Revolution für die Freiheit



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Der Casinokrawall


Mit dem Ausbruch der russischen Revolution nahm der Kriegsverlauf eine entscheidende Wendung; der Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs und der Habsburgermonarchie begannen sich abzuzeichnen. Die der russischen Revolution günstig gesinnten Elemente sammelten sich, und langsam begann sich eine Parteilinke zu formieren. Unter dem Druck der sich rasch radikalisierenden Arbeiterschaft wurden die Forderungen des Oltener Aktionskomitees präziser. Im April 1918 organisierte der Arbeiterbund Basel eine vom Oltener Komitee angeregte öffentliche Versammlung. Auf dem Marktplatz drängte sich eine große Menschenmenge vor den Rednern. Um die mit rotem Tuch ausgeschlagene Tribüne hatten wir Jungburschen uns mit flatternden roten Fahnen geschart. Nach Friedrich Schneiders temperamentvoller Rede bestieg der Jungbursche Mamie unverhofft das Podium und wollte sprechen. Das war von den Veranstaltern der Kundgebung nicht vorgesehen, und sie versuchten es zu verhindern. So begann um das Podium ein heftiges Gedränge, da wir Jungen einen Redner forderten. In dem allgemeinen Durcheinander konnte Mamie die Versammlung zu einem Umzug bewegen. Mehrere hundert Menschen, meist jüngere Leute, marschierten singend durch die Innenstadt. Aus dem allmählich anschwellenden Zug ertönten Rufe: «Zum Casino, zum Casino!» Dieses stadtbekannte Lokal war ein vornehmes Restaurant und Treffpunkt der Schieber und Spekulanten. Auf dem Barfüsserplatz vor dem Casino schwang sich der Zürcher Jungbursche Joggi Herzog auf einen Sockel, zog seine Uhr aus der Tasche und verkündete laut: «Wir geben den Spießern drei Minuten Zeit, das Lokal zu räumen, dann wird es gestürmt.» Lautes Johlen begleitete sein Ultimatum.

Im Casino, hinter den Scheiben der großen Glasveranda, schmausten die Bürger, sahen erstaunt, amüsiert dem ungewohnten Schauspiel zu und ahnten nicht, was ihnen bevorstand. Die Menschenansammlung vor dem Casino wurde größer, ihre Haltung immer drohender. Ein erster Stein flog, zerschmetterte ein Fenster der Glaswand. Nun gab es kein Halten mehr. Ein Steinhagel zertrümmerte die Fensterfront, verstört zogen sich die Bürger schleunigst in die inneren Räume zurück. Es half ihnen nichts, die wütenden Demonstranten drangen ein, wildes Handgemenge entstand, Stühle und Tische zerkrachten, der große Kronleuchter an der Decke wurde mit allen erreichbaren Gegenständen bombardiert, bis er klirrend zu Boden sauste. Mit zerrissenen Kleidern flohen die zerbläuten, blutenden Gäste ins Freie oder in die oberen Räume. Jeweils zu zweit packten wir die schweren Kübel mit den exotischen Pflanzen vor dem Casino und schleuderten sie ins Restaurant hinein. Innerhalb weniger Minuten hatte sich das Casino in einen wüsten Trümmerhaufen verwandelt. Die Polizei rückte zu spät an; sie konnte nur noch die Menge zurückdrängen und das Gebäude absperren.



«Rädelsführer» Joggi Herzog wurde als einziger einige Monate später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Generalstreik 1918


Teuerung und Lebensmittelknappheit schürten die Unzufriedenheit der Menschen zusehends. In Züricher Munitionsfabriken kam es zu Streiks, die Polizei griff hart durch, worauf Gewerkschaften und Partei mit einem eintägigen Generalstreik antworteten. Die Schweizer Regierung, kopflos und starrsinnig, bot Truppen gegen die Streikenden auf, Versammlungen wurden verboten, es trat eine Art Ausnahmezustand ein. In dieser Situation hielt das Oltener Aktionskomitee eine Beratung über die Kampfmaßnahmen ab und einigte sich auf eine Reihe von Forderungen an die Regierung, die ihr dann auch unterbreitet wurden. Diese Verhandlungen zerschlugen sich aber, da der Bundesrat von einer angeblichen Umsturzgefahr faselte und die aufgebotenen Truppen nicht zurückziehen wollte. Hinter der Unzufriedenheit der Massen sah die Regierung eben nur die Wühlarbeit ausländischer, bolschewistischer Agenten. Welch schreckliche «Putschgefahr» bestand, geht aus den Forderungen des Oltener Aktionskomitees hervor, die lauteten:

  • Umbildung der Landesregierung.

  • Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporz.

  • Aktives und passives Frauenwahlrecht.

  • Allgemeine Einführung der 48-Stunden-Woche. Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht.

  • Sicherung der Lebensmittelversorgung direkt mit den Produzenten. Reorganisierung der Armee in ein Volksheer.

  • Alters- und Invalidenversicherung.

  • Staatsmonopol für den Außenhandel.

  • Tilgung der Staatsschulden durch die Besitzenden.

Das für einen revolutionären Umsturzversuch zu halten, war ein schlechter Witz: Ohne Umsturz sind zahlreiche dieser Forderungen später erfüllt worden. Nein, die Regierung wollte eine Kraftprobe. Als die Verhandlungen gescheitert waren, beschloß das Oltener Aktionskomitee nach stürmischen Debatten mit großer Mehrheit den unbefristeten Generalstreik. Er begann am 11. November um Mitternacht und dauerte bis zum 14. November. In diesen drei Tagen war das Land völlig lahmgelegt. Die Privatbetriebe mußten schließen; wenn sie es nicht taten, sorgten die streikenden Arbeiter dafür. Wir Basler Jungsozialisten hatten uns begeistert in den Kampf gestürzt; mit Arbeitern zusammen legten wir Betriebe still, wo Ängstliche noch zu arbeiten versuchten. Dabei kam es oft zu Schlägereien mit Arbeitswilligen, der Polizei und einer vom Bürgertum rasch improvisierten Bürgerwehr. Ansammlungen waren verboten. Auf Lastwagen sausten schnapsbeflügelte Soldaten durch die Straßen, meist Bauern aus der Innerschweiz. Sie zögerten keinen Moment, auf Menschenansammlungen zu schießen. Die Basler Bürgerwehr bestand zumeist aus Studenten, die für Ruhe und Ordnung sorgen wollten. Für kurze Zeit sah man die jungen Leute im Schmuck weißer Armbinden die Straßen fegen und versuchen, eine Müllabfuhr zu organisieren. Der Spuk dauerte nur kurz; denn obwohl die Menge in den Straßen zuerst ihr helles Vergnügen an den akademischen Gassenkehrern hatte, wurde es den Streikenden bald zu bunt, und sie verjagten die Bürgerwehr. Vor der Seidenfabrik von der Mühl in der Schanzenstraße massierte sich eine Zahl streikender Arbeiter, da das Gerücht ging, es werde hinter verschlossenen Türen gearbeitet. Die Streikenden verlangten Eintritt, um sich Gewißheit zu verschaffen, aber die Pforten blieben verriegelt. Einige Verwegene begannen die Türen aufzubrechen, als plötzlich Gesang ertönte. Den Klingelberg herunter kam in wohlgeordneter Reihe, Studentenmützen auf dem Kopf, Stöcke geschultert, eine Gruppe von fünfzig Bürgerwehrlern heranmarschiert, fröhliche Studentenlieder singend. Das war zuviel. Ein kurzes Zögern, dann stürzten sich die Arbeiter auf die Studenten und schlugen sie in einem wilden Handgemenge bös zusammen. Stöcke, Mützen, Armbinden und Studentenfräcke blieben als Trophäen in den Händen der Sieger. Die Bürgerwehrler flüchteten sich ins nahe Frauenspital, selbst im daneben gelegenen Zuchthaus fanden sie Unterschlupf. Bei der Prügelei hatte ich kräftig mitgeholfen und einen Stock erbeutet. Es war ein hohler, schwarz gestrichener, mit nassem Sand gefüllter Blechstock. Der Generalstreik fiel langsam in sich zusammen. Die Richtungskämpfe im Oltener Aktionskomitee, in den Gewerkschaften und der Partei verschärften sich, der gewerkschaftliche Flügel suchte nach einer Verständigung und war für Streikabbruch. Die Uneinigkeit blieb der Regierung nicht verborgen, zumal sich die sozialdemokratische Nationalratsfraktion nicht offen zu der streikenden Arbeiterschaft zu bekennen wagte. Von einer Verständigung wollte der Bundesrat nichts wissen und verlangte vom Aktionskomitee ultimativ die sofortige Beendigung des Streiks. Die Mehrheit des Aktionskomitees kapitulierte (gegen die Stimmen von Robert Grimm und Friedrich Schneider) und blies zum Rückzug. Die Amnestie, die sich einige der Gewerkschaftsführer ausgerechnet hatten, blieb allerdings aus. Das Bürgertum wollte seine Rache, und so erhielten die meisten Mitglieder des Oltener Aktionskomitees Freiheitsstrafen.

Das Oltener Aktionskomitee hatte zwar ganz wider seinen Willen drei Tage lang die zweite Landesregierung gespielt, nie aber die Absicht gehegt, die Macht zu ergreifen. Dazu fehlten alle Voraussetzungen, die Bereitschaft der Massen, Ziel und Wille der Führer. Die werktätige Bevölkerung hatte den Landesstreik nie als eine revolutionäre Aktion aufgefaßt. Er war ein spontaner Ausbruch der allgemeinen Unzufriedenheit, dem sich die Arbeiterorganisationen und ihre Instanzen anschließen mußten.

Der geistige Führer der Sozialdemokratie, Robert Grimm, erklärte in seiner Verteidigungsrede vor Gericht: «Das Aufgebot der Truppen in Zürich gegen die streikenden Arbeiter provozierte den Proteststreik der Zürcher Arbeiterunion. Aus ihm geht hervor, daß nicht der geringste Versuch zu einer gewalttätigen Erhebung vorlag.» Das trifft zu. Die geistigen Urheber des Landesstreiks saßen im Bundeshaus, waren jene sturen, konservativen Bürger, denen jeder Fortschritt nur im schärfsten Kampf abgerungen werden kann.


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