Lina Maria Kotschedoff
Als 1992 bei mir die erblich bedingte Netzhauterkrankung progressive Zapfen- und Stäbchendystrophie diagnostiziert wurde, standen meine Eltern, meine Lehrer und am Ende auch ich selber vor einer großen Herausforderung. Herausforderung ist die nette Bezeichnung für: „Ein Drachen mit sieben Köpfen".
Keiner wusste, was man denn nun mit einem Kind macht, welches jetzt auf einmal eine Sehbehinderung und dazu noch einen temperamentvollen Charakter hat. Papa wollte, dass ich auf ein Internat für Blinde und Sehbehinderte gehe, Mama wollte, dass ich früh lerne mich unter Sehenden zu behaupten, meine Lehrer sahen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr und ich wollte nur zehn Jahre alt werden und ein Teenie sein.
Durch einen glücklichen Zufall, das Schicksal oder eine der zahlreichen Reaktionen auf den Leserbrief meiner Eltern in der Zeitschrift „Eltern" wurden wir auf die Blinden- und Sehbehindertenschule in Hassels aufmerksam gemacht. Und siehe da... nicht nur, dass sie ganz bei uns in der Nähe war, sie bot auch die Möglichkeiten der ambulanten Betreuung.
Da standen wir nun am Tag, an dem ich Josef Adrian kennenlernte. Wenn ich mich richtig erinnere, dann waren wir in der Schule und sind zunächst die unterschiedlichen Hilfsmittel durchgegangen. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass ich meine Sehbehinderung lange Zeit nicht akzeptierte konnte oder wollte und alle Hilfsmittel für mich von vorneherein eher doof waren. Nun gut, da musste ich durch. Gesagt getan, Hilfsmittel annehmen - Check.
Nun muss das Kind aber noch auf dem Schulweg, im Klassenraum und wo auch immer beobachtet werden, ob es denn alleine klarkommt. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich erst im letzten Jahr von meinen Eltern erfahren habe, dass Josef Adrian mich 1992 beschattet hat. Hätte ich das damals gewusst, dann wäre ich mir sicher wie eine Berühmtheit vorgekommen. ? Spaß bei Seite, ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie er in meinem Klassenzimmer saß, auf einem kleinen Stuhl in der Ecke zwischen zwei Bücherregalen, und mich observierte. Aber nie hat er mir den Eindruck vermittelt, dass ich nicht sehen könnte. Das Gefühl, welches ich habe, wenn ich an ihn und diese Anfangszeit zurückdenke, ist ein Gefühl der Stärke und des Selbstbewusstseins.
Josef Adrian bei der Würdigung der letzten Kollegin, die vor ihm in den Ruhestand eingetreten ist (2018)
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Ich weiß von meinen Eltern, dass die Gespräche und vor allem die Aufklärungen ihnen nicht nur im Umgang mit mir, sondern auch im Umgang mit der Umwelt und bei der Bewältigung ihrer eigenen Sorgen geholfen haben. Ich kann aus dieser Zeit lediglich berichten, dass meine Bücher immer bereits vor Schulbeginn händisch hoch kopiert waren. Genau - kopiert! Wir reden von der Zeit vor dem Laptop, dem mikroskopischen „Taschenvergrößerungsgerät" (Smartphone) oder dem eBook auf dem Tablet. Meine Bücher wurden noch von Hand hoch kopiert, gelocht, gebunden und zu meinem Leidwesen vor Schulbeginn bei mir zu Hause abgegeben. Somit war ich weit vor Zeiten von technologischen Durchbrüchen dank der Hilfsmittel mehr als wettbewerbsfähig gegenüber Sehenden. Dies wurde nur möglich durch das hohe Engagement und die positive, integrative Haltung von Josef Adrian.
Doch damit noch nicht genug. Er ermöglichte mir durch seine Ferienfreizeiten für Blinde und Sehbehinderte auch echt coole Teenager-Ferien. Josef Adrian hat unwissentlich sogar die Geschichte meines ersten Kusses und meiner ersten Liebe mitgeschrieben. Auch wenn es sich bei beiden nicht um denselben jungen Mann gehandelt hat, allerdings bleiben Namen geheim, ist auch dies ein Teil der Geschichte, die mich zu einer selbstbewussten jungen Dame heranwachsen ließ.
Heute bin ich 35 und kann sagen, dass viele Fähigkeiten und Stärken, die ich habe, ihren Ursprung in der Betreuung durch Josef Adrian finden. Der offene Umgang mit meiner Sehbehinderung, das Selbstbewusstsein auf meinem akademischen und beruflichen Karriereweg, das Rückgrat, sich nicht in die „Blindfisch-Schublade" stecken zu lassen, und nicht zuletzt die Gewissheit, dass ich schaffen kann, was ich will.
Denn was man sieht und was man sehen will, sind immer noch zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Abschließend kann ich nur aus ganzem Herzen sagen: Danke, Josef Adrian!
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Eine folgenschwere Begegnung
Kirsten Wahren-Krüger
Wir stecken beide in den 30ern - das LFS mit seinen 35 Jahren und mein nun 33-jähriger beruflicher Werdegang. Je weiter wir voranschreiten, desto häufiger blicken wir auch zurück. Wir fragen uns, wer oder was uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen, warum wir eigentlich genau diesen Weg gehen, woher wir täglich neu die Kraft schöpfen, doch immer wieder Freude zu empfinden in dem, was wir tun. Wenn wir so lange an einer beruflichen Idee festhalten und nicht müde werden, uns dafür einzusetzen, dann kann es nur so sein, dass uns eine Stimme immer wieder sagt: "Das lohnt sich!" Angetrieben von einem inneren Motor folgen wir den Grundfesten unserer Überzeugung. Wir reichern Wissen an, bauen auf Erfahrungen, positive wie negative, auf Menschen, die uns Wertvolles gelehrt haben, auf Begegnungen, die uns beispielhaft und nachhaltig in Erinnerung geblieben sind. Unser Tun steht auf einem Gerüst, das mit den Jahren immer stabiler wird, dann nämlich, wenn wir uns solide Eckpfleiler suchen, die es tragen (und rostige Streben immer mal wieder austauschenl).
Zeitgeschichte
Als ich Josef Adrian zuletzt auf dem VBS-Kongress in Graz 2016 auf der Bühne stehen sah, da war mir plötzlich sonnenklar, einem meiner "Eckpfeiler" gegenüber zu stehen. Ja, ganz ohne Zweifel zählt die Person, die wir in dieser Festschrift besonders ehren, zu den Begegnungen in meinem Leben, die mein berufliches Engagement bis heute nachhaltig prägen. Und das Warum und Wie: Wir schreiben das Jahr, na sagen wir, 1991. Ich war mit Leib und Seele Orthoptistin und erfreute mich der vielversprechenden Arbeitsstelle in der Sehschule des St. Martinus-Krankenhauses in Düsseldorf. Ein Jahr zuvor waren mein damaliger Chef und ich von der Uni-Augenklinik Köln hierhin gewechselt. Er, um hier die Stelle als Chefarzt der Augenklinik anzutreten, ich, um die Sehschule neu aufzubauen und zugleich die "Sehbehindertenambulanz" zu etablieren. Hochmotiviert und offen für Neues bildeten wir inmitten überzeugter Altbiertrinker ein starkes Arbeitsteam - mir als Orthoptistin ging es gut! Eines Tages rief mich, soviel hatte ich verstanden, ein Lehrer der örtlichen Schule für Sehbehinderte - heute "LVR-Karl-Tietenberg-Schule", Förderschwerpunkt Sehen - an. Er habe ein Anliegen und wolle wissen, ob er einmal bei mir vorbeischauen könne. Ich, die ich immer noch kräftig damit beschäftigt war, ein örtliches berufliches Netzwerk aufzubauen und zu diesem Zweck regelmäßig Low Vision-spe-zialisierte Augenoptiker(innen), engagierte Kolleg(innen) und regionale Selbsthilfeverbände aufsuchte, jubelte. Jemand aus dem interdisziplinären und noch dazu nicht klinischen Umfeld kündigte sich an, die Zeichen standen gut! Ich freute mich auf den Besuch, hatte ich doch schon in meiner Kölner Ausbildungszeit miterleben dürfen, dass dort für die Beratung sehbeeinträchtigter Kinder aus dem Frühförderbereich eine extra Sprechstunde eingerichtet worden war. An solchen Tagen begegnete die Medizin der Pädagogik in einer gegenseitig vermittelnden Art, die schon damals meine Neugier weckte.
Josef ist schuld!
Eines Tages saß er also da, der Josef Adrian, auf einem der Besucherstühle in "meiner Sehschule". Er erzählte mir, er sei eigentlich aus Schleswig - was das nun wirklich zu bedeuten hatte, wusste ich damals noch nicht - und er sei vorübergehend in Düsseldorf, um hier einen "Schulversuch zur sonderpädagogischen Unterstützung sehbehinderter Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen" durchzuführen. Ihm schwebe vor, in der Düsseldorfer Schule für Sehbehinderte ein Sehhilfen- und Beratungszentrum aufzubauen, um den sehbehinderten Kindern genau die optischen und nichtoptischen Hilfen anzupassen, die sie in ihren jeweiligen Lernumfeldern bräuchten. Nun suche er nach einer Orthoptistin, die ihn zunächst erst einmal darin unterstütze, dieses Beratungszentrum auszustatten. Ob ich mir wohl vorstellen könne, diese Orthoptistin zu sein und ob ich mir das alles einmal mit ihm zusammen ansehen wolle. Was für eine Frage?! Natürlich wollte ich!! Josef erzählte mir von seinen Ideen
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und Überzeugungen. Dass man am Lernort eine spezialisierte Orthoptistin brauche, die zwischen Lehrkräften und Ärzten Sehberatung praktiziere. Ein interdisziplinäres Team sei nötig, mit einem/einer Mobilitätslehrer(in), einer psychologischen Fachkraft und anderen, um sich mit dem/der einzelnen Schüler(in) auseinanderzusetzen und entsprechend den indivduellen, sehbehindertenspezifischen Bedürfnissen so auszustatten, dass er/sie am Regelunterricht erfolgreich teilnehmen könne. Das klang wie Musik in meinen Ohren, genau das war's doch! Es entwickelte sich sehr bald nicht nur ein reger beruflicher Kontakt, sondern ich fand mich auch immer häufiger in genau diesem Beratungszentrum an der LVR-Karl-Tie-tenberg-Schule, um dort Low Vision-Beratung anzubieten. So dauerte es dann auch gar nicht lang, da kam mein Chef auf mich zu - denn schließlich arbeitete ich ja noch in Vollzeit in der Augenklinik - und fragte: "Frau Wahren, Sie sind in der letzten Zeit ja sehr viel unterwegs, was machen Sie da eigentlich genau?" Ich erklärte es ihm und zu meiner großen Freude war er ganz begeistert und ich hatte seine volle Unterstützung. Nun will man ja immer das, was man gerade nicht hat. Für mich fühlte es sich zunehmend gut und richtig an, Low Vision-Beratung im Lern- und Lebensumfeld von Menschen mit Sehbehinderung durchzuführen. "Low Vision" sollte von nun an mein Berufsweg sein und so kam es, wie es kommen musste, ich entschied mich eines Tages doch noch einmal zum Studium der Sehbehindertenpädagogik.
Mein Dank
Ja, Josef, das habe ich wohl vor allem dir zu verdanken! Wann immer mein weiterer Weg holprig zu werden schien, welche Steine ich auch aus dem Weg zu räumen hatte: Dank unserer Begegnung vor 27 Jahren habe ich nie aus dem Blick verloren, Low Vision-Beratung und -Lehre im Sinne der Verknüpfung von pädagogischen und augenmedizinischen Kontexten betreiben zu wollen, auch über die Grenzen hinweg. Für die Chance, mir diesen ganz wesentlichen Input gegeben und vor allem meinen Blickwinkel dahingehend erweitert zu haben, möchte ich dir vielmals danken! Und ich möchte dich und dein Team zum 35-jährigen Bestehen des LFS beglückwünschen, dessen Fortbestand du sicherlich nicht nur entscheidend vorangetrieben, sondern den Du ganz sicher auf ein stabiles Gerüst gestellt hast. Damit möchte ich dir nun für deinen wohl verdienten Ruhestand die herzlichsten Glückwünsche aussprechen!
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