Am 30. September fiel Toledo, der Alcazar war befreit. In regelloser Flucht zogen sich die Milizionäre auf die Hauptstadt zurück. Die Franco-Truppen, voran Marokkaner und Fremdenlegionäre, näherten sich unaufhaltsam Madrid; die feindlichen Flugzeuge, unbehindert, begannen die Stadt zu bombardieren. Die ersten Fliegerangriffe richteten heillose Verwirrung an, die Sirenen heulten, die Menschen flüchteten in ihre Keller oder in die U-Bahn. Eine nennenswerte Flugabwehr existierte noch nicht, die wenigen veralteten Flugzeuge, die den Kampf mit den deutschen und italienischen Fliegern aufnahmen, waren Todeskandidaten. Durch die Stadt rasten Feuerwehrautos, Ambulanzen, in zahlreichen Stadtteilen brannten Häuser. Mit einigen Journalisten stiegen wir auf das Dach unseres Hotels, um den wenigen Luftkämpfen zuzusehen, was man uns bald verbot.
Anfang Oktober wurden wir ausländische Journalisten beim gemeinsamen Abendessen von einem heftigen Fliegerangriff überrascht. Pausenlos Einschläge in der nächsten Umgebung. Das große Gebäude zitterte, Fenster barsten, alles sprang verstört und bleich auf. «In den Keller, rasch», riefen einige. «Nein, sitzen bleiben, Ruhe bewahren», schrien andere. Manche verschwanden im Keller, die Mehrzahl harrte auf ihren Stühlen still und bedrückt des nächsten Einschlags. Bleich, nervös, sein Taschentuch zwischen die Zähne geklemmt, wanderte Franz Borkenau zwischen unseren Tischen und der Kellertür hin und her. Dann entwarnten die Sirenen. Wir stürzten hinaus; in der Nähe brannten mehrere Häuser. Vor einem Lebensmittelgeschäft war eine Bombe mitten in eine Schlange von Frauen und Kindern gefallen, grünlich-gelb lagen die Leichen auf dem Bürgersteig und der Straße. Verwundete jammerten und schrien, dichte Rauchwolken wogten über den Häusern. Feuerwehr, Sanitäter und Freiwillige arbeiteten fieberhaft. Hilflos standen wir dem Leid und Tod gegenüber.
Mit Gomez, einem der Leiter der Madrider POUM-Organisation, hatten wir Freundschaft geschlossen. Kaum vierundzwanzig Jahre alt, Madrilener, gelernter Metallarbeiter, hatte er viel für die Aufstellung einer schlagfertigen Milizabteilung geleistet, die vor Madrid kämpfte. Bei der Niederschlagung der Militärrevolte in Madrid war es der POUM gelungen, ein Hochhaus in der Stadt zu besetzen, in dem sich eine Sendestation befand. Mit Hilfe dieses Senders gab die POUM Nachrichten ins Ausland durch und stellte die Entwicklung des Bürgerkrieges von ihrem Standpunkt aus dar. Der Sender war den Kommunisten und der Regierung ein Dorn im Auge. Mehrmals versuchten die Kommunisten, ihn durch Überfall zu kapern, was dank der Wachsamkeit der Besatzung mißlang.
Wir schlugen Gomez vor, über den Sender auch Texte in deutscher und französischer Sprache ins Ausland zu funken. Ein polnischer Trotzkist, der seit wenigen Tagen in Madrid weilte, wollte Berichte in polnischer Sprache beisteuern. Wir einigten uns mit Gomez über den Inhalt, und Clara sprach in Deutsch und Französisch die von mir verfaßten Sendungen.
«Hier Madrid, Radio POUM. An alle, alle.» Darauf folgte eine genaue Darstellung der Lage Madrids, ein Appell an die Solidarität der ausländischen Arbeiter. Der Hauptparole der Kommunisten: «Erst den Krieg gewinnen, dann die Revolution machen», stellten wir die Losung gegenüber: «Durch die Revolution den Krieg gewinnen.» Schon die ersten zwei Sendungen wirkten. Beim Abendessen der Korrespondenten tobten Regler, Stern und andere Parteitreue wütend gegen den «verräterischen trotzkistischen» Sender.
«Dieses Weib gehört an die Wand gestellt, wir werden sie noch erwischen, mit dieser konterrevolutionären Station räumen wir auf!» schrie Stern außer sich. Wir stocherten schweigend in unseren garbanzos (Knallerbsen). Bei einer unserer Sendungen organisierten die Kommunisten wieder einen Überfall auf das Hochhaus. Wir konnten das Haus nicht verlassen, am Eingang hatte sich die POUM-Wache verbarrikadiert und schoß sich mit den Angreifern herum. Sie kamen nicht durch und traten den Rückzug an.
Als wir eines Tages mit dem Lift in den Senderaum hinauffuhren, stieg mit uns Michael Kolzow ein. Er erkannte uns nicht, verließ den Aufzug einige Stockwerke tiefer. War es Zufall? Oder kundschaftete Moskaus offizieller Berichterstatter den Ort aus?
Aranjuez
Auf der Zensur und im Hotel Gran Via, wo er ebenfalls logierte, lernten wir den Deutsch-Russen Rodolfo Selke kennen. Seine vielseitige Sprachbegabung prädestinierte ihn zum Zensorenamt. Sowohl dienstlich wie im persönlichen Verkehr war er ein umgänglicher Mensch. Seit einigen Tagen fand Clara in ihrem Hotelfach jedesmal entweder ein Bündel Spargel oder eine Tafel Schokolade, wahre Leckerbissen in der belagerten Stadt. Der aufmerksame Spender blieb nicht lange unbekannt, Selke war in Clara verliebt und machte daraus bald kein Geheimnis mehr.
Mit ihm und einem polnischen Journalisten beschlossen wir, nach Aranjuez zu fahren. Nach dem Fall Toledos hatte sich ein Teil der republikanischen Truppen nach Aranjuez abgesetzt und sollte jetzt neu organisiert werden. An einem herrlichen Herbsttag starteten wir. Unser Fahrer Jose hatte sich inzwischen an unsere Frontsucherei gewöhnt. Durch Alleen hoher, sich leise im Wind wiegender Ulmen näherten wir uns dem alten, in ockergelben Farben gehaltenen Schloß. Am Algodor, einem Nebenfluß des Tajo, ist die neue Front, erzählten uns versprengte Milizionäre. Da wollten wir denn hin, an den Algodor. Zuvor wies man uns in den Schloßpark, wo ein Kommandoplatz bestehen sollte. Im weiten Park, unter Büschen und Bäumen, lagen und standen sie, die Geschlagenen von Toledo, ein buntgemischter verlorener Haufen. Einige Offiziere und Unteroffiziere der alten Armee versuchten, Ordnung herzustellen, die zerstreuten Verbände zu reorganisieren. Ein Leutnant, schwarze Binde über dem linken Auge, las von einer Liste langsam die Namen der Kolonnen ab: «Löwen von Valencia», «Schrecken der Sierra», «die Unbesiegbaren» antworteten durch Zurufe, stellten sich zusammen, ihre Ausrüstung wurde geprüft und ergänzt, Instruktoren übernahmen ihre Unterweisung. Der Leutnant lud uns ein, am Nachmittag an einer Kundgebung der Schriftsteller-Allianz im Schloß teilzunehmen. Der katholische Philosoph Jose Bergamin werde eine Vorlesung über Thomas von Aquino halten, der Schriftsteller Rafael Alberti Kriegsgedichte rezitieren und seine Frau Theresa Leon Märchen aus ihrem Kinderbuch vortragen. Wir schauten uns schweigend an, Clara schnitt eine Grimasse. War dazu Zeit? Wir wollten doch die neue Front sehen, wissen, ob sie bestand, ob sie hielt. Unser Zaudern und Widerstreben entging dem Offizier nicht. «Nun ja, Freunde, das würde Ihnen vielleicht helfen, alles besser zu verstehen, glauben Sie nicht? Sie sehen den Krieg aus einer anderen Perspektive, und das kann nie schaden, doch wie Sie wollen, Freunde.» Uns zog es an den Fluß, den Algodor, die neue Front. Wir fuhren weiter, durch langgestreckte Pappelalleen, die zum Schloß hinaufführten. Hinein in die kastilische Ebene, durch sanfte Hügelwellen, blühende und duftende Obstgärten. Kein Laut durchbrach die Morgenstille. Jose fuhr immer langsamer und vorsichtiger. An einer Wegkreuzung stand eine Tafel. Algodor, 500 Meter, stand da. Fluchend drehte Jose um, hastete zurück zum Wagen, kurbelte den Motor an und wendete. Wir stürzten in den Wagen, Clara, auf dem Trittbrett, schrie wütend auf Jose ein: «Die Front, wir wollen wissen, wo die Front ist!» Jose war bockbeinig, mochte nichts hören, nichts wissen, in diesem Moment haßte er uns, wollte zurück.
Im Schloßpark stand immer noch der Leutnant und rief Namen aus. Der weite Park hatte sich in ein wimmelndes Heerlager verwandelt; eine Feldküche rauchte, Milizgruppen exerzierten, Instruktoren erklärten den Mechanismus der Maschinengewehre, unterwiesen im Gebrauch der Handgranaten.
«Nein, zur Schriftstellertagung wollen wir nicht», antworteten wir auf eine nochmalige Einladung des Offiziers. Er blieb freundlich und zuvorkommend.
«Gehen Sie sich ausruhen. Lassen Sie sich in die Flußschenke fahren, da gibt es einen feinen Wein, einen guten kastilischen Schinken, so etwas finden Sie in Madrid nicht mehr.»
Jose saß mit einem Kollegen aus dem Kriegsministerium am Wegrand. Sie tranken ihren Wein, dazu ihre Choritza schmatzend. Unbekümmert wetteiferten sie, wer es besser verstehe, aus dem bauschigen Flaschensack den dünnen Weinstrahl in den offenen Mund spritzen zu lassen...
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