«Genossenschaft Kiste»
Schon bei meinem Parteiausschluß in Basel hatten sich junge Leute aus dem linksbürgerlichen Freibund für meinen Fall interessiert. Da es zumeist Studenten waren, luden sie mich zu einem Vortrag von Professor von Salis ein, in dem der Gelehrte die Existenz der Klassen und des Klassenkampfes bestreiten wollte. Darauf sollte ich erwidern und den marxistischen Standpunkt darlegen. Das gelang mir so gut, daß die Studenten einen weiteren Vortrag an der Universität organisierten, anläßlich dessen ich über Entstehung und Bedeutung der materialistischen Geschichtsauffassung sprechen konnte. Aus diesen Verbindungen erwuchs im Herbst 1934 nach unserer Rückkehr vom Balkan die «Marxistische Aktion». Neben den Studenten gesellten sich auch einige Arbeiter zur Gruppe, die mit der kommunistischen Politik nicht einverstanden waren, darunter der gebürtige Italiener und Steinmetz Oreste Fabbri. Wir nahmen mit der trotzkistischen Gruppe in Zürich Verbindung auf und fanden zu einer guten Zusammenarbeit. Einige von unserer Gruppe waren Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei und im damaligen linken Flügel tätig, der sich in der «Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft» organisiert hatte. Diese Linkssozialisten standen stark unter dem Einfluß des deutschen Emigranten Fritz Sternberg, eines vielgelesenen Wirtschaftstheoretikers und Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands. Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz begann zu jener Zeit langsam und zögernd ihre Wandlung von einer Oppositionspartei zu einer Regierungspartei. Die Partei hatte bisher, einer alten Tradition folgend, alle Militärkredite abgelehnt und wollte von der Verteidigung des Vaterlandes nichts wissen. Diese oppositionelle Haltung wurde nun von der Parteiführung unter Robert Grimm als überholt betrachtet. Angesichts der neuen Lage in Deutschland, die die schweizerische Unabhängigkeit unmittelbar bedrohte, hieß es, könne dieser Standpunkt nicht mehr vertreten werden. Aber große Teile der Mitgliedschaft wollten an der alten Tradition festhalten und sträubten sich gegen diese politische Wen dung. In der französischen Schweiz widersetzten sich namentlich Paul Graber und Leon Nicole einer Abkehr von der bisherigen Einstellung. Dies allerdings mit verschiedenen Motiven: Graber war überzeugter Pazifist und lehnte Militärkredite aus moralischen Grundsatzerwägun gen ab; Nicole blieb der alten Tradition treu und wollte von einer reformistischen Burgfriedenspolitik nichts wissen. Unter Sternbergs Einfluß wandte sich auch die «Sozialistische Arbeits gemeinschaft» gegen alle Versuche, die Partei auf den Burgfrieden mit der Bourgeoisie umzustellen. Unsere «Marxistische Aktion» hieb kräftig in die gleiche Kerbe. Um unseren Ideen Nachhall und Geltung zu verschaffen, gaben wir in Zusammenarbeit mit der Zürcher Gruppe monatlich das Blatt «Trotz Alledem» heraus. Gedruckt wurde es in Mülhausen, da dort die Kosten wesentlich niedriger waren. Einige Flugblätter ließen wir auch in der kleinen Druckerei von Gustav Hofmaier herstellen. Durch einen Jugendgenossen hatten wir in der Davidsbodenstraße eine Dreizimmerwohnung gefunden. Das ganze Haus war seiner Familie durch Erbschaft zugefallen; undurchsichtige Erbschaftsstreitigkeiten verhinderten sowohl das Vermieten wie den Verkauf des Hauses. «Bis wir uns geeinigt haben, könnt ihr ruhig die ganze Wohnung benützen, ihr braucht keine Miete zu bezahlen», versicherte unser Freund. So zogen wir als einzige «Mieter» in das leerstehende Haus und belegten den ersten Stock. Aus Harassen und Kisten zimmerten wir uns einige Möbel, was uns den Spitznamen «Genossenschaft Kiste» eintrug. Wir beherbergten im Haus zahlreiche deutsche Emigranten, die zu uns zum Essen kamen, mit unseren Ideen sympathisierten und teilweise auch mitarbeiteten. Als Notstandsarbeiter hatte ich beim Straßen- und Wegebau eine recht schwere Beschäftigung gefunden. Clara machte Büroräume sauber.
Im Herbst 1934 erschien bei uns unverhofft Jan Frenkel, Trotzkis Sekretär in Prinkipo (Türkei). Frenkel war Tscheche, sprach fließend Deutsch, Französisch, Russisch, Englisch und war ein umgänglicher, fröhlicher Mensch. Wir logierten ihn sofort für einige Wochen bei uns ein. Er brachte mir einen handschriftlichen Brief von Trotzki, in dem er die Gründe darlegte, warum für die Anhänger der IV. Internationale der Eintritt in die Sozialdemokratische Partei politisch zweckmäßig sei. (In den turbulenten Kriegsjahren ging der Brief leider verloren.) Nach langen Unterhaltungen mit Frenkel sowie einer offenen Aussprache in der Gruppe beschlossen wir den Eintritt in die Sozialdemokratische Partei unter Aufrechterhaltung der «Marxistischen Aktion». Der Beitritt vollzog sich ohne Schwierigkeiten, jeder einzelne wurde im zuständigen Quartierverein aufgenommen. Auf eine wirklich fraktionelle Tätigkeit hatten wir es nicht abgesehen. Wir wollten den linken Flügel stärken und die sich abzeichnende Burgfriedenspolitik in Partei und Gewerkschaften bekämpfen. Seit fast fünfzehn Jahren war die Arbeiterschaft Basels gespalten. Die verheerende Politik der Moskauhörigkeit und die Gewerkschaftsspaltung hatten die anfänglichen Erfolge der Kommunistischen Partei wie Märzenschnee dahinschmelzen lassen. Die kommunistischen «Roten Gewerkschaften» blieben Krüppelorganisationen, die alten Gewerkschaften standen weiterhin unverrückbar unter sozialdemokratischem Einfluß, im kantonalen Parlament war die Fraktion der Kommunisten lebensunfähig und attackierte zuerst nicht etwa das Bürgertum, sondern die Gewerkschaften und Sozialdemokraten. Das Basler Bürgertum wollte diesen Krieg in der Arbeiterschaft zu seinen Gunsten ausnutzen und die sozialdemokratische Vertretung im Regierungsrat reduzieren. Ihre Hauptangriffe zielten gegen den sozialdemokratischen Erziehungsdirektor Fritz Hauser, dessen fortschrittliche Erziehungs-Schulpolitik ihnen längst ein Dorn im Auge war. Auf diesen Versuch, einen Sozialdemokraten zu stürzen, antwortete die Sozialdemokratische Partei mit einem kühnen Gegenstoß. Angefeuert von Friedrich Schneider, einer echten Kämpfernatur, beschloß die Partei den Griff nach der Mehrheit. Es entwickelte sich eine einzigartige Kampfsituation, in der es galt, klar Stellung zu beziehen. Nach einigem Widerstreben - der Kremlwind blies jetzt in Richtung Einheitsfront - mußte die Kommunistische Partei mitmachen; der Kampfgeist der Arbeiter riß auch ihre Anhänger mit. Da der allbürgerliche Vorstoß mit einem Lohnabbau beim Staatspersonal verbunden war, half der soziale Aspekt des Wahlkampfes breitere Schichten zu mobilisieren. Unsere Gruppe trat sofort tatkräftig für die Eroberung der roten Mehrheit ein.
Die der Arbeiterschaft verhaßten bürgerlichen Vertreter waren der Katholik Niederhauser und Professor Ludwig, der die Interessen der liberalen Partei vertrat. Gegen diese beiden reaktionären Bourgeois richtete sich der Hauptangriff.
Mitten im Wahlkampf erhielt ich von den zahlreichen, bei uns verkehrenden deutschen Emigranten Mitteilungen über enge Beziehungen Professor Ludwigs zu deutschen nationalsozialistischen Kreisen. Bei ihm gingen Personen ein und aus, die entweder Nazis waren oder mit diesen offen sympathisierten, wobei es nicht klar war, ob es sich dabei um verwandtschaftliche oder politische Beziehungen handelte. Das Material genügte jedenfalls, um die exponierte Persönlichkeit heftig unter Beschuß zu nehmen. Ich schrieb einen längeren, groß aufgemachten Artikel und brachte ihn persönlich auf die Redaktion der sozialdemokratischen «Arbeiterzeitung». Friedrich Schneider befand sich in Bern im Nationalrat, sein Stellvertreter war Ernst Weber. Er erkannte sofort die Bedeutung des Artikels für den wildwogenden Wahlkampf, wollte aber allein nicht die Verantwortung übernehmen. In meiner Anwesenheit telefonierte er nach Bern, las Schneider die wichtigsten Stellen vor und erhielt unverzüglich dessen Einverständnis zur Veröffentlichung. Mein Elaborat war mit «Marxistische Aktion» gezeichnet, was dem stellvertretenden Redakteur mißfiel. Weber drang in mich, diese Unterschrift wegzulassen oder den Artikel persönlich zu unterzeichnen. Ich lehnte ab, und schließlich verzichtete Weber, da ja der Hauptredakteur seine Einwilligung erteilt hatte. Der Artikel erschien auf der ersten Seite der «Arbeiterzeitung» und darüberhinaus als Sondernummer des «Volkswillen», eines sozialdemokratischen Wahlblatts, das gratis an 40 000 Haushaltungen der Stadt verteilt wurde. Dieser Angriff wirkte wie eine Bombe, und da er am Freitag vor dem Wahlgang erfolgte, konnte das Bürgertum ihn auch nicht mehr abwehren. Der belastete Professor Ludwig berief am Samstagmorgen noch rasch eine Pressekonferenz ein, auf der er die ganze Sache als üble Verleumdung bezeichnete und verkündete, er werde den Verfasser des Artikels verklagen. Doch den Wahlgang beeinflußte das kaum mehr. Aus der Stimmenschlacht ging eine eindeutige sozialdemokratische Mehrheit hervor. Der Katholik Niederhauser war auf der Strecke geblieben. In einem Abwehrreflex hatten viele bürgerliche Wähler für den so befehdeten Ludwig votiert. Unser Eingreifen in den Wahlkampf hatte zweifellos zum Sieg an den Urnen beigetragen. Das wurde selbst von einem Teil der sozialdemokratischen Führung und der Mitgliederschaft anerkannt, wiewohl nie offiziell bestätigt. Die Eroberung der roten Mehrheit löste in der Basler Arbeiterschaft Begeisterungsstürme aus. Am Montag nach dem Wahlkampf flatterte auf dem höchsten der beiden Münstertürme die rote Fahne.
Sofort nach der Wahl übernahm ich die Verantwortung für den Artikel. In der darauffolgenden Gerichtsverhandlung wurde ich zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt. Für die erhobenen Anschuldigungen konnte ich die Beweise nicht erbringen, denn meine Quellen stammten aus Emigrantenkreisen, die ich aus verständlichen Gründen nicht preisgeben durfte. Das hatten wir beim Publizieren des Artikels auch einkalkuliert.
Bei der Gerichtsverhandlung kam es zu einem amüsanten Zwischenfall. Der Gerichtspräsident, ein Dr. Ruckhäberle, war für seine deftigen Urteile bekannt. In eingeweihten Kreisen munkelte man, diese Urteile seien jeweils Funktion seiner Gicht, von der er geplagt wurde. Gicht oder nicht, der Präsident behandelte mich, einen Bauhandlanger, derart schofel, daß ich in Wut geriet. Der beschwerdeführende Professor Ludwig wurde jedesmal mit allen ihm gebührenden Amts- und sonstigen Titeln angeredet, mir gewährte der Präsident nicht einmal das übliche Herr, sondern knurrte einfach: «Thalmann, stehen Sie auf.» Das reizte mich. Beim dritten Aufruf antwortete ich lakonisch: «Jawohl, Ruckhäberle.»
Das Gesicht des Präsidenten wurde rot wie eine Tomate, er schnappte nach Luft und fand mit Mühe seine Fassung. Auf der Tribüne er tönte lautes Gelächter und Bravorufe. Wütend drohte der Präsident mit der Räumung der Tribüne; im weiteren Verlauf der Verhand lungen nannte er mich dann «Herr Thalmann». Nun ja, meine zehn Tage hatte ich weg.
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