In der Roten Armee
Im Sommer 1928, es war unser letztes Jahr an der Universität, beschloß ich zwei Monate «Ferien» in der Roten Armee als Rotarmist zu verbringen. Nur drei Studenten der deutschen Abteilung hatten sich dazu gemeldet. Wir wurden ganz in der Nähe von Moskau in einem riesigen Waldlager empfangen, eingekleidet und einer Zelteinheit zugeteilt. Warum wir in eine koreanische Einheit kamen, weiß der Teufel. In den herrlichen Kiefern und Buchenwäldern besaß die Rote Armee ein Ausbildungslager. Die Rotarmisten waren teils in geräumigen Blockhäusern, teils in großen Zelten untergebracht. Das Camp entpuppte sich als eine Art Universität: Tausende von Rotarmisten, meist Bauern, lernten hier lesen und schreiben, erhielten ihren ersten politischen Unterricht. Zahlreiche Abendschulen lehrten allgemeine und Spezialfächer, es gab eine Menge Freiluftkinos und Sportanlagen.
Die ersten zwei Wochen im Waldlager dienten der militärischen Instruktion — Geländeausnützung, Marschübungen, Bajonettfechten und Waffenkunde. Offiziere und Unteroffiziere waren von den gemeinen Soldaten kaum zu unterscheiden. Die übliche Anrede lautete Genosse Kommandant, es gab schon Offiziersabzeichen, doch nur an der Ausgangsuniform. Militärisches Grüßen war unbekannt, man stand etwas stramm vor dem Vorgesetzten.
In der zweiten Woche vernichtete ein Waldbrand mit rasender Schnelligkeit einige Blockhäuser und Zelte. Die Löscharbeiten wurden rasch organisiert, doch es waren keine Schläuche, keine Leitungen, keine Spritzen vorhanden. Vom kleinen Fluß her reichten sich Soldaten in langer Kette Eimer um Eimer zu, während eine Abteilung Rotarmisten fieberhaft eine breite Waldschneise auszuhauen begann, um dem Feuer Einhalt zu gebieten. Einige Schritte neben mir, mitten in der Kette, stand Klim Woroschilow, der populäre Oberbefehlshaber der Roten Armee. Auch er reichte emsig die gefüllten Eimer weiter. Für uns Studenten war der Dienst mit dem koreanischen Marschbataillon sehr anstrengend. Die meist kleinen oder mittelgroßen Koreaner marschierten wie Teufel, legten in kurzen, schnellen Schritten ein unheimliches Tempo vor und waren von einer zähen Ausdauer. Ende der dritten Woche begannen die großen Manöver; es setzte tagelange Märsche mit Sack und Pack in sengender Hitze. Jeder zweite hatte neben Sack und Gewehr ein kleines Zweimannzelt auf dem Rücken. Am Abend waren diese kleinen Zelte im Handumdrehen aufgebaut und dienten als Schlafstelle. Decken gab es nicht, dafür in der Nähe von Dörfern manchmal Stroh, aber meist schliefen wir auf dem nackten Boden. Bei Regen, wenn die Erde durchnäßt war, erkrankten viele und wurden rasch in irgendein Lazarett abgeschoben. Zwischen Offizieren und Mannschaft herrschte ein kameradschaftliches Verhältnis. Oft kam es bei den schweren Märschen vor, daß ein Soldat den Sack nicht mehr tragen konnte, und dann erschien garantiert ein Offizier, um ihm die Last abzunehmen. Wenn es sich aber um ein Parteimitglied handelte, hieß es dann gewöhnlich: «Aber Genosse, du bist doch Parteimitglied, du mußt den parteilosen Rotarmisten ein gutes Beispiel geben, reiß dich zusammen.» Stundenlang konnte ein Offizier neben einem schwach gewordenen Rotarmisten herlaufen und ihn ermuntern. Meist wurde dann ein russisches Volkslied oder Marschlied angestimmt.
Die Manöver hatten kriegsähnlichen Charakter. Eines Nachts geriet unsere Kolonne während des Biwakierens in einen Feuerüberfall «feindlicher Artillerie». Ein wirres Durcheinander entstand, eine ohrenbetäubende Knallerei setzte ein, Pferde wieherten, Hurragebrüll ertönte, der Überfall war geglückt.
Wir biwakierten häufig in der Nähe von Dörfern, ohne dort einquartiert zu werden. Am Abend, bevor wir in unsere Kleinzelte krochen, gingen wir gern ins Dorf, meist aber kam die Dorfbevölkerung in unser Zeltlager zum Tanzen und Singen, bis um elf Uhr der Zapfen streich erklang. In dieser ganzen Zeit wurde nie Alkohol ausgeschenkt, es gab keine Betrunkenen, die Offiziere hielten da streng auf Ordnung. Eine Erholung waren die zwei Monate für uns Studenten nicht, wenn wir auch gesundheitlich profitierten. Vor allem vermittelten sie uns neue Gesichtspunkte über die Beziehungen zwischen der Armee und der Bevölkerung. Zu jener Zeit war die Armee zweifellos eine echte Volksarmee.
Abschied von Moskau
Die drei Studienjahre näherten sich ihrem Ende. In den Abschlußprüfungen standen wir drei Schweizer an der Spitze. Goldstein, der Leiter der russischen Staatsbank, gab eine sehr ausgewogene Beurteilung der Schüler. Uns dreien wurde freigestellt, in Rußland zu bleiben und ein höheres Studium bis zur Professur fortzusetzen. Jedoch wir drei wollten in die Schweiz zurückkehren, was übrigens einer Abmachung mit der Kommunistischen Partei der Schweiz entsprach. Bei den Vorbereitungen zur Heimfahrt ergaben sich mannigfache Schwierigkeiten. Ein Jahr vorher hatte ich einem österreichischen Emigranten, der bei uns studierte und für zwei Monate nach Wien in Ferien wollte, meinen Paß ausgeliehen. Die Kominternabteilung für Falschpässe richtete ihn entsprechend her. Leider kam weder der Schüler noch der Paß zurück. Da ich ohne ein solches Dokument nicht reisen konnte und es zwischen der Schweiz und Rußland noch keine diplomatischen Beziehungen gab, mußte ich mich ans Rote Kreuz wenden, die einzige Instanz, die sich für konsularische und diplomatische Belange einsetzte. Nach langen Verhandlungen (ich erklärte natürlich, meinen Paß verloren zu haben) erhielt ich einen provisorischen Paß ausgestellt.
Beim Einholen des polnischen Durchreisevisums erlebten wir einen peinlichen Zwischenfall. Uli und ich trugen selten eine Kopfbedeckung, Erb hatte dauernd eine einfache Schirmmütze auf. In Rußland war es nicht üblich, beim Betreten von Büroräumen die Kopfbedeckung abzunehmen. Ahnungslos stiefelte Erb mit uns in das Vorzimmer des polnischen Konsulats. Doch kaum war die Tür hinter uns geschlossen, erhielt Erb von einem Beamten eine kräftige Ohrfeige. Die Mütze wurde ihm vom Kopf geschlagen mit der bissigen Bemerkung: «Hier sind Sie nicht in Rußland, hier ist polnisches Gebiet und herrschen polnische Gebräuche!» Erb stand bleich und fassungslos da, doch eine Schlägerei konnten wir unter den ungünstigen Umständen nicht wagen.
Sehr schwer fiel mir der Abschied von Edwin Schaffner. Wir wußten es beide, es war für immer. Am Abend vor der Abreise saßen Erb und ich mit ihm lange zusammen. Danach spazierten wir drei gemächlich über den Roten Platz, da Erb und ich unsere Wohnung jenseits der Moskwa hatten. Vor der Basiliuskathedrale verabschiedete sich Erb. Schaffner und ich jedoch überquerten, in lebhafte Diskussionen verstrickt, mehrmals den weiten Platz. Es war gegen ein Uhr nachts, als wir eine heftige Explosion hörten, der wir keine besondere Bedeutung beimaßen. Mitten in unser Gespräch hinein platzend, forderten uns plötzlich zwei Milizionäre auf, ihnen zu folgen. Schaffner hatte seine Papiere zu Hause gelassen (er arbeitete als Dolmetscher in der Komintern), ich hatte die Abgangsbelege der Universität und die Fahrkarte nach Berlin bei mir.
So ging es schnurstracks zur Lubjianka. Auf dem Platz vor dem berüchtigten Gebäude wimmelte es von Polizisten und Soldaten, der Boden war in weitem Umkreis mit Glasscherben bedeckt, die Lubjianka wies Beschädigungen auf, die von einer Explosion herrühren mußten. Wir konnten darüber aber nicht mehr nachdenken, denn im Gebäude wurden wir sofort von Bewaffneten umringt, mußten mit über den Kopf gelegten Armen eine Treppe hochsteigen und wurden streng bewacht in ein Zimmer gesetzt. Jede Unterhaltung war uns verboten. Nach kurzer Zeit wurden wir Menschinski vorgeführt, dem damaligen Leiter der Staatspolizei, den wir sofort erkannten. Sein gelblich-bleiches Gesicht trug Spuren von Übernächtigung. Ungeduldig erwarteten wir seine Erklärung.
«Setzt euch, Genossen», begann er. «Sie wurden hergeführt, weil Sie spät in der Nacht herumspazierten und Ihre Unterhaltung in fremder Sprache führten. Inzwischen haben wir uns über Ihre Personalien erkundigt. Bei Ihnen, Genosse Thalmann, ist die Sache völlig klar, für den Genossen Schaffner haben wir jetzt eben die nötigen Angaben erhalten. Es handelt sich um einen Irrtum unserer Milizionäre, Sie können ruhig nach Hause gehen, doch bitte ich Sie, über alles, was Sie hier gesehen haben, strenges Stillschweigen zu bewahren.» Wir wurden entlassen, ohne zu wissen, was geschehen war. Erst in Berlin erfuhren wir aus den Zeitungen, polnische Nationalisten hätten auf die Lubjianka ein Sprengstoffattentat verübt, das einige Todesopfer gefordert und schweren Schaden angerichtet hatte. Bei der Kontrolle unserer Koffer an der polnischen Grenze stellten wir fest, daß jeder von uns unabhängig vom anderen eine kleine Marx-Büste gekauft hatte. Wir sahen uns an und lachten...
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