Revolution für die Freiheit


Arbeiterstudent in Moskau von 1925 bis 1928



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Arbeiterstudent in Moskau von 1925 bis 1928


Die Kommunistische Partei der Sowjetunion hatte seit einigen Jahren in Moskau eine Universität für die nationalen Minderheiten des Westens eingerichtet. Der Kommunistischen Partei der Schweiz standen drei Plätze pro Jahr zu. Die ersten Studenten, der Berner Robert Krebs, Bernhard Ensner aus Basel und Jakob Jäggin aus Zürich, waren alle drei durch die Schule der Jugendbewegung gegangen. Beim Zentralkomitee der Partei bewarb ich mich um einen Platz und wurde zusammen mit Hermann Erb aus Schaffhausen und Ernst Uli aus Zürich ausgewählt.

Meine dritte Reise nach Moskau erfolgte zu Schiff von Stettin über Leningrad, wo ich einen eintägigen Aufenthalt zur Besichtigung der Stadt nutzte.

Sofort nach unserer Ankunft in Moskau wurden wir in die Universität geführt und alle drei in einem riesigen Schlafsaal mit vierzig Betten untergebracht. Schon am zweiten Tag standen wir drei vor unseren Examinatoren. Der übliche Lehrgang an der Universität dauerte fünf Jahre. Die ersten zwei Jahre wurden Grundfächer wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Russische Sprache und Russische Geschichte unterrichtet. Diese zwei, wenn man will, Primärschuljahre waren durchaus notwendig. In der deutschen Abteilung, der wir zugewiesen wurden, bestand die Mehrheit der Studenten aus deutschen Kolonisten aus Sibirien, dem Kaukasus und der deutschen Wolgarepublik. Ihres niedrigen intellektuellen Niveaus wegen mußten sie beinahe alle ganz von unten anfangen. Mit uns Westlern ging es besser. Die Examinatoren prüften hart. Erb über die Mehrwerttheorie, Uli über die Grundrente, mich über dialektischen Materialismus. Unsere Antworten müssen ausgereicht haben, denn man ließ uns die ersten zwei Jahrgänge überspringen und gleich ins dritte Jahr eintreten.

Lehrfächer des dritten Schuljahres waren Russische Sprache, Mathematik, Biologie, Geschichte der Arbeiterbewegung und Wirtschaftsgeographie. In den zwei nachfolgenden Jahren wurden wir in Sowjet wirtschaft, materialistischer Geschichtsauffassung, politischer Ökonomie und in Dialektik unterwiesen. Die Universität, ein ehemaliges Institut für höhere Töchter, lag nur wenige Straßen hinter der Twerskaja, einer Hauptstraße Moskaus. Ungefähr achthundert Studenten waren teils im Universitätsgebäude, teils in oft weit abgelegenen Gebäuden untergebracht. Die älteren Jahrgänge durften in Zimmern mit nur drei oder vier Betten hausen, die ersten Jahrgänge mußten mit den großen Schlafsälen vorliebnehmen. Ein Drittel der Studierenden setzte sich aus Frauen zusammen, die streng getrennt von den Männern in besonderen Abteilungen der Universität wohnten. Ein riesiges Refektorium diente als Speisesaal; ferner existierten da einige Lesesäle, kleine Studierzimmer und umfangreiche Bibliotheken in allen Sprachen.

Die Studenten waren in nationale Sprachgruppen eingeteilt, die deutsche, jüdische, polnische, bulgarische, baltische, rumänische und jugoslawische Sektion. Alle Studenten gehörten entweder der kommunistischen Partei oder dem Jugendverband an. Die Mitgliedschaft in der russischen Partei oder im russischen Jugendverband war obligatorisch. Der Name der Universität täuschte: Es gab nämlich gar keine «nationalen Minderheiten des Westens» im strengen Sinne des Wortes; Bulgaren, Jugoslawen, Rumänen und andere als nationale Minderheiten zu bezeichnen, war schlechtweg Ausdruck großrussischer Politik. Nach der hier praktizierten, einfachen Unterrichtsmethode führte der vortragende Lehrer in das betreffende Fach ein und gab die einschlägige Literatur an, die sich jeder in der Bibliothek beschaffen konnte. Zweimal in der Woche stand der Lehrer den Studenten zur Verfügung, man konnte ihn aufsuchen, ausfragen, konsultieren, sich anleiten lassen. Je nach Bedarf oder Übereinkunft mit dem Lehrer kam die ganze Abteilung mit ihm zu einer Diskussion des Themas zusammen. Die Debatten, Fragen, Problemerörterungen waren meist sehr lebhaft. Vierteljährlich erfolgte eine Art Zwischenexamen, in dem die Arbeit der Studenten sowie die der Professoren kritisiert und geprüft wurde. Allzu lernfaule Studenten wurden verwarnt und in besonders krassen Fällen in die Fabrik geschickt. Mit den Professoren gingen die Studenten hart ins Gericht; sie beleuchteten und bekrittelten die Arbeitsmethoden und Leistungen der Pädagogen. Im Verlaufe der drei Jahre wurde in der deutschen Abteilung auf unsere Kritik hin ein halbes Dutzend Lehrer ausgewechselt, weil sie unseren Anforderungen nicht genügten.

Im allgemeinen waren unsere Professoren — unter ihnen Russen, Ungarn, Deutsche — ausgezeichnet. Als Umgangssprache diente das Deutsche. In die Wirtschaftsgeographie führte uns der Ungar Bereny trotz seinem etwas gebrochenen Deutsch ganz hervorragend ein. Über Geschichte der Arbeiterbewegung referierte der Deutschrusse Luriel und im letzten Jahr Max Levien. Materialistische Geschichtstheorie trug der Ungar Rudas vor, ein souveräner Könner auf seinem Gebiet. Über Sowjetwirtschaft las der damalige Leiter der Staatsbank, Goldstein. Jeder dieser Professoren war als Parteimitglied außerhalb der Universität beschäftigt, jeder irgendwie in die Fraktionskämpfe der Partei verstrickt. Rudas gehörte zu einer Fraktion der ungarischen Partei, die mit der von seinem Landsmann Landler geführten Fraktion in offener Fehde lag, wobei sich diese Richtungskämpfe stets am Stand der russischen Parteidiskussion orientierten.

Mit Max Levien, der später (nach Rudas) über Dialektik referierte, verband uns drei Schweizer bald eine etwas engere Gemeinschaft. Dieser interessante Mann hatte als russischer Emigrant in Zürich studiert und sprach den Zürcher Dialekt geläufig. Als Teilnehmer an der bayrischen Räterepublik mußte er aus Deutschland fliehen und kehrte nach Moskau zurück. Nachdem das Eis gebrochen war, lud uns Levien oft zum Tee bei sich zu Hause ein. Da konnte man dann offen über die sich abzeichnende, verhängnisvolle Entwicklung sprechen. Levien machte kein Hehl aus seiner Opposition gegen die Stalinsche Politik, er sympathisierte mit den zahlreichen oppositionellen Strömungen, ohne sich endgültig mit einer zu identifizieren. Immer wieder schärfte er uns ein: «Stalin schreckt vor nichts zurück, er wird uns alle umbringen.» Levien konnte nur ahnen, daß seine Prophezeiung von 1927 in Erfüllung gehen würde, aber nicht wissen, welche ungeheuren Ausmaße der Mahlstrom der Tyrannei annehmen sollte, in dem auch er verschwand.

Die materielle Versorgung der Studenten war ziemlich dürftig, das Essen mehr als mittelmäßig: zum Frühstück Tee oder Kaffee, die schwer von einander zu unterscheiden waren, sowie Schwarzbrot mit Margarine und als Hauptnahrung noch immer die schwarze Kascha, serviert mit einigen etwas suspekten Fleischknödeln. Die Qualität des Essens wurde von den Studenten nicht beanstandet, hingegen führte die ganze Universität einen monatelangen Kampf gegen die Administration wegen des unsauberen, blechernen Eßgeschirrs, bis sich die Universitätsleitung endlich gezwungen sah, das Blechzeug durch Steingut zu ersetzen.

Einmal im Jahr bekam jeder Schüler einen Anzug aus einfachem, grauen Drillich, haltbar, aber nach des Teufels Maß zugeschnitten. Die fünf Rubel Taschengeld im Monat reichten nicht mal für Zigaretten. Bald machten wir es wie viele Studenten und versilberten den neuen Anzug auf dem Schwarzmarkt. Erwischen lassen durfte man sich nicht; ein ungeschriebener, aber strenger Parteikodex verbot jeden Schwarzhandel. Wer ertappt wurde, zog sich eine schwere Rüge der Parteizelle zu. Trotzdem konnte man auf der Sucharewka, dem riesigen Flohmarkt Moskaus, oft Mitschüler antreffen, die etwas zum Kauf feilboten, um ihr Taschengeld aufzubessern.

Im ersten Studienjahr schickte man die Studenten noch üblicherweise für einen Tag die Woche zur Fabrikarbeit. Wir drei Schweizer wurden einem großen Textilwerk zugeteilt, wo wir zum hellen Vergnügen der Arbeiter schwere Stoffballen herumschleppten. Besondere Vorliebe brachten uns die Arbeiter nicht entgegen, die «Intellektuellen» galten als Fremdkörper. Diese Fabrikarbeit wurde als Parteiarbeit bewertet, die für jedes Parteimitglied obligatorisch war.

Wir Westeuropäer in der deutschen Abteilung führten mit der Universitätsleitung einen langen, homerisch-tragikomischen Kampf um eine eigene, abschließbare, abgeschlossene Toilette. Die Aborte in der Universität waren kollektiv; auf jeder Wandseite des großen Raumes standen sechs Klosettbecken ohne Deckel. Da saßen die Jungen oft stundenlang, lasen die Zeitung, diskutierten, einige brachten es fertig, seelenruhig ein Sandwich zu verzehren. An diese Öffentlichkeit konnten wir uns nicht gewöhnen und zogen es vor, eine halbe Wegstunde ins Hotel «Lux», zu Schaffner oder zu Sigi Bamatter zu laufen. Nach einigen schriftlichen Eingaben an die Leitung der Uni empfing uns endlich die Rektorin Frumkina. Sie war uns von den allgemeinen Studentenversammlungen her bekannt und erfreute sich keiner besonderen Beliebtheit. Die Frumkina kam vom polnischen Bund, war nach der Revolution zur bolschewistischen Partei übergetreten und zeichnete sich jetzt durch speziellen Eifer aus. Mit einem sturen Fanatismus verteidigte sie in der Universität die Richtung der Stalinschen Mehrheit und verfolgte alle anderen Auffassungen mit tödlichem Haß. Auf unsere Einwendungen und den Vorschlag, zwei einfache Holzverschläge errichten zu lassen, ging sie nicht ein.

«Oh, ihr Deutschen habt andauernd irgendwelche Anliegen. Ihr müßt euch wie alle anderen an die hier herrschenden Sitten anpassen.» Damit wimmelte sie uns ab, doch wir gaben nicht nach. Als 1926 Fritz Wieser zu einer Sitzung der Exekutive kam, suchten Uli und ich ihn auf, um ihn zu einer Intervention von oben zu bewegen. Zuerst lehnte Wieser entrüstet ab: «Ihr seid wohl vollkommen verrückt, ich kann doch die Exekutive nicht für eure Scheiße mobilisieren!» Auf unsere eindringlichen Vorstellungen unternahm er aber doch bei irgendeiner Instanz Schritte, jedenfalls erhielten wir auf höhere Weisung ein eigenes Häuschen. Frumkina hat uns diesen «Sieg» über sie nie verziehen und schadete uns fortan, wo es nur möglich war.



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