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6.2 Migration
"Die Wanderung von Menschen ist eine ähnlich archaische Erfahrung wie Ge­burt, Sexualität und Tod. Die Abwehrhaltung der Seßhaften gegen die Wan­derer und Einwanderer ist ebenso uralt. Es sind alte Fragen, die nach neuen Antworten verlangen" (Winkler 1993, 11).
Allein die Dimensionen, die Migration inzwischen einnimmt, sind Grund genug, dieses Phänomen ernst zu nehmen und etwas näher zu betrachten. Weltweit wird wenigs­tens von 100 Millionen Arbeitsmigranten ausgegangen, hinzu kommen an die 50 Mil­lionen grenzüberschreitende und 20 Millionen Binnenflüchtlinge. Immens, wenn auch nicht zu beziffern, ist die Zahl jener Menschen, die als Umweltflüchtlinge gelten kön­nen, d.h. in Folge von Dürrekatastrophen, Raubbau, Verkarstung etc. gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen (siehe für diese Zahlen z.B. Reichow 1993, 45f; Ange­nendt 1997). Von primärem Interesse für die hier verfolgte Argumentation ist zu­nächst die Gruppe der Arbeitsmigranten, also jener Menschen, die außerhalb des Heimatlandes Arbeit nachfragen.
In der Vergangenheit stand Migration nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses. Die erlebten Wanderungsbewegungen fanden außerhalb des eigenen alltäglichen Er­lebnishorizontes statt. Bis Anfang der siebziger Jahre lag der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Deutschland deutlich unter 5 vH und mit dem Anwerbestopp auslän­discher Arbeitnehmer 1973 ging die Einwanderung nach Deutschland sogar zurück. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung stieg in den siebziger Jahren zwar von knapp 5 vH auf immerhin 6,7 vH, aber erst in den achtziger Jahren mit weiterhin steigendem Anteil der ausländischen Bevölkerung (7,2 vH in 1980 und 7,7 vH in 1989) und der ersten Aussiedlerwelle begann dieses Phänomen öffentlich wahrge­nommen zu werden. Der Systemwechsel schließlich und die daraufhin stattfindenden politischen Umwälzungen innerhalb der Transformationsländer mit kriegerischen Aus­einandersetzungen, sozialer Not und perspektivischer Ungewissheit provozierte wei­teren Wanderungsdruck, der zu einem Anstieg der ausländischen Bevölkerung in Deutschland auf 8,9 vH führte (in den alten Bundesländern einschließlich Berlin sogar auf 10,4 vH; alle Zahlen aus: BAS 1995) und verfestigte die Existenz und Betroffen­heit von Migration im öffentlichen Bewusstsein.
Dabei ist Migration nicht zuletzt deswegen stärker ins wissenschaftliche und auch vor allem ins öffentliche Interesse gerückt, weil über die aktuellen Zahlen hinaus mit ei­ner erheblichen quantitativen Zunahme der Migrationsströme gerechnet wird. Be­gründet werden die Prognosen mit allgemeinen Tendenzen wie der Globalisierung insgesamt, mit der nicht nur ein verstärkter ökonomischer Anreiz entsteht, über die Grenzen hinweg zu wandern, sondern die unter dem Vorzeichen der kulturellen He­gemonie des westlichen Lebens- und Gesellschaftsmodells die migrationshemmenden Differenzen zwischen den Regionen und Staaten minimiert (Gross 1992, 49; siehe auch: Hof 1993). Jedoch werden nicht erst seit der Entdeckung der Globalisierung und auch nicht erst seit dem Fall der Systemgrenze immer wieder massiv anwach­sende Zahlen von Migranten und Migrantinnen in Aussicht gestellt. Die Industriali­sierung des 19. Jahrhunderts, die Abkopplung der Entwicklungsgeschwindigkeit bzw. -richtung zwischen den industrialisierten und den nicht-industrialisierten Ländern seit dem Ende des zweiten Weltkrieges sowie die (west-)europäische Integration sind drei Momente, mit denen solche Szenarien begründet werden. Und wirklich: "Im Zu­ge der Industrialisierung, Technisierung und Verstädterung immer größerer Teile der Welt und der Entstehung von Nationalstaaten haben die Wanderungen, quantitativ und qualitativ gesehen, eine neue Dimension erhalten" (Treibel 1999, 11).
Bei allem wirklichen, prognostizierten oder nur behaupteten quantitativen Wachstum wäre es also verfehlt, Wanderung als neues Phänomen zu begreifen. Das Gegenteil ist der Fall, die Geschichte ist voll von Erzählungen, die Wanderungen kleinerer und größerer Menschengruppen beschreiben. Dass Migration in den letzten Jahren auf gewachsenes Interesse stößt, ist zwar angesichts der sich aufgrund der neuen geo­politischen Situation verlagernden Wanderungsrichtungen und auch -dimensionen verständlich, allein, "Massenmigration ist weder ein neues Phänomen, noch stellt sie den historischen Ausnahmefall dar. Seit Beginn der industriellen Revolution in Europa und der europäischen Siedlungskolonisation in Übersee ist räumliche Mobilität ein Charakteristikum moderner Gesellschaften" (Münz 1997, 35). Mit Migration ist nicht nur die bloße Übersiedlung von einem Raum in einen anderen gefasst, sondern Dy­namik von Gesellschaften überhaupt. Wanderungen sind sowohl Teilprozess wie "Voraussetzung des sozialen Wandels von Gesellschaften" (Schäfers 1995, 395). Und schon der früheste Migrationsforscher, Ravenstein (1972, 86), schloss Ende des 19. Jahrhunderts seine Forschung zu den Gesetzen der Wanderung mit der programma­tischen Formel: "Wanderung ist Leben und Fortschritt – Seßhaftigkeit ist Stagnation."
Tatsächlich haben sich die globalen Wanderungen gerade vor dem Hintergrund der sich verstärkenden räumlichen Disparitäten und der Konzentration des globalen Reichtums auf einige kleine Inseln inmitten von Armut sowohl in ihrer Quantität als auch in ihrer Qualität verändert (Gross 1992, 45f) und erscheinen den Bewohnern der Reichtumsinseln als Bedrohung, vor der sie sich schützen wollen. Doch ein "Blick auf die Landkarte (und) in die Geschichtsbücher ... sollte eines klar machen: Die Sta­tionierung von Truppen an unseren Grenzen kann nicht die einzige Antwort auf den Migrationsdruck sein. Denn an den zentralen Wanderungsursachen der letzten Jahre wird sich auf absehbare Zeit kaum etwas ändern" (Münz 1997, 44). Neben dem be­reits erwähnten erheblichen und zunehmenden ökonomischen Gefälle mit den daraus entstehenden ungleichen Lebensniveaus und -chancen nicht nur zwischen sog. erster und sog. dritter Welt, sondern schon zwischen Westeuropa und seinen Nachbarregi­onen, die instabile politische und häufig ethnisch gewendete Gemengelage in vielen Regionen und vor allem auch die zunehmende Internationalisierung von Arbeits-, Gü­ter- und Dienstleistungsmärkten sind die wichtigsten Ursachen für diesen Wande­rungsdruck. "Bloße Abschottung ist daher kein Ersatz für Migrationspolitik. Und sie beseitigt keine der Ursachen, die Menschen heute zum Verlassen ihrer Heimat zwin­gen" (ebd.).

Vor allem die Entwicklung seit Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat hier zu einem massiven und recht plötzlichen, wenn auch nicht unangekündigten An­stieg des Wanderungspotenzials nach Westeuropa und hier insbesondere nach West­deutschland geführt (siehe dazu die Tabellen 48 bis 50 im Anhang). Wurde Anfang der neunziger Jahre allein das innerdeutsche Wanderungspotenzial bis zur Jahrtau­sendwende auf ungefähr eine Million Menschen geschätzt, so wurde diese Zahl inzwi­schen von der tatsächlichen Wanderung deutlich übertroffen. Allein von Anfang 1989 bis Ende 1990 wanderten 600.000 Menschen aus den neuen in die alten Bundeslän­der. Von Anfang 1991 (16 Mio.) bis Ende 1998 (14 Mio.) verloren die neuen Bundes­länder dann nochmals 2 Millionen Einwohner, während die Bevölkerungszahl in den alten Länder im gleichen Zeitraum um 4,3 Millionen von 63,7 Mio. auf 68 Mio. anstieg (BIB 2001, 6 und 9). Innerdeutsch war zwischen 1995 und 1998 vorübergehend bei­nahe ein Ausgleich der Wanderungsbewegungen erreicht (ebd., 23). Im Jahr 2000 zogen aber 214.000 Personen aus den neuen Ländern und Berlin-Ost in das frühere Bundesgebiet; nur etwa zwei Drittel, nämlich 153.000 Menschen, wanderten in um­gekehrter Richtung. Der Negativsaldo der neuen Länder betrug also allein in diesem Jahr 61.000 Menschen. Damit hat sich der 1998 erneut begonnene Trend der ver­stärkten Auswanderung aus den neuen in die alten Länder fortgesetzt. Die Zahl der Nettoabwanderung aus dem Osten hat sich im Vergleich zu 1997, als nur 10.000 Menschen verloren gingen, versechsfacht (Soziale Sicherheit 9/01, III). Dennoch bleibt der größere Teil der positiven Bevölkerungsentwicklung in den alten Ländern mit externer Zuwanderung begründet.


Die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Lage in den Ländern Mittel- und Ost­europas und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion erhöht den Wanderungs­druck insbesondere für Deutschland, nicht zuletzt, weil es traditionelle Verbindungen gibt, die u.a. auf historische Wanderungsprozesse zurückzuführen sind, die zunächst aber in diese Länder gerichtet waren (Bade 1993, 18ff). Erst mit voranschreitender Industrialisierung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und noch mehr in den ersten anderthalb Dekaden des 20. Jahrhunderts kehrten sich die Wan­derungsströme um (Schwarz 1992, 12f; Bade 1993). "Im Grunde stellt sich" mit der neuen Ost-West-Wanderung "nur eine Zuwanderungstradition wieder her, die nach weitgehender, aber nie umfassender Schließung des Eisernen Vorhangs zeitweise von einer Arbeitsmigration aus den mediterranen Ländern abgelöst wurde" (Schwarz 1992, 11). Auf diese Weise kommen Zahlen in die öffentliche Debatte, die von bis zu 50 Millionen Menschen sprechen, die in die Bundesrepublik wandern wollen. Ganz unabhängig davon, ob diese Zahlen korrekt sind oder nicht (Winkler 1993, 12f, mel­det Zweifel an; Schwarz 1992, 11, spricht von Mythen, die zu "maßlosen Wande­rungsprognosen" führten), sorgen sie für Aufregung in der politischen Diskussion. Allerdings gibt es für keines der genannten Szenarien profunde Schätzungen, son­dern nur Modellrechnungen, die von bestimmten Annahmen ausgehen, die sich in der Vergangenheit schon mehrfach als unrealistisch entpuppt haben. So wurden bei­spielweise mit der europäischen Integration sehr viel stärkere Wanderungsprozesse in Verbindung gebracht, als sich dies bisher empirisch nachweisen lässt. Dafür gibt es gute Gründe, die aber eben in den Modellrechnungen nicht genügend berücksichtigt wurden (Langewiesche 1999 und 2000a). Tatsächlich entwickeln sich die (registrier­ten) Zuwanderungen aus den Ländern der EU nur sehr verhalten. Die drei Haupther­kunftsländer sind dabei Griechenland, Portugal und Spanien. Die Zahlen aus diesen und den anderen Länden der EU sind aber im Mittel seit einigen Jahren rückläufig bzw. nicht mehr stark expansiv. In diesen Zahlen tauchen jedoch nicht jene Migran­ten auf, die nur zeitlich befristet nach Deutschland reisen, um dort einer Arbeit nach­zugehen. Da es sich dabei um die in der zu führenden Argumentation wichtigste Gruppe geht, soll sie an geeigneter Stelle eingehender betrachtet werden.

6.2.1 Dimensionen der Arbeitsmigration im Baugewerbe


Gerade für das Baugewerbe entstehen aus der Nichtregistierung von kurzfristig wan­dernden Angehörigen eines Mitgliedstaates der EU enorme Probleme in der Erfas­sung und Abschätzung der tatsächlichen Wanderungsdimensionen. Dasselbe gilt für die Gruppe der illegal eingereisten Personen. In der amtlichen Migrationsberichter­stattung, die auf die amtliche Zu- und Fortzugsstatistik zurückgreift, wird zwar gene­rell gesagt, dass die "Größenordnung der illegalen Migration ... nur sehr schwer be­stimmbar" sei (Beauftragte ... 1999, 6), tatsächlich ist es aber ein Problem, das, so­fern es mit der illegalen Aufnahme von Arbeit einhergeht, sich auf einige Branchen konzentriert, zu denen wiederum zentral die Bauwirtschaft zählt. Wenn also die quantitative Bestimmbarkeit zwar kaum möglich ist, so lässt sich doch konstatieren, dass die quantitative Betroffenheit für die Bauwirtschaft enorm ist.
Nicht weiter ausgewiesenen Schätzungen203 zufolge arbeiteten Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts unter Einschluss der 'Illegalen' etwa 500.000 ausländi­sche Arbeitnehmer in der deutschen Bauwirtschaft, wovon ungefähr 150.000 Ange­hörige von EU-Ländern waren (Rürup 1995, 60). Es ist davon auszugehen, dass ein möglicher gewachsener Wanderungsdruck (der aber nicht sicher angenommen wer­den kann) wegen der in Deutschland bestehenden Baukrise nicht unbedingt auch zu höheren Zahlen geführt hat204. Jedoch muss bei der Diskussion über die Bedeutung der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer in mehrfacher Hinsicht differenziert werden. Zunächst lassen sich grob drei Gruppen von ausländischen Arbeitnehmern unterscheiden. Die 'traditionellen Gastarbeiter', die 'Werkvertragsarbeitnehmer' und die 'neuen Selbstständigen'. Hinzukommen die illegal Beschäftigten, die eine beson­dere Kategorie darstellen. Die Gruppe der 'traditionellen Gastarbeiter' ist für die Beur­teilung eventueller Gefahrenpotenziale, die es noch zu benennen und zu bewerten gilt, ohne Belang, weil es sich um dauerhaft in Deutschland (bzw. allgemeiner: im In­land) lebende Menschen handelt, die sich sozialrechtlich nicht von anderen Inländern unterscheiden (Bosch u.a. 2000, 43); nicht zuletzt deshalb werden sie als 'inländische Beschäftigte' von den beiden anderen Gruppen geschieden. Im Gegensatz zu dieser Gruppe der eingewanderten Menschen haben wir es bei den beiden anderen Grup­pen vor allem mit Menschen zu tun, die zur temporären Arbeitsaufnahme ins Land kommen. Die Zahl der 'Werkvertragsarbeitnehmer' hat im Laufe der neunziger Jahre zunächst erheblich zu- und anschließend wieder sehr stark abgenommen (Beauftrag­te ... 1999, 75; Miera 1996, 36). Sieht man von der enormen Gefahr der "Illegalisie­rung" ab, so kann diesen Beschäftigten getreu den bestehenden rechtlichen Bestim­mungen nicht vorgehalten werden, inländische Bauarbeitnehmer in die Arbeitslosig­keit zu drängen205. Es bleibt die letzte, Mitte der neunziger Jahre etwa 50.000 Men­schen umfassende Gruppe der 'neuen Selbstständigen', bei denen es sich in der Mehrzahl um Arbeitnehmer aus Großbritannien und Irland handelt (Senatsverwaltung ... 1996, 66). Da sich diese Gruppe jedoch aus nahe liegenden Gründen einer genau­eren Zählung entzieht, handelt es sich bei diesem Datum nur um eine grobe Schät­zung. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass (nicht zuletzt wegen der Ver­änderungen in Großbritannien seit dem Regierungswechsel 1997 und der guten kon­junkturellen Lage dort) heute weniger Menschen dieser Gruppe in Deutschland ar­beiten als noch Mitte der neunziger Jahre. Häufig werden diese Beschäftigten als Scheinselbstständige bezeichnet, um den prinzipiellen Charakter ihrer Arbeitsposition herauszustellen und das mit dieser Beschäftigungsform einhergehende Gefahrenpo­tenzial für auf dem dichotomen Charakteristikum von abhängiger Beschäftigung und Unternehmen aufbauende Sozialsysteme zu betonen206. Gerade die ansteigende Zahl temporärer Arbeitsaufnahmen und die nicht zu beziffernde Bedeutung illegaler Be­schäftigung gerät u.a. wegen des angespannten Baumarktes und der damit einher­gehenden wachsenden Gefahr des Verdrängungswettbewerbs zu einem Problem. Die IG BAU schätzt die Zahl der zuletzt genannten Arbeitnehmer auf etwa 400.000 (zu­letzt: Der Grundstein 3/2002, 8). Grenzüberschreitende Scheinselbstständigkeit hat sich darüber hinaus in der Praxis zu einem Tätigkeitsfeld der organisierten Krimina­lität entwickelt (Senatsverwaltung ... 1996, 66). Und auch für die Werkvertragsneh­mer kommt Miera (1996, 37) zu dem Ergebnis, dass "das Nichteinhalten der Werk­vertragsbestimmungen in polnischen Subunternehmen bis 1992 die Regel war"207. Temporäre Arbeitsaufnahme und illegale Beschäftigung hängen zusammen bzw. wer­den verursacht durch die sich verändernde Struktur des Baugewerbes mit einer im­mer weiter um sich greifenden Ausdifferenzierung der Unternehmen und der Unter­nehmensketten. Zusätzlich ist auch die Bauwirtschaft nicht von der Internationali­sierung der Wirtschaftsbeziehungen ausgenommen. Auch sie steht im Wettbewerb mit konkurrierenden Anbietern, Systemen und Kostenstrukturen (Baumann u.a. 1997a, 135 und 1997b, 9)208.
Mit dieser sich offensichtlich verfestigenden Arbeitsmigration geht eine Verschlech­terung der Beschäftigungschancen einheimischer Bauarbeitskräfte209 bei nachlassen­der Konjunktur einher. Während in der Boomphase der frühen neunziger Jahre die so attrahierten Arbeitskräfte absorbiert wurden, ohne dass daraus erkennbare negative Konsequenzen für die einheimischen Arbeitskräfte entstanden wären (Rürup 1995, 61f; allgemein: Reichow 1993, 61), führen sie in der seit etwa 1995/96 andauernden und sich noch immer nicht entspannenden Krise zu einer fortgesetzten Substituie­rung einheimischer Arbeitskräfte. Die sektorielle Arbeitslosigkeit erreicht in vielen Re­gionen Rekordhöhen und liegt in einigen Arbeitsamtsbezirken bei (offiziellen) 30 vH, häufig bei 20 vH und darüber, so gut wie immer über 15 vH210 und regelmäßig über der allgemeinen Arbeitslosenquote. Da die Qualifizierungsbereitschaft von Arbeitneh­mern abhängt von den antizipierten Beschäftigungschancen, wird diese nachlassen, sobald die Arbeitnehmer davon ausgehen, dass ihre künftigen Chancen sinken, im Beruf zu arbeiten. "Daraus darf man folgern, daß, sollte es zu keiner Regulierung des Bauarbeitsmarktes kommen, man bei einer Abschwächung der Baukonjunktur nicht nur mit Verlusten von Arbeitsplätzen rechnen muß, sondern auch und gerade mit einem generellen Qualifikationsverlust bzw. Verlust an bautechnologischer Kompe­tenz" (Rürup 1995, 63; Syben 1997b und 1999b).
Mit diesem Szenario ist ein Circulus vitiosus gezeichnet, der es angezeigt erscheinen lässt, sich etwas näher mit dem Phänomen der Migration auseinanderzusetzen. So ist zunächst zu klären, was denn Migration überhaupt ist und welche positiven oder ne­gativen Folgen Migration für die Herkunfts- oder die Zielländer möglicherweise hat. Deshalb soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welche Rolle Migration traditionell für den Bausektor spielt, welche alten und neuen Formen von Migration es gibt und zu welchen Zielkonflikten es bei transnationalen Arbeitsmärkten kommen kann. Zunächst aber soll der Begriff Migration selbst in seiner wissenschaftlichen Interpretation geklärt werden.

6.2.2 Migration: Begriffsbestimmung


Migration oder Wanderung ist ein zwar in letzter Zeit auch im Alltagsgebrauch häufi­ger verwendeter Begriff. Er ist jedoch selten klar bestimmt. Normalerweise, d.h. im Sinne der geläufigen Verwendung bezeichnet Migration Wanderung über national­staatliche Grenzen hinweg (Bade, Münz 2000)211. Daher trifft man nicht selten auf die Begriffskombination "Migration und Einwanderung" (z.B. Geiger 1999) oder den klärenden Zusatz der "grenzüberschreitenden" Migration212. In der sozialwissen­schaftlichen Debatte wird diese Kopplung aber keineswegs immer vorgenommen. So wurde auch schon die Überwindung einer großen Entfernung (ohne die Berührung oder Überschreitung politischer Grenzen) als Migration bezeichnet (Schrader 1989; Hoffmann-Nowotny 1994). Gemäß dieser Definition könnte also ein Umzug von Mün­chen nach Hamburg als Migration gelten. Für eine solche räumliche Veränderung in­nerhalb eines Landes gibt es auch den Begriff der Binnenmigration; insbesondere in der Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts war sie die bedeutendste Form der Wanderung (Sassen 1996; siehe auch Treibel 1999, 25ff, die die Land-Stadt-Wanderung als typische Wanderungsform dieser Zeit diskutiert)213. Heute hat sie sich so sehr etabliert, dass sie kaum noch als Migrationstyp bemerkt wird, obwohl sie noch immer einen weitaus größeren Umfang hat als jede grenzüberschreitende Mi­gration (Hoffmann-Nowotny 1994, 389).
Schon früher wurde Migration im Sinne des Wechsels bzw. des Übergangs von einer Gesellschaft in eine andere verstanden (Eisenstadt 1954). Gemeinsam ist diesen Be­stimmungen die Dauerhaftigkeit der Migration, d.h. als Migration gilt hier nicht der kurzfristige räumliche oder gesellschaftliche Wechsel mit von vornherein intendierter Rückkehr ins Herkunftsgebiet. Treibel (1999, 21) fasst diese Festlegungen zusam­men: "Migration ist der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen."
Ganz offensichtlich ausgeschlossen von dieser so getroffenen Definition sind die in Europa und vor allem in grenznahen Ballungsregionen wie Berlin heute anzutreffen­den Formen von kurzfristiger Migration. Die Situation dort ist seit dem Ende der Blockkonfrontation von dem neuen Phänomen der Pendelmigration geprägt (FES 1997a; Miera 1996; allgemein bezüglich der Migrationsmuster von Polen: Helias 1992, 45). In der traditionellen Migrationsforschung wurden solche apriorisch nicht auf dauerhaften Verbleib im Zielgebiet ausgerichteten (und sich tatsächlich nicht in diese Richtung entwickelnden) Wanderungen als Zirkulation bezeichnet (z.B. Hoff­mann-Nowotny 1994), neuerdings etabliert sich eben der Begriff der Pendelmigration (z.B. Miera 1996; FES 1997a), der aber auch schon früher verwendet wurde (aller­dings als Form der Zirkulation; Hoffmann-Nowotny 1994, 390). Mit diesem Begriff wird die "zeitlich begrenzte Form der Zuwanderung (mit Rückkehrperspektive) oder illegales Grenzgängertum" (FES 1997a, 19) bezeichnet. "Bei der illegalen Pendelmi­gration handelt es sich durchaus um einen eigenständigen Migrationstyp; dabei pen­deln Arbeitssuchende aus dem nahen Ausland für einen Kurzaufenthalt – z.T. mehr­mals in der Woche – legal über die Grenze in die Bundesrepublik Deutschland, um vor allem illegal einer Beschäftigung nachzugehen" (ebd.). Diese neue und in Wirk­lichkeit alte Form der Migration (Cyrus 1997, 63, benutzt deshalb den ebenso alten Begriff Wanderarbeiter) stellt insofern einen für die in dieser Arbeit verfolgte Frage­stellung wichtigen Aspekt dar, als damit das alte Muster der Aus- bzw. Einwanderung mit allen sozialen Folgen zu Gunsten einer Nicht-Integrierung aufgegeben wird. Die Folgen für die Sozialsysteme sind womöglich immens und noch zu diskutieren.
Zwar war auch die Anwerbung der sog. Gastarbeiter ab den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland anfänglich keineswegs auf dauerhaften Verbleib dieser Arbeitskräfte im Land angelegt. Es wurde allgemein angenommen, dass der Arbeits­kräftebedarf zeitlich beschränkt bleiben würde und die angeworbenen Menschen nach einem Jahr dem Rotationsprinzip folgend durch andere ausgetauscht werden würden (Treibel 1999, 55ff). Daher gab es in allen Abkommen, die zu diesem Zweck mit den Herkunftsstaaten geschlossen wurden, sog. Rücknahmeverpflichtungen. Doch wurde diese Rotation faktisch nicht umgesetzt, nicht zuletzt wegen des Wider­stands der Arbeitgeber, die nicht daran interessiert waren, ständig neue Arbeitskräfte zu qualifizieren. Daraus hat sich ein "stillschweigendes Bleiberecht" (Bischoff, Teub­ner 1991, 47) entwickelt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die hier aufgrund ihrer gerade für den Bausektor herausragenden Bedeutung noch zu entwickelnde Werkvertragsbeschäftigung, die sich arbeitsrechtlich und auch in der Wirklichkeit des Arbeitsvollzugs fundamental von der "Gastarbeiterbeschäftigung" unterscheidet, nicht zu einem solchen sich unter der Hand durchsetzenden Bleiberecht führen wird. Die Rotation ist im Charakter der Werkvertragsbeschäftigung selbst angelegt.
Auch für andere Räume dieser Welt wurden neue Formen von Migration beschrieben. So stellt Pries (1996) fest, dass mexikanische Einwanderer in New York nicht mehr zwangsläufig in eine andere Gesellschaft überwechseln, sondern die alten Netzwerke im jeweiligen Herkunftsgebiet aufrecht erhalten. Neben diese traditionellen Netzwer­ke treten 'mexikanische Netzwerke' im Zielgebiet. Die Migranten wechseln so regel­mäßig zwischen diesen Netzwerken, dass Pries vom transnationalen Raum spricht214. Die Bedeutung der Pendelmigration wächst in den Ländern Europas nach dem Zu­rückgehen der auf Dauer angelegten Wanderungen nach dem Fall der Systemgrenze. Sowohl innerhalb der EU als auch zwischen dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und den Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas dominieren inzwi­schen kurzfristige Wanderungen (Beauftragte ... 1999, 7). Mit dieser sich verändern­den Wirklichkeit geht auch ein sich veränderndes Verständnis von Migration einher, so dass heute Migration häufiger als nicht auf Dauer angelegte Wanderung interpre­tiert wird215.
Die Existenz von Netzwerken verweist auf die Rolle, die der Staat für Migration hat bzw. auf die Bedeutung von Regulierung oder Nicht-Regulierung. Überhaupt scheint die Entwicklung und Etablierung funktionsfähiger informeller oder sogar formeller globaler und lokaler Netzwerke ein wichtiger Aspekt, vielleicht sogar konstitutiv für das Ausmaß und die Ausweitung von Migration zu sein (vgl. z.B. für die Zuwande­rung aus Polen nach Berlin: Cyrus 1995 und 1997; Mehrländer 1997). Insbesondere die sich etablierenden neuen Formen von Migration sind offensichtlich auf solche Netzwerke angewiesen. Diese Netzwerke befördern spezifische Formen von Migration und werden ebenso von diesen hervorgerufen. So verweist gerade die Kurzfristigkeit neuer Migrationsformen auf die Existenz funktionierender und daher dauerhafter Netzwerke; insbesondere bei illegalem Aufenthalt oder illegaler Beschäftigung ist die Existenz solcher Netzwerke im Aufnahmeland vorausgesetzt (Sandbrink 1998, 25f). Für die noch zu diskutierende für den Bausektor enorm wichtige Sonderform von Migration, der Entsendung von Arbeitnehmern, spielen die verschiedenen Netzwerke ebenfalls eine zentrale Rolle.

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