... „sooo" weit weg und „sooo" eine Ausnahme ...
Ute Hölscher
Unsere erste Begegnung fand im Jahre 2000 telefonisch statt: Ich wusste, du hattest Erfahrungen in NRW gesammelt und bei mir stand ein Wechsel von Baden-Württemberg nach Nordrhein-Westfalen an. War eine Anstellung an einer Schule in NRW ratsam? In diesem Gespräch erlebte ich zum ersten Mal deine analytische Sichtweise, deine achtsamen und wertschätzenden Gedanken über andere Wege in unterschiedlichen Systemen sowie eine Offenheit mit konstruktiver und differenzierter Kritik über Einstellungen, Verfahren und Vorgehensweisen in einer Vielfalt von Ansätzen und Umsetzungen in der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. Ich war nach unserem Gespräch guteR Dinge und ließ mich auf neue Erfahrungen in NRW ein.
Eine erste kurze persönliche Begegnung - wortWörtlich zwischen Tür und Angel - gab es beim Kongress des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V. in Dortmund 2003. Dort hast du als Leiter die Staatliche Schule für Sehgeschädigte vertreten, die einen anderen Weg gegangen war als eine gewöhnliche Schule für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Die „Schule ohne Schüler" in Schleswig, als die sie damals bundeswElt bekannt war, wurde immer als etwas Besonderes wahrgenommen, was man als Außen-
Ute Elölscher und Josef Adrian (nach der Einweihung des Kurshauses 2013)
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stehender nicht so richtig fassen konnte. Schleswig war weit im hohen Norden verortet und Schleswig-Holstein ein überschaubares Bundesland. Integration war das große Ziel, deren Umsetzung immer wieder zu Diskussionen aufrief. Schleswig stellte sich diesen Diskussionen und man bekam den Eindruck, dass da irgendetwas richtig gemacht wurde - doch das war „sooo" weit weg ... und „sooo" eine Ausnahme ... und woanders ja eigentlich „gaaar" nicht zu realisieren ...
MiT meinen US-amerikanischen Erfahrungen in der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik war dieser Ansatz ein durchaus interessanter für mich und ich wusstE, Schleswig hatte sich ehemals u. a. auch an den Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten orientieren können. Gemeinsamer Unterricht war dort in der Blinden-und Sehbehindertenszene seit Jahrzehnten Praxis. Diese lernte ich während meiner beruflichen Zeit im US-amerikanischen System auch so kennen, geprägt von Pragmatismus und Selbstverständnis für den integrativen (wie es damals hieß) Gedanken, wie man ihn in Deutschland z.T. heute noch nicht antrifft. In Schleswig aber waR dieser Gedanke seit 1983 leitend.
„Kannst du dir vorstellen, die Stelle der 2. stellvertretenden Leitung zu übernehmen?" Ich war überraschT, fühlte mich geehrt, sehr angesprochen ob dieses Gedankens, in diesem System arbeiten zu dürfen, und motiviert, die Erfahrungen, die ich in USA gesammelt hatte, hier ggf. ein wenig weiter entwickeln zu dürfen. 2006 wEchselte ich nach Schleswig und fand mich in einem engagierten, hoch entwickelten, professionell gestalteten, demokratisch verwalteten, respektvoll umgänglichen System wieder, welcheS ohne Zweifel die gemeinsame Handschrift von dir und Klaus, mit dem du eng zusammen gearbeitet hast, trug. Ein System, welches sich mit keinem, was ich kannte, vergleichen ließ und lässt.
In den nun zwölf Jahren gemeinsamen Arbeitens habe ich dich von Beginn an als zugewandten Kollegen und in deiner Rolle als Leiter mit hohem Engagement, viel Empathie, Verständnis, Offenheit, Flexibilität, Wertschätzung und mit demokratischem Bewusstsein kennengelernt. Du hattest stets ein offenes Ohr, hast die Belange aller Kolleginnen und Kollegen immer ernst genommen und mit ihnen gemeinsam nach Lösungen gesucht. Durch deine Klarheit, Direktheit und deine Authentizität hast du es immer geschafft, auch Problemsituationen Gutes abzugewinnen und am Ende für die einzelne Kollegin oder den einzelnen Kollegen und/oder das LFS gute Ergebnis
se zu erzielen. Diese Eigenschaften habe ich immer sehr geschätzt und werde dieses auch in Zukunft in entsprechenden Situationen immer wieder in Erinnerung rufen. Ich habe dich zudem als Menschen erlebt, der die Herausforderungen, die in einem vielfältigen und differenzierten Schulsystem immer wieder auftauchen, als Chance und als positiv zU gestaltende Aufgabe sieht. Du hast diese Einstellung als einen AuftRag des LFS - nunmehR heißt es Landesförderzentrum Sehen, Schleswig (LFS) - vertreten Und so an das KolLegium verMttelt. Du stehst nach wie vor 100% hinter diesem System und hast dich selbst auch immer als "Überzeugungstäter" vorgestellt.
Die dezentrale Struktur des LFS hat zur Folge, dass das Kollegium räumlich nicht so eng angebunden ist, wie dies in anderen Schulformen der Fall ist. Doch du hast diesE räumliche Distanz durch persönliche AnwesenHeit und Ansprechbarkeit relativieren können, so dass sich das Kollegium in hohem Maße mit dem LFS identifiziert. Auch heute noch, nach 35 Jahren und mit mehR als 80 Mitarbeitern, ist das LFS eine Einheit, die mit hoher Expertise und Kompetenz nach außen agiert und dort so wahrgenommen wird, aber auch nach innen übereinen starken kollegialen Zusammenhalt mit gegenseitiger Unterstützung, Respekt und Wertschätzung verfügt.
Was meine US-amerikanischen Erfahrungen angeht, so haben wir oft diskutiert und unsere unterschiedlichen Meinungen ausgetauscht, manchmal mit Anstrengung, manches Mal mit Witz, aber in der Sache immer ernsthaft. Häufig ging es dabei um das „Erweiterte Curriculum (ECC)", welches ich aus Überzeugung und mit viel Engagement der deutschen Szene näher bringen möchte. Diese Notwendigkeit hast du gar nicht so gesehen, weil es deine Überzeugung ist, die Inhalte längst im schleswig-holsteinischen LehrPlan im Bereich Sonderpädagogische Förderung Sehen verankert zu sehen. Und der Lehrplan, welchen du inhaLtlich maßgeblich mitgestAltet hast, beruht auf den „Guidelines" (Program Guidelines for Visual Impaired Individuals, USA), die schließlich Vorläufer des ECC sind. Wozu also eiN ECC?
Bei Wikipedia findet sich „Curriculum", hergeleitet aus dem Lateinischen, u. a. wie folgt: Umlauf, Kreisbahn, Lauf. Nun wird unser argumentativer Umlauf über die sehgeschädigtenspezifischen Inhalte auf der Kreisbahn „Guidelines - Lehrplan - ECC" leider aufhören. Ich werde diesen Lauf vermissen, lieber Josef, und danke dir für deine außergewöhnliche kollegiale Freundschaft.
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