Der von Marschall Petain abgeschlossene Waffenstillstand fand die einhellige Zustimmung des Volkes. Eine Fortsetzung des Krieges schien jedermann aussichtslos; es gab keine Armee mehr, keine Regierung, der Verwaltungsapparat war auseinandergebrochen. Der Waffenstillstand blieb trotz seiner harten Bedingungen die einzige Lösung, die das Land vor dem Zusammenbruch und der totalen Besetzung durch Hitlers Truppen bewahrte. Mit der Bildung der Regierung in Vichy blieb der südliche Teil des Landes unbesetzt, Frankreichs Flotte blieb erhalten, die Kolonien entzogen sich dem Zugriff des Feindes. Gab es Unentwegte, die an eine Fortsetzung des Krieges glaubten, so blieben sie vereinzelt, als psychologischer oder politischer Faktor traten sie nicht in Erscheinung. Von einem Widerstandswillen der Bevölkerung war keine Spur vorhanden. Die Autorität von Marschall Petain war unbestritten, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stand hinter ihm.
Für die Heimkehrer vom Exodus bot Paris ein veränderts Bild. Überall deutsche Truppen, deutsche Wegbeschriftungen, Soldatenheime und Soldatenkinos, an den Plakatwänden prangten Bekanntmachungen der Kommandantur in französischer und deutscher Sprache. Täglich zogen in ihrem zackigen Marschtritt deutsche Abteilungen mit klingendem Schalmeienspiel durch die Straße; noch öfters sangen die jungen Soldaten ihre sentimentalen Lieder in einem wie vom Fleischhauer gehackten Stil:,, In der Heide steht ein blaues Blümelein, und das heißt Erika” ... Die Pariser bestaunten und begafften diese marschierenden Abteilungen mit den widersprechendsten Gefühlen. Der häufigste Kommentar hieß: „Ils sont culottes, lesgars.”1 Die meisten Fabriken waren noch geschlossen, ebenso zahlreiche Geschäfte und Restaurants. Nur wenige Postbüros waren geöffnet, es dauerte noch Tage, bis der Postbetrieb wieder langsam funktionierte. Im Ganzen sah die Stadt noch leer und tot aus. In unserer kleinen Wohnung war alles unverändert, ohne Clara war sie leer und ungemütlich. Arbeit hatte ich keine, auch keine Aussicht, welche zu finden. Glücklicherweise war mir von unserer Barschaft genug geblieben, um einige Wochen durchzuhalten.
Täglich ging ich dreimal zum Bahnhof Austerlitz, wo die Züge der Heimkehrer eintrafen. Vom Morgen bis zum Abend umlagerte eine dichte Menschenmenge die Bahnhofsausgänge, Tausende warteten ängstlich hoffend auf die Ankunft von Verwandten und Bekannten. Es gab rührende Szenen des Wiedersehens von Familienangehörigen, die sich auf der Flucht verloren hatten. Clara war nie unter den Ankömmlingen; während einer langen Woche kehrte ich jeden Abend allein und enttäuscht in mein Zimmer zurück. Langsam nahm das Pariser Straßenbild wieder ein normales Gesicht an. Die Geschäfte und Restaurants öffneten, es gab wieder Lebensmittel. In den Restaurants durfte jedem Kunden nur eine Platte serviert werden; um den Hunger zu stillen mußte man mindestens in zwei Restaurants gehen. Nun schrieb ich in alle Welt Briefe, um über Clara's Verschwinden zu berichten. Eine erste Antwort kam ... aus Amerika. Natürlich wußten die Freunde nichts, versuchten aber, mich zu trösten. Auf der schweizerischen Gesandschaft hatte ich mich gemeldet und um Nachforschungen gebeten. Nochmals vergingen einige Wochen, bis von der Gesandschaft die Nachricht eintraf, Clara befinde sich wohlbehalten in Bordeaux. In einigen Tagen wollte sie wieder in Paris sein, sofern es die Transportmöglichkeiten erlaubten. Nach einer Woche traf sie endlich ein, in einem Auto, frisch, von der Sonne gebräunt, in bester Gesundheit.
Nach unserer Trennung bei Etampes war sie glücklich auf ihrem leeren Tankwagen in Orleans angelangt. Auch unsere Reisebegleiter, der Fahrradmann und seine Frau, doch zogen die beiden rasch weiter. Clara blieb am Bahnhof sitzen und wartete auf mich. Da ich auch am zweiten Tag nicht eintraf, wurde sie unruhig; nun kritzelte sie mit einem Stück Kreide eine Nachricht für mich an die Bahnhofswand. Die deutschen Flugzeuge bombardierten in regelmäßigen Abständen, der Bahnhof wurde einige Male leicht getroffen. Die Gendarmen trieben immer wieder die herumirrenden Menschen weg mit der Drohung, die deutschen Truppen seien im Anzug, die Loirebrücken würden gesprengt. Schweren Herzens machte sie sich allein auf den Weg. Noch am Bahnhof hatte sie ein herrenloses Fahrrad gekapert, auf dem sie Richtung Bordeaux losradelte. Sie kam wohl rascher vorwärts, versteckte sich aber dauernd vor den deutschen Flugzugen, die immer wieder den Flüchtlingsstrom angriffen. Nur durch viel Glück entkam sie einigen Beschießungen und kam heil in Bordeaux an. Die in Eile erstellten Flüchtlingsunterkünfte waren überfüllt, für eine Frau allein wenig ratsam. Sie suchte das schweizerische Konsulat auf, eine bessere Unterkunft erhoffend und eine kleine Hilfe für den täglichen Lebensbedarf. Sie machte dort die Bekanntschaft des Vizekonsuls und fand in seiner Familie Aufnahme. Auf diesem Wege gelang es ihr, mir eine Botschaft zukommen zu lassen. Mit einer in Paris ansässigen Schweizer Familie konnte sie dann die tagelange, mühselige Fahrt zurück nach Paris antreten. Unsere Geldmittel waren erschöpft. Verdienst hatten wir beide nicht, dafür aber Arbeit in Hülle und Fülle. Frankreichs Zusammenbruch hatte einen Teil der deutschen und spanischen Internierten befreit. Diese Menschen hielten sich nun in der unbesetzten Zone des Landes auf. Aller Mittel und Gegenstände des täglichen Gebrauchs entblößt, versuchten sie wenigstens einen Teil ihres Eigentums zurück zu kriegen. Beinahe täglich erhielten wir Briefe von Freunden, Bekannten und Unbekannten, die uns baten, ihre Wohnungen aufzusuchen, ihnen die wichtigsten Sachen zuzusenden. In diese Wohnungen zu gelangen war nicht einfach. Die deutschen Besatzungsbehörden hatten sofort alles jüdische Eigentum unter Sequester gestellt, viele der Wohnungen waren bereits versiegelt, insbesondere diejenigen politischer Emigranten. Die deutsche Polizei war mit ihren Fahndungslisten nach Frankreich gekommen und war über Leben und Wohnverhältnisse der deutschen Emigranten ziemlich genau unterrichtet. In vielen Wohnhäusern brauchte ich langwierige Verhandlungen entweder mit dem Hausbesitzer, meist mit dem Gerante, um die Wohnungsschlüssel zu kriegen. War ein Teil der Hausbesorger verständnisvoll, so weigerten sich die meisten, die Wohnungen zu öffnen; die Leute hatten Angst. Wieder andere verschanzten sich hinter der Begründung, die rückständige Miete sei nicht bezahlt, wo sie mir die Wohnung öffneten, waren sie dabei und servierten sich ab, was ihnen wertvoll erschien, sie betrachteten die zurückgelassenen Sachen als „herrenloses Eigentum”. Ich spezialisierte mich auf das Ausräumen von Emigrantenwohungen und konnte in vielen Fällen den Leuten das Allernotwendigste schicken. Die Frachtkosten mußten wir jedesmal durch den Verkauf einiger der Sachen decken. Wochenlang fuhr ich mit einem Zweiräderkarren kreuz und quer durch Paris, spedierte Koffer, Kisten und Pakete in die freie Zone. Das Verdienstproblem wurde dadurch für uns umso dringlicher. Durch eine Schweizer Studentin, die in ihren Universitätsferien in einer französischen Fabrik als Übersetzerin gearbeitet hatte, erhielt Clara deren Stellung. Es war eine große Holzfirma in Ivry, die zur Hälfte von den Besatzungstruppen requiriert war. Der jüdische Unternehmer war geflohen, sein Geschäft hatte er französischen Angestellten überschrieben, zwei ehemaligen Frontkämpfern des ersten Weltkrieges. Clara spielte den Dolmetscher über Lohnprobleme und Geschäftsführung zwischen der Firma und den deutschen Offizieren. Angestellt war sie von der französischen Geschäftsführung. Der Verdienst war gering, half aber über die erste Zeit hinweg. Sie geriet mit einigen der deutschen Offiziere, die in der Firma wie Eroberer hausten, rasch in harte Konflikte. In unserem Wohnhaus in der rue Bellier de Douvre im 13.Bezirk hatten neben unserer Einzimmerwohnung deutsche Emigranten gewohnt. Die Räumung dieser Wohnung, zu der ich die Schlüssel besaß, hatte ich bisher hinausgeschoben. Unser kleines Zimmer war dauernd mit Koffern und Paketen verstopft. An einem Augustmorgen vom Bahnhof zurückkehrend traf ich auf zwei Männer vor unserer Wohnungstür. Die Filzhüte mit Gemsbart, die Kleidung und die Gesichter ließen keinen Zweifel aufkommen, wer diese Besucher waren. Die zwei Männer waren eben im Begriff, meine Visitenkarte an der Türe zu entziffern. „Sind Sie Herr Sommermeyer?”, fragte der eine. Ich verneinte und wies mich aus.
„Ach, Sie sind Schweizer, können wir vielleicht einen Moment bei Ihnen eintreten und Sie um ein paar Auskünfte bitten?”. „Sie sind deutsche Polizeibeamte?” „Jawohl.”
„Ich bin Schweizer Bürger und will keine Polizei in meiner Wohnung, weder deutsche noch andere”. „Na, hören Sie mal, freundlich sind Sie gerade nicht. Wir wollen einige Fragen an Sie stellen. Das ist alles”. „Bitte, fragen Sie hier”.
Zähneknirschend, rot vor Wut, bequemten sie sich. „Wo ist dieser Herr Sommermeyer und seine Frau?”
„Sie sind beide schon längst im Internierungslager”. „ Wissen Sie in welchem Lager?”.
Mißmutig polterten sie die Treppe hinunter. Hätten sie in unserem Zimmer die vielen Koffer erblickt, wäre auch ihnen ein Licht aufgegangen.
Am nächsten Morgen räumte ich die Wohnung der Sommermeyer aus, da die Beamten ihr Wiederkommen angezeigt hatten. Kaum war ich einige Minuten in der Wohnung der internierten Freunde, pochte es kräftig an der Türe, die ich vorsorglich hinter mir abgeschlossen hatte. Ich verhielt mich mäuschenstill, vor der Tür hörte ich deutsche Laute. Wenn das die deutschen Beamten wa ren von gestern, saß ich schön im Dreck. Die Deutschen diskutierten schwerfällig mit der Concierge, die lachend und glucksend versuchte, ihnen verständlich zu machen, sie besäße keinen Schlüssel. Ich hörte wie sie von ihr einen Schlosser verlangten, um die Türe zu öffnen und mit der Frau weggingen. Wie der Blitz ver schwand ich mit den letzten Habseligkeiten meiner Nachbarn in unserem Zimmer. Zehn Minuten später klopften sie bei mir. Es waren zwei neue Beamte, die mich als Übersetzer anforderten. Sie hatten einen Schlosser bei sich, der ihnen die Tür der Sommermeyer öffnete. Da sie in der leeren Wohnung nichts mehr fanden, zogen sie brummend ab.
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