Nordosten die Aussicht begrenzenden Liebfrauenberges das Städtchen Wörth. Auf diesen Gefilden spielte sich am 6. August 1870 das blutige Drama der großen Schlacht ab. Überhaupt steht man hier auf altehrwürdigem, durch geschichtliche Erinnerungen geheiligtem Boden. Auf dem Ausläufer, den der stattliche Wintersberg jenseits des Tales vorschickt, hatten die Kelten schon ein festes Lager angelegt, und ihm gegenüber, auf dem Berg, an den sich die malerische Wasenburg anschmiegt, schützten die erobernden Römer durch feste Verschanzungen die wichtige Heerstraße, die ins Lothringerland führt und heute noch durch die Festung Bitsch gedeckt wird.

Aber auch an religiösen Erinnerungen fehlt es nicht. Im ausgedehnten Flachwalde, der sich nach Sonnenaufgang zu um die Türme der in der Ferne sichtbaren Stadt Hagenau lagert, dem heiligen Forste des Mittelalters, lagen einstmals stattliche Klöster versteckt; die fromme Legende läßt den heiligen Bischof Arbogast, den Patron der altehrwürdigen Straßburger Diözese, im Schatten seiner mächtigen Eichen ein weltabgeschiedenes Klausnerleben führen. Vom Liebfrauenberg bei Wörth drüben grüßen die verlassenen Mauern des ehedem viel besuchten und im Orte Görsdorf zu neuem Leben erwachten Wallfahrtsortes Maria-Eich herüber, und wenn die Luft besonders klar ist, erblickt das Auge weit droben im Süden in der blauen Vogesenkette den auffallenden Bergkegel, auf dessen stumpfer Spitze die liebenswürdige Gestalt der elsässischen Vorzeit, die hl. Odilia, ihr berühmtes Kloster gründete. Unter ihren, der Patronin des christkatholischen Elsasses Schutz hat darum auch die Kongregationsleitung das neue, große Krankenhaus zu Straßburg-Neudorf gestellt.

Sechstes Kapitel.



Die rasche Verbreitung der Schwestern in fremden Diözesen.

Lob durch die Bischöfe. Das päpstliche Belobigungsdekret von 1863

und die päpstliche Approbation von 1866.

Rascher als man je erwarten konnte, allen Gegnern zum Trotz, denen das Aufblühen des Niederbronner Werkes ein Dorn im Auge war, verbreiteten sich die Schwestern.

Die staatliche Approbation hatte der Genossenschaft die feste Grundlage gegeben, auf der sie zunächst im eigenen Lande weitergedeihen konnte. Die aufopferungsvolle Tätigkeit der Schwestern in den Cholerajahren 1854 und 1855 hatte ihnen in den entferntesten Gegenden, wohin die Tagespresse ihr Lob trug, Liebe und Bewunderung eingetragen. Nachdem die Genossenschaft zunächst in der Heimatdiözese festen Fuß gefasst hatte 59), konnte sie daran denken, in anderen Sprengeln Niederlassungen zu gründen. Hatte die Stifterin in wohlberechnender Klugheit anfangs Bedenken getragen, ihre Töchter zu weit fortzuschicken, so entwickelte sie in den späteren Jahren, als sie mit freudigem Dank gegen Gott das Blühen und Gedeihen ihres Werkes verfolgen konnte, eine fast fieberhafte Tätigkeit für dessen Verbreitung, die den bedächtigen Superior nicht ohne Grund zuweilen mit einiger Besorgnis erfüllte. Aber sie wußte solche Anwandlungen mit wirksamen Gründen zu verscheuchen. Als eines Tages eine Postulantin - die spätere Schwester Lukretia - im Refektorium während der Mahlzeit aus dem Buche der Heiligen vorlas, kam die ehrwürdige Mutter in dem Augenblick herein, als die Stelle gelesen wurde: "So sollte sein Name (d. i. Gottes) auf der ganzen Welt verbreitet werden." Da unterbrach sie die Vorleserin, nahm ihr das Buch aus der Hand und verließ den Saal. Lächelnd kam sie wieder zurück und sagte: "Ich war beim ehrwürdigen Vater, habe ihm diese Stelle vorgelesen, weil er immer sagt: 'Aber, ehrwürdige Mutter, schon wieder ein Haus?' und sagte ihm: Ehrwürdiger Vater, will der liebe Gott, daß dieses sein Werk verbreitet werde, so hören Sie auf das, was ich meine." 60) Solchen Vorstellungen setzte der Superior, der der Stifterin fast blindlings vertraute, keine Weigerung entgegen.

In der Nachbardiözese Metz war schon im Jahre 1851 zu Saaralben ein Haus gegründet worden. Im folgenden Jahre kam die Diözese Speyer dran, deren Oberhirte Bischof Weis ein vertrauter Freund von Räß war, zunächst eine Station in Speyer, der bald weitere folgten in Landstuhl (1854), Herxheim und Rülzheim (1855). In der Erzdiözese Besançon machte Ornans im Jahre 1853 den Anfang, worauf Marnay (1862) sich anschloß. Im Bistum Nancy leitete die Gründung des Hauses von Pont-á-Mousson im Jahre 1853 die Errichtung weiterer Stationen zu Lunéville (1855) und Toul (1856) ein. In der Diözese St. Dié erstand Epinal (1855), später Tendon (1856), St. Dié (1864), Gererdmer (1867). Langres erhielt 1857 die erste Niederlassung, Châlons zwei Jahre später.

Aber auch über das katholische Deutschland ergoß sich vom Mutterhaus in wenigen Jahren eine ganze Fülle von Filialen. Kaum konnten die Obern den vielen Anfragen genügen, die fort und fort von jenseits des Rheins nach Niederbronn gelangten. Überall wollte man die Töchter des göttlichen Erlösers haben. Und so gingen zahlreiche Schwestern, die einst die deutsche Heimat verlassen hatten, um in Niederbronn ihr Leben Gott und dem Dienste des Nächsten zu weihen, freudigen Herzens in die väterlichen Gaue zurück, wo man sie mit Sehnsucht und Liebe aufnahm. Das Bistum Würzburg wurde am reichsten bedacht; in rascher Folge entstanden die Töchterhäuser zu Kissingen (1855), Werneck (1856), Würzburg (1857), Dettelbach (1858), Kitzingen, Karlstadt, Heidingsfeld, Arnstein, Aschaffenburg (alle 1860), Lohr (1861), Haßfurt (1863), Ochsenfurt und Miltenberg (1865). Leider sollte dieser blühende Zweig bald vom Baume getrennt werden. Das ferne Wien empfing 1857 die ersten Schwestern, ja im ungarischen Lande, zu Ödenburg in der Diözese Raab, entstand im Jahre 1863 eine Filiale, die freilich auch bald mit der Wiener Niederlassung die Verbindung mit dem Mutterhause lösen sollte. Seit 1857 hatte die Münchner Erzdiözese den Niederbronner Schwestern die Tore geöffnet. In der Stadt München selbst entstanden nacheinander drei Stationen, deren eine, das Haus in der Buttermelcherstraße, nach langjährigen Wirrsalen einen großartigen Aufschwung erlebte; dann kam Haidhausen (1858), Fürstenfeldbruck (1859), Laufen (1861), Tittmoning (1865), Tegernsee (1867). Im Bistum Eichstätt wurden Hilpoltstein (1858), und Kipfenberg (1867) gegründet; zukunftsreiche Missionen faßten im Erzbistum Freiburg Wurzel: Karlsruhe (1857), Heidelberg und Rastatt (1859), Bruchsal und Mannheim (1859), während im Mainzer Sprengel das Haus in Darmstadt (1859) den Reigen eröffnete für eine Reihe von Filialen, die noch alle der Energie der Stifterin ihren Ursprung verdanken, so Heppenheim (1861), Bensheim, Dieburg, Seligenstadt (1867).

Keiner blickte mit größerer Genugtuung auf dieses Werk wunderbaren Wachsens und Gedeihens als der Straßburger Bischof. Unter seiner schirmenden Hand war das von Gott so reich gesegnete, von den Menschen gepriesene, aber auch angefeindete Werk zu einer Achtung gebietenden Organisation herangewachsen, deren Segen sich über verschiedene Länder verbreitete. Nun fehlte, um die kirchenrechtliche Stellung der Genossenschaft zu begründen, noch die öffentliche Anerkennung durch die oberste kirchliche Behörde, den Heiligen Stuhl. Räß wartete den Erfolg ab, ehe er die kanonische Bestätigung einholte. Er hatte daher in Rom keinerlei Mitteilung gemacht über die Tätigkeit der Schwesterngenossenschaft während der ersten acht Jahre ihres Bestehens. Von anderer Seite aber hatte die Kongregation der Bischöfe und Regularen doch Nachrichten über ihr Dasein erhalten; denn am 16. Januar 1858 fragte der Präfekt dieser Kongregation bei Räß an, ob die unter dem Namen der "Schwestern des göttlichen Erlösers" in seiner Diözese wirkende geistliche Genossenschaft schon vom zuständigen Bischof oder von Rom approbiert sei, welchen Zweck sie verfolge und ob sie nicht mit den unter der Regel des hl. Alphons lebenden Schwestern ähnlichen Namens verwechselt werden könnte. Räß antwortete am 2. Februar und erstattete genauen Bericht über die Niederbronner Kongregation, die Art ihres Wirkens, ihre besondere Kleidung, die sie von anderen Kongregationen unterscheidet. Bis jetzt sei sie nur vom Diözesanbischof und indirekt von andern Bischöfen, in deren Sprengeln sie wirke, approbiert worden. Er hätte um die Approbation von Rom noch nicht nachgesucht, da er warten wollte, bis sich die neue Familie gefestigt, verbreitet und bewährt habe. Gleichzeitig drückt Bischof Räß den Wunsch aus, die Approbation des Heiligen Stuhles für die Genossenschaft zu erhalten.

Zu diesem Zwecke richtete er am 12. Dezember 1858 an sämtliche Oberhirten, in deren Diözesen bereits Niederbronner Schwestern tätig waren, die Bitte, sie möchten ihm Zeugnisse über das Wirken und die Führung seiner Schwestern ausstellen, damit er sie dem Heiligen Stuhl unterbreiten könne. Alle angegangenen Prälaten willfahrten sofort diesem Wunsche. Ihre Zeugnisse sind wirkliche Ruhmesblätter im Geschichtsbuche der Kongregation. Der Geschichtsschreiber muß sie sorgfältig buchen. Der Kardinal und Erzbischof von Besançon bezeugt (18. Dezember 1858), daß die frommen Töchter mit Eifer alle christlichen Liebeswerke an Kindern, Kranken und Armen ausüben. Durch ihr strenges, tugendhaftes Leben gereichen sie überall zur Erbauung. Der Bischof von Nancy rühmt ihnen nach, daß sie stets bereit sind, für die leidenden Mitbrüder ihr Leben einzusetzen; alle Werke der Nächstenliebe vollführen sie mit einem über alles Lob erhabenen Eifer und geben das Beispiel jeglicher Tugend 61). Aus seiner Bischofsstadt Langres meldet der Oberhirte, daß die Schwestern jede Art von leiblicher und geistiger Fürsorge den Armen und Leidenden angedeihen lassen und die Verehrung und Sympathie der Gläubigen durch ihr einfaches, unbescholtenes, demütiges und aufopferungsvolles Leben in höchstem Maße erworben haben 62). Der Bischof von St. Dié wünscht sehnlichst, daß die Zahl der Schwestern unter seiner Herde sich vermehren möge, so groß ist ihr Opfergeist und die Liebe zu den Armen und Kranken 63). Auch der Bischof von Metz ist voll des Lobes 64).

Die deutschen Prälaten sind nicht weniger freigebig mit anerkennenden Urteilen über das soziale und karitative Wirken der Schwestern in ihren Diözesen. Kardinal Rauscher, der Erzbischof von Wien, lobt ihr erfolgreiches Wirken in der Krankenpflege und in der Erziehung von Mädchen, ihr frommes, demütiges und abgetötetes Leben. Er drückt - das sei besonders hervorgehoben - den Wunsch aus, daß die Genossenschaft, um nicht mit den Redemptoristenschwestern verwechselt zu werden, etwa den Namen "Schwestern vom Allerheiligsten Heilande" annehmen könnte 65).

Demnach geht diese Bezeichnung, die seit 1863 eingeführt wurde, auf die Anregung des Kardinals von Wien zurück. Der Münchner Erzbischof Gregorius Scherr bezeugt66), daß die Schwestern Tag und Nacht den Werken der Religion, Frömmigkeit und Barmherzigkeit obliegen und das Lob und die Anerkennung von jedermann errungen haben. In Würzburg hebt der Generalvikar Dr. Reißmann 67) neben dem vorbildlichen Tugendleben den Opfermut der Krankenschwestern hervor, der bei Katholiken und Protestanten ungeteilte Anerkennung finde. Dies habe sich neulich bei dem Begräbnis zweier kurz nacheinander verstorbenen Schwestern gezeigt, die sich im Krankendienst aufgerieben hatten. Aus allen Bevölkerungsschichten sei eine unzählige Menge den Leichen gefolgt. Der allgemeine Wunsch der Bevölkerung gehe dahin, daß die Schwestern sich in ihrer Aufopferung mäßigten. Bischof Nikolaus Weis von Speyer bekundet, daß die Ordensfrauen überall das beste Beispiel geben und durch ihr barmherziges Wirken sowohl der katholischen Kirche zur Zierde als auch dem Staate zum größten Nutzen gereichen 68). Der Erzbischof von Freiburg, Hermann v. Vicari, begleitete die Zeugnisse, die er an Räß übersandte, mit den Worten: "Zu meiner größten Freude haben alle die Priester, welche mit der geistlichen Leitung dieser ehrwürdigen Schwestern betraut sind, ein wahrhaft glänzendes Zeugnis über sie abgegeben." 69)

Alle diese Kundgebungen der kirchlichen Autoritäten zeigen hinlänglich, wie rasch sich das Werk der einstigen Niederbronner Bauerntochter die allgemeine Anerkennung erworben hatte. Der aus dem kleinen Senfkorn entsprossene Baum überschattete mit seinem Blätterdache schon weite Striche, und zahlreiche Menschen freuten sich des Segens, den er spendete.

Auf die ehrenvollen Zeugnisse seiner bischöflichen Amtsbrüder gestützt, wandte sich Andreas Räß in einem feierlichen Schreiben unterm 29. November 1859 an den Heiligen Vater. Er berichtet darin zunächst in kurzen Worten von der Gründung und dem Zweck der Kongregation von Niederbronn, die von Anfang an sich von jeder Genossenschaft unterschieden habe. Anfänglich war es ein bloß für die Straßburger Diözese bestimmtes Institut zur Pflege der Kranken, Armen und Waisen, aber längst hätte es diese Grenzen überschritten und in anderen Sprengeln Zweigniederlassungen gegründet. Bis jetzt stand die Genossenschaft unter seiner, des Diözesanbischofs, Autorität, dessen süßer Trost es war, den aus bescheidenem Samenkorn geweckten Baum fleißig zu hegen und zu pflegen. Jetzt, nachdem dieser schon reichliche Früchte getragen, nachdem die frommen Jungfrauen sich um die ganze Kirche schon so hochverdient gemacht, nachdem sie namentlich in der schrecklichen Cholerazeit heroische Beweise ihrer Nächstenliebe gegeben haben, möge der Heilige Vater selbst die neue Kongregation in seinen Schutz nehmen, ihr die Rechte und Freiheiten der kanonischen Bestätigung erteilen und ihre Konstitutionen genehmigen, Die zahlreichen beigelegten Zeugnisse der Bischöfe mögen seine Bitten unterstützen.

In Rom übereilt man sich nicht. Die Behörden arbeiten mit kluger Bedachtsamkeit. So dauerte es noch mehrere Jahre, bis die päpstliche Bestätigung erfolgte. Vorerst erhielt die Kongregation das übliche Belobigungsdekret, ausgestellt am 7. März 1863, wodurch der Heilige Vater das Institut höchlichst belobt und empfiehlt. Diesem Dekret waren noch eine Reihe wichtiger "Bemerkungen" beigegeben, welche folgende Punkte betreffen: 1. Der Name der Kongregation muß geändert werden; sie nennt sich von jetzt ab Genossenschaft der Schwestern vom Allerheiligsten Heiland. 2. Es müssen Konstitutionen abgefaßt werden, welche einheitlich, klar und vollständig sind. (Es scheint, daß die von Räß vorgelegten, im Jahre 1855 gedruckten Statuten den römischen Juristen nicht zusagten.) 3. In den Konstitutionen darf nichts erwähnt werden von Knaben und Greisen. 4. Die schwierigen Fälle, in denen die Zustimmung des Rates der Genossenschaft erforderlich ist, müssen festgelegt werden: Einkleidung, Profeß, Verkäufe, Aufnahme von Kapitalien, Verträge. 5. Über die Stellung des Diözesanbischofs zur Genossenschaft wird bestimmt: Da es sich um ein über viele Bistümer verbreitetes Institut handelt, sei es feste Gepflogenheit des Heiligen Stuhles, in keiner Weise zu gestatten, daß der Bischof, in dessen Diözese das Mutterhaus liegt, die Oberleitung habe und die Generaloberin ernenne, damit der Jurisdiktion der andern Bischöfe kein Eintrag geschehe; man gestattet nur, daß der Bischof, in dessen Sprengel das Generalkapitel abgehalten wird, als Delegierter des Heiligen Stuhles den Vorsitz im Kapitel führe, die Wahl der Generaloberin bestätige und einen Bericht über den Verlauf des Kapitels an die heilige Kongregation sende. 6. Es ist gegen den gewöhnlichen Brauch, daß die auf drei Jahre gewählte Generaloberin ohne neues Kapitel mit Erlaubnis des Bischofs wieder drei Jahre im Amte bleibt. 7. Den einzelnen Schwestern bleibt es freigestellt, den Ertrag ihres väterlichen Vermögens der Genossenschaft oder sonst jemand zuzuwenden. 8. Novizinnen dürfen während des Noviziates nicht außerhalb des Novizenhauses weilen. 9. In den Konstitutionen muß festgelegt werden, daß die Generaloberin alle drei Jahre einen genauen Bericht über die Lage der Genossenschaft nach Rom sendet 70).

In diesen "Bemerkungen" sind so ziemlich alle Bedingungen angedeutet, die eine Genossenschaft zu erfüllen hat, welche die päpstliche Approbation erstrebt 71). Manche von ihnen waren bisher in der Niederbronner Klosterfamilie noch nicht beobachtet worden. Bischof Räß scheint der Stifterin für die innere Leitung der Kongregation weitgehende Freiheit gestattet zu haben, deren selbstherrliche Ausübung wohl einer straff organisierten Disziplin zugute kam, aber bei manchen weniger fügsamen Mitgliedern Anstoß erregte. Daß sich diese bei einzelnen Geistlichen darüber beklagten, ist weiter nicht verwunderlich. Welcher Obere kann es allen Untergebenen recht machen?

Die Seele aller gegen die Oberin im angedeuteten Sinne gerichteten Anklagen war der Direktor der geistlichen, unter dem Namen Collège libre zu Kolmar errichteten Lehranstalt, Abbé Martin, ein im übrigen tadelloser, wohlverdienter Geistlicher, der auch bei den Schwestern der Kolmarer Niederlassung das Amt eines Beichtvaters verwaltete 72). Er verlangte im Jahre 1862 vom Bischof tief greifende Reformen im Schoße der Genossenschaft. Es läßt sich heute nicht mehr klar feststellen, worum sich diese Beschwerden drehten. Da sich Bischof Räß nicht veranlaßt sah, jenen Anregungen Folge zu leisten, muß es sich um gut gemeinte Vorstellungen gehandelt haben, die aber weit über das Ziel hinausschossen und vielleicht einige unbedeutende Vorkommnisse über Gebühr aufbauschten. Es handelte sich hier wohl nur um einen Vorstoß von der Seite jener, die noch immer dem Niederbronner Werke nicht gewogen waren. Die große Gefahr dieser Tendenzen lag in der Möglichkeit, daß der Geist der Zwietracht in der bislang mit so sichtbarem Erfolge geleiteten Klosterfamilie sich dauernd festsetzen konnte. Das verhehlte sich denn auch der Bischof nicht, und in seiner feinen, diplomatischen Weise gab er der ehrw. Mutter zu verstehen, daß alles sorgfältig zu vermeiden sei, was bösen Zungen Anlaß zu üblen Nachreden geben könne. "Man sucht", schreibt er ihr am 29. April 1863, "noch immer von verschiedenen Seiten Unzufriedenheit in der Kongregation zu stiften, und ich bemerke mit Betrübnis, daß die Angriffe besonders gegen die ehrw. Oberin gerichtet sind. Da wird es notwendig sein, ehrw. Mutter, den lieben Gott immer inständiger zu bitten, daß er Ihnen mit seiner väterlichen Gnade beistehe und besonders in dem Kraft und Einsicht verleihe, wo es nottut, um die Gemüter zu gewinnen, die Gewissen zu beruhigen und den Bösen den Mund zu schließen. Englische Geduld und Sanftmut, Abtötung und Selbstbeherrschung, Milde und Liebe gegen alle, Vergessen alles dessen, was uns persönlich unangenehm berührt, Leutseligkeit und Herablassung, Vermeidung dessen, was als Aufwand oder persönliche Schwäche ausgelegt werden könnte, Entfernung von unbegründetem Mißtrauen oder Verdruß, wo bloß persönliche Fragen im Spiele sind, diese und andere Tugenden, ehrw. Mutter, sind lauter übernatürliche Eigenschaften, die in unserer Stellung uns in hohem Grade notwendig sind, besonders wenn man von außen gerne übel nachredet."

Am 7. November 1865 bat Bischof Räß zum zweiten Male in Rom um die päpstliche Approbation. Diesmal ließ sie nicht lange auf sich warten; sie erfolgte bereits am 11. April 1866. Dadurch wurde die Genossenschaft als "eine unter der Autorität einer Generaloberin stehende Kongregation mit einfachen Gelübden" anerkannt.

Nicht aber war mit dieser Approbation eine solche der Statuten verbunden, welche ausdrücklich einer günstigeren Zeit vorbehalten wird.



Nun war das ersehnte Ziel erreicht. Freude und Jubel herrschte im Mutterhause. Am 12. Juni desselben Jahres wurde daselbst die päpstliche Bestätigung durch eine große Festlichkeit gefeiert. Ignaz Simonis, Professor am Priesterseminar zu Straßburg, hielt eine begeisterte Festpredigt 73) über das Wort: "Dies ist der Tag, welchen der Herr gemacht hat; erfreuen wir uns und frohlocken wir an demselben." Der Prediger pries den Tag der päpstlichen Approbation als einen der denkwürdigsten in der Geschichte der Genossenschaft. "Er steht", so führt er aus, "mit goldenen Buchstaben in der Geschichte eurer Kongregation geschrieben. Wenn diese fromme Stiftung, so Gott will, lange, lange, lange in der Kirche Gottes fortbestehen soll, so wird immerdar nach Jahren und Jahrhunderten freudig daran erinnert werden, und die späteren Schwestern werden euer Glück, das Glück jener Schwestern und Vorsteherinnen beneiden, welche unmittelbar der Gegenstand dieses göttlichen und päpstlichen Segens gewesen sind." Der Segen Gottes, der so sichtbar über der Kongregation waltet, und der neue Glanz, der durch die päpstliche Kundgebung über sie ausgestrahlt wird, ist der Gegenstand der geistreichen Festrede: Der Segen Gottes offenbart sich in den verschiedenen Merkmalen des Geistes Gottes, welche der Kongregation aufgeprägt sind. Das erste und größte dieser Merkmale besteht in jener Liebe zum Gekreuzigten, welche sich besonders in der Befolgung der evangelischen Räte kundgibt. Der Welt gegenüber haben aber die Schwestern noch ein anderes Kennzeichen, die aufopfernde Nächstenliebe. "Was ist", so führt der Prediger ferner aus, "der besondere Zweck eures Instituts, wenn nicht die Übung der Nächstenliebe, ja der schönsten, reinsten, aufopferndsten Nächstenliebe? Jesus in seinen Brüdern lieben, Jesus in seinen Kranken pflegen, Jesus in seinen Armen beistehen, das ist eure besondere, eigentümliche Aufgabe. O wie schön ist dieser Beruf, wie ganz der Sendung des Sohnes Gottes würdig, welcher gekommen ist, zu suchen und zu heilen, was verloren war; welcher die Ärmsten, Kränksten und Verlassensten mit besonderer Vorliebe aufsuchte, um gerade an ihnen seine meisten, seine herrlichsten Wunder zu wirken! Diesem Beispiele treu nachzufolgen, habt ihr von Anfang an keine Mühe, keine Beschwernis, keine Ermüdung gescheut, und mit welcher Opferwilligkeit ihr euch hingegeben, das bezeugen die zahlreichen Lücken, welche der grausame Tod in so kurzer Zeit in euren Reihen herbeigeführt hat." Der Prediger schildert dann, wie das Werk, dessen Gründung auch wohlwollenden Männern als ein gewagtes Unternehmen erschienen war, in so kurzer Zeit emporblühte, daß sie jetzt mehr als 700 Schwestern zähle, die in 80 Niederlassungen in verschiedenen Bistümern wirken. "Wie ist es aber gekommen, daß aus einem so kleinen Anfang ein so großer Erfolg, aus einem so kleinen Kern ein so großer Baum hervorgewachsen ist? Dies hat Gottes Hand so gelenkt und eingerichtet. Gott hat hier geschaltet, wie er immer zu schalten pflegt. Er hat erwählt, was in den Augen der Menschen gering und verächtlich war; er hat es erhoben, nicht zur Verherrlichung irgendeines menschlichen Werkzeuges, sondern zur Offenbarung seiner Allmacht, zur Verherrlichung seiner Liebe. So haben alle seine Werke begonnen, so sind sie alle herangewachsen." Aber der Redner spricht auch von den Prüfungen, die darin bestanden, daß mehrere Schwestern ihrem Berufe untreu wurden. Durch die päpstliche Bestätigung hat nun die Kongregation eine neue Festigkeit erhalten, hat eine neue Würde empfangen. "Es ist etwas Großes, wenn ihr vor Freunden und Feinden unter dem päpstlichen Schutze dastehen könnet. Allein, wenn ihr heute an äußerem Glanze zunehmet, so habt ihr noch mehr an wahrer, innerer Würde vor Gott und der Kirche gewonnen. Eure Gelübde werden von nun an gleichsam in die Hände des Papstes gelegt; Jesus Christus nimmt sie an in der Person seines höchsten Stellvertreters auf Erden. Ihr seid von nun an in dieser Beziehung die unmittelbaren Kinder des Heiligen Stuhles; ihr werdet jenen glorreichen Orden zugezählt, welche als die schönste Zierde, als der herrlichste Trost der Kirche dastehen."

Nach der kirchlichen Feier soll die Generaloberin den umstehenden Schwestern bedeutet haben, daß der Prediger einst zur Leitung der Kongregation berufen würde 74). Das war ein prophetisches Wort.



Siebtes Kapitel.

Ein schwerer Verlust: Die Trennung von Wien, Ödenburg

und Würzburg (1866). Der Tod der Stifterin.

Nicht ungemischt war die Freude, mit der die Generaloberin und ihr treuer, langjähriger Gehilfe, Superior Reichard, die vorhin geschilderte Approbationsfeier begingen. Drei blühende, hoffnungsvolle Häuser hatten sich von dem Mutterhause losgesagt, die Frucht jahrelanger Mühen und Sorgen war unwiderbringlich dahin. Langsam, fast unmerklich hatte sich das Beklagenswerte vorbereitet. Wie alles kam, welches die treibenden Kräfte dieser für das Mutterhaus so schmerzlichen Trennung der Filialhäuser zu Wien, Ödenburg und Würzburg waren, soll weiter unten in eigenen Abschnitten ausführlich behandelt werden. Nur die Befürchtungen, die schon ein Jahr vor der vollzogenen Absonderung jener Glieder der Superior Reichard mit wehmütigen Worten am 20. April 1865 den Schwestern mitteilte, seien hier wiedergegeben, als Ausdruck der trüben Vorahnungen, welche die Seele der Obern durchzogen. Alles, was er von Würzburg vernommen habe, sagt Reichard, bestärke ihn in dem Vorgefühl kommender Prüfungen. Aber in seinem frommen Sinne meinte er: "Wir überlassen uns ganz der göttlichen Vorsehung. Wir begnügen uns mit der Erklärung, daß die Töchter des Allerheiligsten Heilandes überall in Deutschland, Frankreich und in andern Ländern nur eine einzige Körperschaft bilden, geleitet von ein und denselben Obern, beseelt von einem und demselben Geiste, ein und dasselbe Ziel verfolgend. Dies war die Absicht der von Gott geleiteten Gründer. Diese Absicht ist durch die gewichtigsten Gründe gerechtfertigt. Die Töchter des Allerheiligsten Heilandes, die in viel unmittelbarerer und dauernderer Berührung mit der Welt stehen als die Glieder irgendeiner anderen Frauenkongregation, sind dadurch auch mehr der Gefahr der Abwendung ausgesetzt. Der Geist der Einheit, die völlige Unterwerfung unter ihre einzige Generaloberin, die pünktliche Befolgung der heiligen Regel bilden das einzige Schutzmittel gegen die Gefahren, denen sie bei der Erfüllung ihrer so schwierigen Mission ausgesetzt sind. O diese heilige Einheit! Warum sucht man sie jetzt zu vernichten? Warum strengt man sich an, die Kongregation auseinanderzusprengen? Wozu führt man durch Gründung neuer Mutterhäuser und die Ernennung neuer Generaloberinnen eine Trennung vom Mutterhause herbei? Was begünstigt dieses verderbliche Streben? Liegt der Grund darin, daß das Mutterhaus in Frankreich liegt? Aber hat nicht Gott selbst alles so gefügt? Wer sieht nicht ein, daß mit Absicht die Vorsehung das Elsaß auserwählt hat, um da ein Mutterhaus zu errichten, damit aus dieser zwischen Frankreich und Deutschland gelegenen Provinz die Kongregation ihre Hilfe der leidenden Menschheit in beiden Ländern angedeihen lassen kann? Soll das Werk an nationalen Vorurteilen scheitern? Hat dieses nicht in der Geschichte der Kirche Gottes schon so viel Unheil angerichtet? Betrachten wir uns als Kinder der einen und wahren Kirche, in deren Schoß es keine Griechen noch Römer gibt, keine Deutschen noch Franzosen, sondern deren Glieder alle Brüder und Schwestern in Christo sind. Nehmen wir mit Dank die Hilfe an, die Gott uns darbietet, auch dann, wenn er sie uns gewährt durch die Vermittlung eines barmherzigen Samaritans. Und ihr, teure Töchter des Allerheiligsten Heilandes, seid immer diese barmherzigen Samariter, wo ihr auch immer sein möget; seid es selbst in den Ländern, wo man euch das Existenzrecht verweigert, wofern man euch nur duldet und eure Dienste in Anspruch nimmt. Zeiget euch würdig eures Berufes, verharret darin und gehört nicht zu diesen wankelmütigen Seelen, die keinen Bestand haben, nur die Beharrlichkeit wird gekrönt. Lasset euch nicht in Irrtum führen durch den trügerischen Schein, durch welchen Satan euch abspenstig zu machen sucht."

Das war der Erguß eines gepreßten Herzens, der dem für die Einheitlichkeit seines Werkes kämpfenden und bangenden Obern alle Ehre macht. Seine trüben Ahnungen erfüllten sich nur zu bald. Von Wien aus kam noch schneller als von Würzburg die für die Obern niederschmetternde Kunde der Trennung: Am 21. März 1866 erklärten die Wiener Lokaloberin Schwester M. Theophila und 24 Schwestern ihre unwiderrufliche Trennung vom Mutterhause Niederbronn und die Errichtung eines eigenen Mutterhauses in Wien. Dieser Erklärung schloß sich die Oberin der Ödenburger Filiale, Schwester Basilista, mit 13 Schwestern an.

Drei Monate später kam die gleiche Hiobspost von Würzburg. Am 6. Juni 1866 hatte der König von Bayern diesem Hause die Rechte einer religiösen und zivilrechtlichen Kongregation verliehen und die Würzburger Anstalt als Mutterhaus erklärt; am 15. Juni schloss sich die geistliche Behörde der Diözese dieser Anordnung an, und der Bischof löste den Verband mit Niederbronn. Alle Filialen der Würzburger Diözese gingen dem Mutterhaus verloren; die Mehrzahl der Schwestern allerdings wollte von dieser Entwicklung der Dinge nichts wissen und kehrte ins Mutterhaus zurück.

Der Riß heilte nicht wieder, Wien und Würzburg waren für immer verloren. Für die ehrw. Mutter war das ein schwerer Schlag, von dem sie sich nicht wieder erholte. Ohnehin von schwächlicher Konstitution, stets zu nervösen Krisen neigend und Gemütserschütterungen leicht unterliegend, konnte sie den Eindruck, den diese Ereignisse auf sie machten, nie mehr verwinden. Ihre alte Tatkraft war dahin. Im Mai 1867 suchte sie auf dem Gutshofe Singlingen Erholung. Am 1. Juni kehrte sie ins Mutterhaus zurück, mußte aber bald das Krankenlager aufsuchen, von dem sie sich nicht mehr erhob. Ein böses Gehirnfieber warf sie danieder, hoffnungslos. Die Kräfte dieses Menschenlebens hatten sich im harten Ringen um das Wachsen und Gedeihen der Kongregation erschöpft. Sie konnten der schweren Krankheit, welche jetzt mit Heftigkeit einsetzte, keinen Widerstand mehr entgegensetzen. Auf die Kunde dieser traurigen Dinge eilte der Superior sofort von Singlingen, wo er weilte nach Niederbronn. Er ahnte nicht, daß er selbst dem Tode entgegenging. Denn als am 21. Juli die ehrw. Mutter durch einen leichten Gehirnschlag in den Zustand völliger Bewußtlosigkeit versetzt wurde, erschütterte dieser Vorfall den greisen Priester so sehr, daß er am folgenden Tage selbst von einem Schlagfluß gerührt wurde, an dessen Folgen er am 24. Juli verstarb. Am 26. Juli wurde er im Beisein fast aller Oberinnen und zahlreicher Schwestern zu Grabe getragen. Die Stelle des Bischofs, der außerhalb der Diözese weilte, vertrat bei den Leichenfeierlichkeiten der Generalvikar Rapp, der auch die Leichenrede hielt. Da er dem verblichenen sehr nahe gestanden war und von seinen Sorgen wußte, entsprach es wohl der Wahrheit, als er hervorhob, daß die Trennung der Wiener und Würzburger Häuser an seinem voreiligen Tode nicht unschuldig seien.

Während sie den teuren Toten zu Füßen des großen Friedhofskreuzes in die Gruft senkten, lag Schwester M. Alphons noch immer bewußtlos auf dem Krankenbette danieder. Erst am 31. Juli rief auch sie der Herr aus dieser Zeitlichkeit ab. Am 2. August wurde sie neben den sterblichen Überresten Reichards beigesetzt, im Schatten des Kreuzes, das ihr im Leben immer vorangeleuchtet hatte. Generalvikar Rapp hat auch sie zur letzten Ruhe geleitet. Nur 53 Jahre hat sie dieser Welt angehört.

Eine ergreifende Tragik webt um das gleichzeitige Todeslager dieser beiden Menschen. Keinem war es vergönnt, Worte des Abschieds, der Ermahnung, des Trostes an die weinenden Mitglieder der Klosterfamilie zu richten, welche das Sterbebett umstanden. Heimtückisch hat sie der Tod überfallen, hat ihnen Augen und Mund verschlossen, während in der Brust noch leises Leben atmete. Das mußten die doppelt Verwaisten besonders schmerzlich empfinden. Und doch liegt auch viel Versöhnliches und Tröstliches in dem Gedanken, daß diese zwei bevorzugten Persönlichkeiten, die, in selbstlosem Streben und bewunderungswürdigem Gottvertrauen einig, ihr segensvolles Werk vollendeten, gleichzeitig der dornenvollen Erdenlaufbahn entrissen wurden. Wollte der Herr, der dieses alles fügte, jedem von ihnen den Schmerz ersparen, der uns alle überkommt, wenn wir teuren Abgestorbenen ins offene Grab nachblicken? Auch bei dem Plötzlichen dieses Todes stehen wir nicht unter dem lähmenden, erschütternden Eindruck, den diese Art des Ablebens sonst auf den gläubigen Christen macht. Denn alle, welche den beiden Verstorbenen während ihres Lebens nahe gestanden hatten und welche Zeugen ihres Wirkens gewesen waren, konnten von diesem Leben sagen, daß es stets ein Wandeln vor Gottes Angesicht war.

Niemand wohl hatte die verblichene Stifterin besser gekannt als die Novizenmeisterin Schwester M. Joseph. Sie hatte von Anfang an mit ihr die Novizinnen in den Geist der Kongregation eingeführt, ihre Seelen für das große Werk der Nächstenliebe gebildet. Unter dem Eindruck des ungeheueren Schmerzes, der nach dem Doppelbegräbnis über der Genossenschaft lastete, schrieb sie dem Bischof Räß, den das traurige Ereignis tief erschütterte 75): "Groß ist der Schmerz; diejenige, die ich so innig liebte, ist nicht mehr; sie ist hingegangen, um im Himmel die Belohnungen ihrer großen Tugenden zu empfangen. Sie war eine Heilige; während der 18 Jahre, die ich in ihrer Nähe zugebracht habe, habe ich mich nur erbauen können an ihren Tugenden, ihrer Güte, ihrer Aufopferung für uns und für das Werk, das der Herr ihr anvertraut hatte." Der Herr von Cissey, der sie durch seinen öfteren Kuraufenthalt genau kannte, hoffte sogar, daß Gott nach ihrem Tode sie irgendwie verherrlichen werde, und bat bald nachher die Schwestern, sie möchten alles genau sammeln, was auf das Leben der Kongregationsstifterin Bezug habe 76). Leider hat man diesen Rat nicht befolgt.

Zu bedauern bleibt, daß aus dem letzten Jahrzehnt ihres Lebens so gut wie keine Aufzeichnungen über sie erhalten sind. Darum ist es dem Geschichtsschreiber, der sein Urteil nur auf glaubwürdige Zeugnisse gründen kann, schwer, ein vollständiges Charakterbild dieser merkwürdigen Persönlichkeit zu entwerfen, welche von den Zeitgenossen am Anfang ihrer Laufbahn so widerspruchsvoll beurteilt wurde. Diese Bauerntochter, die ein so fest gefügtes, segensreiches Institut der christlichen Nächstenliebe begründen konnte, war zweifellos eine außergewöhnliche Erscheinung. In den herben Linien des Gesichtes, dem viele Leidensjahre und das Bewußtsein einer hohen Aufgabe den Stempel stillen Ernstes aufgedrückt haben, ist eine unbeugsame Energie ausgeprägt. Das Bauernmädchen von ehedem, das in der Schule der Betrachtung und des Leidens herangereift war, wußte, was es wollte; in dem schwachen Leibe wohnte eine starke Seele. Mit einer Willenskraft sondergleichen, die auch vor den größten Schwierigkeiten nicht zurückschreckte, hat sie ihr Werk, das so viele Gegner fand, zu so überraschend schneller Entwicklung gebracht. Wohl gab Gott seinen reichen Segen dazu. Aber die Stifterin hat nicht müßig die Hände in den Schoß gelegt und alles vom Himmel erwartet. Mit grenzenlosem Gottvertrauen verband sie auch eine reale Auffassung der Dinge, rasches Handeln, kluge Ausnutzung der gegebenen Umstände.

Sie war eine ausgesprochene Regentennatur, die mit kraftvoller Hand die Genossenschaft leitete. Da sie an sich selbst große Anforderungen stellte, verlangte sie auch von ihren Untergebenen viel. Die meisten von diesen waren ihr blindlings ergeben, weil sie ihre Überlegenheit fühlten und bewunderten. Gegen Widerspenstige konnte sie von großer Strenge sein. Es liegt im Wesen solcher starken Willensnaturen, daß sie zu starrem Festhalten an den einmal erprobten Gewohnheiten neigen. Dann sind in größeren Gemeinschaften Konflikte unvermeidlich.

Anderseits wieder besaß Schwester M. Alphons das Geheimnis wunderbarer Macht über die Menschen. Nicht bloß der geheimnisvolle Zauber, den der frühe Ruf ihrer Gnadengaben um ihre Person verbreitete, erklärt diese Macht. daß ein Mann von der geistigen und sittlichen Bedeutung des Straßburger Bischofs Räß durch die zahllosen Machenschaften der Gegner Niederbronns nicht bewogen werden konnte, der Stifterin seine Huld und sein Vertrauen zu entziehen, beweist, daß er ganz unter dem Bann ihrer Persönlichkeit stand. Vielen andern, durch Geist, Stellung und Seelenadel hervorragenden Persönlichkeiten erging es ebenso, wie die früher mitgeteilten Zeugnisse beweisen. Auf den im Rufe der Heiligkeit gestorbenen Redemptoristenpater Humarque, der sie gelegentlich eines Kuraufenthaltes in Niederbronn kennenlernte, machte sie einen unvergeßlichen Eindruck, von dem er seinen Mitbrüdern oft erzählte 77). Vom fernen Konstantinopel aus wird sie von Frau de Saint-Arnaud um ihre Gebete bestürmt für ihren Gemahl, den Marschall, damit Gott seine Waffen im beginnenden Kriege mit Rußland segne, denn sie "hat Vertrauen in ihr Gebet" 78). Mit der Prinzessin Karoline zu Hohenzollern stand sie in persönlichem und brieflichem Verkehr. Einen ganz auffallenden Einfluß übte die Schwester M. Alphons auf die Prinzessin Alexandra von Bayern, die Schwester des Königs Max, aus. Sie hatte sie bei ihrem Münchner Aufenthalt kennen gelernt. Den Eindruck, den ihr Besuch machte, teilte Prinzessin Adalbert von Bayern, als sie in Darmstadt die dortige Schwesternniederlassung besuchte, der Oberin Schwester Bonaventura mit. Diese berichtet darüber der Generaloberin: "Die Prinzessin sagte mir, daß Sie in München bei der Prinzessin Alexandra einen außerordentlichen Eindruck gemacht haben; dieselbe sei derart von Révérende Mère ergriffen gewesen, daß sie einen Brief von drei Bogen an ihren Bruder, den König Max, geschrieben habe. Den Eindruck könnte man sich nicht denken, der ganze Hof freue sich darüber, weil die Prinzessin immer ein wenig gemütsleidend war." Die Prinzessin selbst dankte der Generaloberin nachträglich noch "für alle Beweise der Teilnahme, welche Sie mir während ihres kurzen Aufenthaltes in München gaben. Gott möge Ihre mütterlichen Ermahnungen segnen. Mir scheint es, Gott habe bereits Ihr liebes Gebet für mein Nervenleiden gesegnet" 79).

Alles das beweist, daß Schwester M. Alphons trotz ihrer niederen Herkunft, trotz des Mangels an höherer Geistesbildung, worauf die Welt so viel Gewicht legt, eine achtungsgebietende Persönlichkeit war. Das Große an ihr ist, daß sie nur für andere lebte, nur für ihr Werk. An ihm hing sie mit jeder Faser ihrer Seele. Der darbenden und leidenden Menschheit um Christi willen zu helfen, die leiblich Kranken und seelisch Gebrochenen zu erquicken und aufzurichten, war die große Idee, deren Verwirklichung ihr ganzes Leben gewidmet war. Nicht eitlem Ruhm ist sie nachgejagt. Sie hat bei allem, was sie tat, nicht sich selbst gesucht. Es spiegelt nur ihre eigene Gesinnung wider, was sie der Darmstädter Oberin Schwester Bonaventura mitteilen ließ, als diese für ihre Verdienste um die Verwundetenpflege im preußisch-österreichischen Kriege mit dem österreichischen goldenen Verdienstkreuz dekoriert wurde 80): "Was Sie selbst betrifft, liebe Schwester Bonaventura, und Ihre Mitschwestern, so suchen Sie immer in Ihren Handlungen die Ehre Gottes und seiner heiligen Kirche, das Heil der Seelen und Ihre eigene Vollkommenheit und geben Sie gar nicht acht auf das, was von außen vorgeht. Sagen Sie mit dem Verfasser der Nachfolge Christi: Heute ist man für mich, morgen kann man wider mich sein. Ich will vor allem trachten, meinem Gott wohlzugefallen, mein Elend immer vor Augen zu haben, damit ich mich nicht selbst erhebe und dadurch Gott mißfalle, dem allein die Ehre gebührt."

Zweiter Abschnitt.



Krisen und Prüfungen.

Der Deutsch-Französische Krieg. (1867 – 1872.)

Wie schwer der Verlust war, welcher durch den Tod der beiden Obern die Kongregation betroffen hatte, zeigte sich erst in der Folgezeit recht deutlich. Eine Zeitlang wollte es scheinen, als sei durch den Hingang der Stifterin der alte Geist entschwunden, der bislang die Genossenschaft beseelt und von Erfolg zu Erfolg geführt hatte. Das Gespenst der Zwietracht erhob sich und drohte die Einheit zu zerstören. Der Mann, der das seiner Lenker beraubte Schifflein steuern sollte, besaß bei allem guten Willen nicht das nötige Geschick. Die neue Generaloberin, noch jung an Jahren, ermangelte der nötigen Erfahrung. Dazu kamen bedenkliche finanzielle Schwierigkeiten und zu allem Unglück der Krieg, der der Kongregation schwere Wunden schlug, mochte sie auch auf den Schlachtfeldern und in den Lazaretten in beiden Ländern durch heldenmütige Ausübung der Liebestätigkeit noch so glänzende Erfolge errungen haben. Fünf bange Jahre zogen über das Mutterhaus hin, reich an Sorgen und Prüfungen. Aber auch diese Tage hatten ihr Gutes.



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