Achte darauf, was dein Publikum will, und schreibe dann in diesem Sinne! Das ist das Rezept, das der feine Psychologe Paul Bourget allen Theaterdichtern gibt. Ja, er geht noch weiter. Es gibt, meint er, religiöse und politische Moden. Gegen diese darf der Theaterdichter nicht verstoßen, trotzdem sie ungefähr alle zwei bis drei Jahre wechseln. Und noch mehr. Es gibt Schauspie-
ler, die länger als politische und religiöse Moden sich in der Gunst des Publikums erhalten. Diese sind berufen, den Theaterdichtern auf die Beine zu helfen. Ihnen müssen die Dramatiker die Rollen auf den Leib schreiben. Was wird für den beliebten Schauspieler Soundso passen, müssen sie sich fragen, wenn sie diesen oder jenen Charakter dichterisch gestalten wollen. Es gibt, meint Bourget, immer einen Herrn Soundso, der so beliebt ist, daß er den Erfolg verbürgen kann. Dann bemühen sich die Dramatiker, solche Rollen zu schreiben, daß dieser beliebte Schauspieler daraus etwas machen kann.
Zweierlei — um pedantisch, vielleicht auch in Lessingscher Manier zu reden — ist möglich: entweder will Bourget die ganze Frivolität einer gewissen dramatischen Produktionsart charakterisieren und stellt deshalb in paradoxer Form gerade die schlimmsten Auswüchse auf dem Gebiete dar, das er im Auge hat; oder aber er redet nicht ironisch; er meint die Sache so, wie er sie ausspricht. Im ersteren Falle hätte er sich seine ganze Rede ersparen können. Denn dann wäre sie das Überflüssigste in der Welt. Daß es Stückefabrikanten gibt, die auf der Börse des gemeinen Geschmackes der Menge spekulieren und sich prostituieren — um Geld zu verdienen, das ist längst bekannt. Das braucht uns nicht der Mann mit den feinen Ohren für die intimsten Töne der menschlichen Seele zu verkünden.
Aber es kommt auch gar nicht darauf an, ob Paul Bourget Spaß oder Ernst macht. Es kommt darauf an, daß gerade Idealisten und solche, die es mit der Kunst ehrlich meinen, ihm nachsprechen, und daß es so weit gekommen ist, daß heute zahlreiche von solchen Ehrlichen, die sich die Erfolge der geschilderten Spekulanten ansehen, nicht mehr daran glauben, daß das Theater eine Kunstanstalt ist.
Und die Sache liegt so einfach. Der Gegensatz, den Bourget zwischen Roman, Ballade, lyrischem Gedicht und zwischen Theaterstück sich herauskristallisiert, gilt einfach nicht. Es gibt Künstler, die Romane schreiben, wie sie ihrem Empfinden, ihrer Inspiration, ihrem Genie entsprechen, und es gibt Romanfabrikanten, die Lesefutter für eine Menge schreiben, deren Sitten, Leidenschaften
und Lebensgewohnheiten sie kennen, und denen sie schmeicheln wollen. Und ebenso gibt es Dramatiker, die Stücke schreiben, wie sie ihrer künstlerischen Überzeugung gemäß sind, und Stückefabrikanten, die so schreiben, wie es das Publikum will. Es ist der Grundfehler der Bourgetschen Betrachtungen und vieler ähnlichen, daß der Betrachter von dem Standpunkt der Empfänger, der Genießer ausgeht. Das muß immer zu zweifelhaften Resultaten führen. Denn Kunstwerke, die deshalb entstehen, weil sie der Genießer in einer bestimmten Weise haben will, sind nicht wert, daß man von ihnen redet. Der Genießer, das Publikum — sie mögen die besten Tendenzen haben: sie dürfen deswegen doch auf die Qualität eines Kunstwerkes keinen Einfluß haben. Nicht die geringste Kleinigkeit eines Kunstwerkes darf so gebildet sein, wie es das Publikum will. Dieses «darf» ist eigentlich ein schlecht angewandtes Wort. Ich müßte vielmehr sagen: dem wirklichen Künstler wird es nie einfallen, die geringste Kleinigkeit an seinem Werke dem Publikum zu Gefallen zu machen.
Es ist, seit es eine Kunstwissenschaft gibt, immer von Forderungen der echten Kunst gesprochen worden. Der Künstler müsse dies oder jenes so oder so machen, wurde gesagt. Es sitzt den Herren im Blute, und selbst die modernsten Geister können sich davon nicht losmachen. Ein Mensch, der plötzlich vor sie hinträte und sagte: diese Rose ist nicht richtig, die soll anders sein, den hielten sie für einen Tollhäusler. Aber dem Künstler wagen sie es alle Tage zu sagen: Du mußt so oder so sein.
Oh, nun höre ich die Ganz-Gescheiten schon wieder einwenden: ja, dann müßte der Kritiker zu allem Ja und Amen sagen, dann müßte er alles gelten lassen. O nein, ihr Herren! Wenn einer mit einem «Theaterstück» kommt, das gar nicht in die Kategorie der «Theaterstücke» gehört, dann behandle ich ihn ebenso wie einen Menschen, der mir ein greuliches Ding aus Papiermache für eine wirkliche Rose anpreisen will.
Zwar kennen die gestrengen Herren nicht immer die Unterschiede, die hier in Betracht kommen. Vor einigen Tagen gab man hier im Berliner Residenz-Theater ein grenzenlos langweiliges, fades Ding: «Momentaufnahmen». Am Abend jubelte das
Publikum, das wahrscheinlich bei einem Stücke von Johannes Schlaf gezischt hätte. Aber erst am nächsten Tage: da konnte man seine wahren Wunder erleben.
Mit wenigen Ausnahmen — unter sie gehört natürlich die stets bewährte Tante Voß - hatten die Zeitungen etwas «zum Lobe des Autors» zu sagen. Einige besonders begabte Kritiker meinten sogar, dieser selbe Autor, der bis jetzt sich nur in leichten Schwanken versucht hätte, wäre nun literarisch ernst zu nehmen. Und einige «ganz Feine» witterten, daß er das Leben richtig zu beobachten verstehe. Es ist wirklich unmöglich, daß ein Kritiker — dieses Wort als Terminus technicus gebraucht — irgend etwas, das zur Kunst gehört, auch nur einigermaßen richtig zu beurteilen vermag, der solche Ansichten und Empfindungen vom Erleben und «Richtig-Beobachten» hat.
«Momentaufnahmen» ist ein — Ding, zusammengestoppelt und zusammengeschustert aus «Beobachtungen» eines Mannes, der die Menschen im Leben gar nicht zu beobachten versteht, sondern der nur das Leben auf der Bühne zu kennen scheint. Mir ist es einfach unbegreiflich, wie ein ausgezeichneter Schauspieler sich dazu herablassen kann, solch ein Ding zusammenzuleimen.
Ich will wahrhaftig keine Kritik über das Stück schreiben. Denn es hat nichts mit der Literatur zu tun und braucht deshalb auch nicht in einer literarischen Zeitschrift erwähnt zu werden. Aber mir stieg die — ich weiß nicht recht was für eine — Röte ins Gesicht, als ich am nächsten Morgen die Besprechungen des Machwerkes in den verschiedenen Zeitungen las. Was haben diese Kritiker alles einzuwenden gehabt, als jüngst die «Dramatische Gesellschaft», um einer literarischen Ehrenpflicht zu genügen, Johannes Schlafs «Gertrud» aufführte! Und wie benehmen sie sich nun Herrn Jarno gegenüber?
Es ist eine kulturhistorisch merkwürdige Erscheinung, daß Menschen in großen Zeitungen das Wort führen dürfen, die in einer solchen Barbarei des Geschmackes leben. Jawohl, das sind diese Leute, die nicht wissen, was eine wirkliche Rose ist, und deshalb ein Ding aus Papiermache hinnehmen und sagen: seht, wie sie lebt. So muß die wirkliche Rose sein.
Soll man nun annehmen, daß die Kritiker, die im Theater sitzen, eine auserlesene Schar bilden, die besser, vornehmer, künstlerischer als das Publikum fühlt? Dann wahrlich muß man sich über die Theorie Paul Bourgets ganz eigentümliche Ansichten bilden. Oder soll man sich ruhig eingestehen, daß das Publikum im ganzen über den Kritikern steht? Aber, was wäre das für ein Zustand! Kurz, hier liegt etwas vor, was nicht recht zu lösen ist. Es ist so merkwürdig. Ist man mit den Kritikern, deren Geistesprodukte man scheußlich findet, einmal gemütlich beisammen, so können sie ganz nett sein. Liest man sie wieder einmal, dann findet man sie entsetzlich. Da muß noch ein unbekannter Faktor im Spiel sein.
Ich habe mich an den guten Bourget erinnert, als ich die Kritiken der Berliner Tageszeitungen über das Machwerk des Herrn Jarno las. Deshalb ging ich von ihm aus. Ich sagte mir, so wird ein Dramatiker, der darnach fragt: wie soll ich dichten, damit ich der Menge gefalle? Nun, es ist genug. Ich denke: kein Künstler kann so denken, wie Paul Bourget es von dem Theaterdichter fordert. Oder es gibt unter den Theaterdichtern keine Künstler. Was würden Schiller, Shakespeare und so weiter dazu sagen?
WISSENSCHAFT UND KRITIK
Vor acht Tagen hat diese Zeitschrift einen Beitrag über «Wissenschaftliche Kritik» gebracht. Mir scheint, daß der Aufsatz in den «Dramaturgischen Blättern» seine richtige Stelle hatte, obgleich er nicht allein von Dingen handelt, die sich auf das Theater beziehen. Denn nirgends im literarischen Leben wird mehr gesündigt als in der «Theaterkritik». Deshalb halte ich es auch für angebracht, im Anschluß an diesen Beitrag diesmal einiges Ergänzende zu bringen. Ich möchte dem Ausspruch Grillparzers, den der Verfasser des genannten Artikels anführt, teilweise zustimmen. «Das kritische Talent ist ein Ausfluß des Hervorbringenden.
Wer selbst etwas machen kann, kann auch beurteilen, was andere gemacht haben.» Das unterschreibe ich unbedingt. Aber ich glaube, daß diese Sätze nicht jeder richtig auslegen wird. Die meisten werden sie so verstehen: den Lyriker soll nur der Lyriker, den Epiker der Epiker, den Dramatiker der Dramatiker und so weiter beurteilen. Ich halte eine solche Auslegung für falsch. Denn ich glaube, daß zur Ausübung einer gewissen Kunstart eine einseitige, in einer gewissen Richtung sich bewegende Begabung notwendig ist, welche die Persönlichkeit für die Eigenart ihrer Leistungen ganz besonders einnimmt und sie wenig empfänglich macht für andere Richtungen innerhalb derselben Kunstgattung. Ein Lyriker von ausgeprägter Eigenart wird ungerecht sein müssen gegen einen Lyriker von anderer Eigenart.
Weiter glaube ich, daß derjenige, welcher auf gar keinem Gebiete etwas hervorbringen kann, überhaupt nicht zum Kritiker taugt. Denn ein unproduktiver Kopf wird niemals über einen produktiven etwas zu sagen haben. Wer die Geburtswehen und die Elternfreuden, die eigene Geschöpfe verursachen, wer die Erlebnisse der geistigen Schwangerschaft nicht kennt, soll auch nicht zu Gericht sitzen über fremde Geisteskinder.
Wenn also der Lyriker nicht über den Lyriker, der Dramatiker nicht über den Dramatiker urteilen soll: ja, wer soll denn eigentlich urteilen?
Meine Meinung ist diese. Es soll ein Hervorbringender über Hervorbringungen auf einem andern Gebiete, als das seinige ist, urteilen. Ein Dichter soll über ein Werk der Malerei, ein Maler meinetwegen über ein philosophisches Buch, ein Philosoph über ein Werk der Malerei oder über ein Dichtwerk urteilen. Ich setze dabei freilich voraus, daß meine Leser verstehen, den Philosophen als Künstler zu nehmen. Jeder philosophische Gedanke ist ein Kunstwerk wie ein lyrisches Gedicht; und wer Philosoph sein will ohne produktives Talent, ist ein bloßer Wissenschafter. Er verhält sich wie der Lehrer der Kompositionslehre zum Komponisten.
Wenn ich eine Kritik lese, so frage ich immer nach dem Verfasser. Hat dieser selbst etwas produziert, so fange ich an, mich für seine kritische Tätigkeit zu interessieren. Er wird dann viel-
leicht manches Einseitige, Eigensinnige über andere Hervorbringungen sagen. Aber er wird stets etwas sagen, was verdient, gesagt zu werden. Derjenige, der selbst nichts hervorbringt, wird auch über anderer Leistungen stets nur leeres Geschwätz zustandebringen.
Einen Lyriker höre ich gerne über einen Maler, einen Philosophen höre ich gern über einen Dramatiker reden. Einen Kritiker, der nichts weiter ist als Kritiker, betrachte ich als eine überflüssige Persönlichkeit.
Nun wird man mir sagen: es hat doch Kritiker gegeben, die Wichtiges und Richtiges vorgebracht haben, und die nichts weiter waren als Kritiker. Ich antworte: das mag einmal vorkommen. Es kommt eben dann vor, wenn ein Mensch seinen Beruf verfehlt hat. Und weil das der Fall ist, hat Bismarck recht gehabt, als er den Journalisten als einen Menschen definiert hat, der seinen Beruf verfehlt hat. Ich kann mir einen Musikkritiker denken, der nie selbst in einem Zweige menschlicher Produktion etwas geleistet hat. Sagen wir: er heißt Hansück. Ich will ganz offen sprechen. Ich glaube, ein solcher Mensch hat seinen Beruf verfehlt. Er hätte eigentlich Musiker werden sollen. Seine musikalische Begabung ist nicht zur Entwickelung gekommen. Er sagt dann als Kritiker, was er als Künstler nicht zu sagen imstande ist. Wenn er Künstler geworden wäre, hätte er eine gewisse Eigenart zum Ausdruck gebracht. Man hätte sie genossen und hätte eine gewisse Vorstellung von der in Betracht kommenden Persönlichkeit. Nun ist aber diese Persönlichkeit aus irgendwelchen Gründen kein Künstler geworden. Ihre Eigenart hat keine greifbare Gestalt angenommen. Sie ist in einer Art Schlummerzustand geblieben. Wenn eine solche Persönlichkeit kritisiert, so urteilt sie im Sinne einer Eigenart, die nie das Licht der Welt erblickt hat. Das mag ja in einzelnen Fällen recht interessant sein; im allgemeinen wissen wir aber bei einer solchen Persönlichkeit nicht, was wir mit ihren Urteilen anfangen sollen.
Dennoch wird man immer wissen, ob man es im einzelnen mit einer jener Naturen zu tun hat, die ihren Beruf verfehlt haben, oder ob mit einem Menschen, der überhaupt von der Natur gar
keinen Beruf mitbekommen hat. Denn man müßte, wenn man die Bosheit besäße, die zur Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse notwendig ist, von den meisten Kritikern sagen: das sind Leute, die keinen Beruf verfehlen konnten, weil sie nie einen hatten.
Wenn ein Journalist, der nie etwas Selbständiges hervorgebracht hat, dem ich einen Kunstwert beilegen kann, über ein Theaterstück schreibt, so hat das nicht mehr Wert, als wenn eine geistreiche Dame in einem Salon ihre Meinung über dieses Werk zum besten gibt. Aber man sehe mich, weil ich dieses sage, nicht gleich als Pedanten an. Ich bin ja gar nicht der Ansicht, daß nur derjenige ein Künstler ist, der die Leinwand mit Farben überstreicht, oder der was Gedrucktes in die Welt setzt. Ich gehöre zu den reinen Toren, die an den Raphael ohne Hände glauben. Vielleicht ist die Dame, die im Salon mir ihre Meinung über den neuesten Hauptmann zum besten gibt, ein Lyriker, dem nur das Organ fehlt, die Empfindungen in die nötige Form zu bringen.
Das mag schon stimmen. Aber ich spreche nicht von den Damen im Salon, die aus Mangel an Organ keine Lyriker geworden sind. Das habe ich nicht nötig. Denn sie schreiben ja eben nicht. Ich spreche von den schreibenden Menschen. Und das sind in der Gegenwart zumeist keine Raphaels ohne Hände, sondern Leute, die Hände und nichts als Hände haben.
Man kann es heute erleben, daß Künstler ganz im allgemeinen über jegliche Kritik in der ablehnendsten, wegwerfendsten Form sprechen. Das kommt aber nur daher, weil sie zumeist von unproduktiven Leuten kritisiert werden, von Leuten, die ihnen absolut nichts zu sagen haben.
Ich habe nie meine Meinung darüber, wer über einen Künstler urteilen soll und wer nicht, besser bestätigt gefunden, als wenn ich Schauspieler habe über Schauspieler und wenn ich unkünstlerische Naturen habe über Schauspieler urteilen hören. Schauspieler haben über andere Schauspieler überhaupt kein Urteil. Und unkünstlerische Naturen reden über schauspielerische Leistungen bloß tollen Unsinn. Jeder Schauspieler geht in seiner Eigenart auf; und wer gewisse Dinge anders macht als er selbst, den hält er für einen schlechten Künstler. Die unkünstlerische Natur glaubt, daß Schau-
Spielkunst eine leichte Sache ist, und hält jeden für einen großen Mimen, der sie amüsiert. Beider Urteü ist nicht wert, daß man davon spricht. Ein Maler, ein Lyriker, ein Musiker, ein dramatischer Schriftsteller, ein Philosoph können über einen Schauspieler urteilen, ein Schauspieler und ein Unkünstler aber nicht. Der Schauspieler vermag uns nur etwas zu sagen, was zuletzt doch darauf hinausläuft: dieser macht es anders als ich, und was ich mache, ist allein richtig. Der Unkünstler schwatzt dummes Zeug in die Luft hinein.
Künstler sollten nur Künstler beurteilen; aber nie sollten Künstler über Künstler des gleichen Kunstzweiges urteilen. Fände dieser Grundsatz in der Theaterkritik Eingang, so gäbe es wahrscheinlich eine große Nachfrage nach Theaterkritikern und nur ein kleines Angebot. Aber man muß schon einmal mit der Tatsache rechnen, daß in unserer Zeit auch einmal das Angebot die Nachfrage wesentlich übersteigen kann.
Vielleicht könnten, wenn dieser Grundsatz befolgt würde, überhaupt nicht alle Stellen besetzt werden. Aber was schadet es, wenn zum Beispiel in Berlin nicht alle Tagesblätter den Winter durch ihre obligaten Theaterkritiken brächten. Die meisten dieser Kritiken stammen von Leuten, die nichts, rein gar nichts über die Dinge zu sagen haben, über die sie schreiben. Warum soll denn durchaus jedes Stück, das auf die Bühne gebracht wird, Veranlassung geben zur Verschwendung einer Unmenge Druckerschwärze und Tinte? Von der Zeit, die die Schreiber verschwenden, will ich nicht reden, denn um die ist es nicht eigentlich schade. Ich glaube nicht, daß diejenigen, welche sie verschwenden, sie bei einer andern Beschäftigung besser anwenden würden.
Kritik sollte im Grunde Nebenbeschäftigung sein. Was ein Künstler über Kunstarten zu sagen hat, die nicht die seinigen sind, soll er uns als Kritiker sagen. Kritik als Hauptbeschäftigung ist Unsinn. Aber es wimmelt ja in großen Städten von Kritikern, die nichts als Kritiker sind. Und wie gelten die Stimmen solcher Nichts-als-Kritiker? Bei den Künstlern selbst gelten sie eigentlich wenig. Beim Publikum dagegen um so mehr. Das ist traurig. Denn ein kritisches Urteil, das von einem künstlerisch empfindenden
Menschen nicht anerkannt wird, sollte überhaupt nirgends eine Geltung haben.
Über das Getriebe der Kritik hört man selten unbefangen sprechen. Denn leider ist die kritische Art der unproduktiven Leute eine Macht geworden, mit der die meisten Künstler, nicht nur das Publikum, rechnen. Im vertraulichen Kreise zwar hört man die Künstler in der ungezwungensten Weise über die Phrasen der Kritiker ihre Witze machen; in der Öffentlichkeit wird nur selten über dieses Getriebe etwas gesagt. Ich habe einmal meine ganz unbefangene Meinung sagen wollen.
AUCH EIN SHAKESPEARE-GEHEIMNIS
Immer und immer wieder muß ich mir die Frage vorlegen: worauf beruht die weite Wirkung einiger Shakespearescher Dramen? «Hamlet», «Othello», «Der Kaufmann von Venedig», «Romeo und Julia» machen auf Gebildete und Ungebildete, auf Klassisch-und Modern-Gesinnte, auf Idealisten und Lebemenschen einen gleich tiefen Eindruck. Und wir haben das Gefühl, daß wir Gegenwärtigen diesem Dichter einer relativ längst vergangenen Zeit so gegenüberstehen, als wenn er heute unter uns lebte. Man braucht daneben nur an die Wirkungen von Dichtungen wie zum Beispiel Goethes «Iphigenie» und «Tasso» zu denken, um sich den Unterschied in vollkommener Deutlichkeit vor Augen treten zu lassen. Und was die Veränderlichkeit des Einflusses dramatischer Kunstwerke in der Zeit betrifft, so möchte ich aufmerksam machen auf das Abnehmen der Begeisterung für Schillers Schöpfungen im Laufe unseres Jahrhunderts. Nur Shakespeares Dramen scheinen jedem Grade und jeder Art der Bildung und nicht minder jeder Zeit die gleiche Schätzung abzuringen.
Ich glaube, man muß auf die Grundursachen der Wirkungen von Kunstwerken eingehen, wenn man die eben berührte Frage lösen will.
In unserer Zeit ist das nicht leicht. Denn in dem Zweige menschlichen Denkens, den man heute Ästhetik nennt, herrscht eine Fülle von Vorurteilen, die eine Verständigung unter unseren Zeitgenossen über gewisse Grundfragen der Kunst geradezu ausschließen.
Vor allen Dingen denke ich, indem ich dieses sage, an gewisse Kritiker, auf die alles, was innerhalb der Kunstbetrachtung nach Weltanschauung oder Philosophie aussieht, wie auf den Stier ein rotes Tuch wirkt. Wie der Dichter über die Dinge denkt, die den Inhalt zu seinen Werken abgeben, das soll ganz gleichgültig sein. Ja, diese Kritiker sind sogar der Ansicht, daß der Künstler um so größer ist, je weniger er überhaupt denkt. Man beliebt einen Dichter, von dem man glaubt, daß er gar nicht denkt, «naiv» zu nennen, und begeistert sich für seine Schöpfungen, deren holde «Unbewußtheit» man in allen Tonarten preist. Und mißtrauisch wird man sofort, wenn man merkt, daß ein Dichter eine Weltanschauung hat, der er in seinen Werken zum Ausdrucke verhilft. Man glaubt, die Naivität, die Unbewußtheit des Schaffens gehe ihm dadurch verloren. Manche Kunstbetrachter gehen so weit, zu sagen, der Dichter, der nicht wie ein Kind in einem Traumzustand lebt, der ihm die Klarheit der Gedanken verdunkelt und verbirgt, sei überhaupt kein wahrer Dichter. Ich habe es oft hören und lesen müssen, daß Goethes Größe darauf beruhe, daß er über seine künstlerischen Leistungen nicht nachgedacht hat, daß er wie in Träumen lebte, und daß ihm Schiller, der Bewußtere, seine Träume erst deuten mußte.
Ich habe mich oft gewundert darüber, daß man einem solchen Vorurteil zuliebe die Tatsachen geradezu auf den Kopf stellt. Denn gerade bei Goethe läßt sich nachweisen, daß die ganze Art seines künstlerischen Schaffens aus einer klaren, scharf umrissenen Weltanschauung folgt. Goethe war ein Erkenntnismensch. Er konnte nichts um sich sehen, ohne darüber sich eine in Begriffen deutlich formulierbare Ansicht zu bilden. Als der Herzog Karl August ihn nach Weimar rief und ihn zu allen möglichen praktischen Tätigkeiten veranlaßte, da wurden die Dinge, mit denen er es in der Praxis zu tun hatte, für ihn zu Quellen, aus denen er
seine Kenntnis der Welt und der Menschen unablässig bereicherte. Die Beschäftigung mit dem Ilmenauer Bergbaue führte ihn dazu, die geologischen Verhältnisse der Erdrinde eingehend zu studieren und sich auf Grund dieser Studien eine umfassende Ansicht über die Bildung der Erde zu machen. Auch dem Genüsse der Natur konnte er sich nicht als bloß Genießender hingeben. Der Herzog schenkte ihm einen Garten. Er konnte sich nicht bloß an Blumen und Pflanzen freuen; er suchte bald nach den Grundgesetzen des Pflanzenlebens. Und dieses Suchen führte ihn zu den epochemachenden Ideen, die er in seinen morphologischen Arbeiten niedergelegt hat. Diese Studien, in Verbindung mit der Betrachtung der Kunstwerke in Italien, bildeten bei ihm eine Weltanschauung aus, die scharfe, begriffliche Konturen hat, und aus der seine künstlerische Art mit Notwendigkeit geflossen ist. Diese Weltanschauung muß man kennen; man muß sein ganzes Geistesleben mit ihr durchdrungen haben, wenn man von Goethes Kunstwerken den rechten Eindruck empfangen will. Goethe ist, wenn man das von den Gegenwärtigen arg mißbrauchte Wort noch anwenden will: Naturalist Er wollte die Natur in ihrer Reinheit erkennen und in seinen Werken wiedergeben. Alles, was zur Naturerklärung zu Dingen Zuflucht nahm, die nicht in der Natur selbst zu finden sind, war seiner Vorstellungsart zuwider. Jenseitige, transzendente, göttliche Gewalten lehnte er in jeder Form ab. Ein Gott, der nur von außen wirkt, nicht die Welt im Innersten bewegt, geht ihn nichts an. Jede Art von Offenbarung und Metaphysik war ihm ein Greuel. Wer den Blick unbefangen auf die wirklichen, die natürlichen Dinge richtet, dem müssen sie aus sich selbst ihre tiefsten Geheimnisse enthüllen. Aber er war nicht so wie unsere modernen Tatsachenfanatiker, die nur die Oberfläche der Dinge sehen können und «natürlich nur dasjenige nennen, was sich mit Augen sehen, mit Händen greifen und mit der Waage wägen läßt». Diese oberflächliche Wirklichkeit ist ihm nur die eine Seite, die Außenseite der Natur. Er will tiefer in das Getriebe sehen; er sucht die höhere Natur in der Natur. Er ist nicht damit zufrieden, die Fülle der Pflanzen zu betrachten und in ein System zu bringen; er will in ihnen eine Urform, die Ur-
pflanze, entdecken, die ihnen allen zugrunde liegt; die man nicht sehen kann, sondern die man in der Idee erfassen muß. So macht er es auf allen Gebieten. .Auch die Menschen und ihre gegenseitigen Verhältnisse betrachtet er so. Das wirre Getriebe der Menschen, die mannigfaltigen Charaktere sucht er auf einige typische Grundformen zurückzuführen. Und diese Grundformen, diese Typen, nicht die Erscheinungen der alltäglichen Wirklichkeit, sucht er in seinen Dichtungen zu verkörpern. Die höhere menschliche Natur in der Natur stellen seine Iphigenie, sein Tasso dar. Und die Möglichkeit, höhere Naturen darzustellen, ergab sich ihm, weil er in rastloser Erkenntnisarbeit zu einer bestimmten Ansicht, zu einer klaren Ideenwelt gekommen war. Nur wer seine Grundansicht hat, kann die Menschen und ihr Zusammenleben so darstellen, wie er es getan hat. Und verstehen kann diese Ansicht nur der, der sich Goethes Weltanschauung zu eigen gemacht hat. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Abhängigkeit der dichterischen Technik Goethes von seiner Weltanschauung. Ein Tatsachenfanatiker arbeitet seine Gestalten so heraus, daß sie uns erscheinen wie Erscheinungen des alltäglichen Lebens. Dazu muß er auch technische Mittel anwenden, die den Eindruck der niederen Natürlichkeit machen. Goethe muß andere künstlerische Mittel anwenden. Er muß in Linien und Farben zeichnen, die über das Oberflächliche der Dinge hinausgehen, die überwirklich sind und doch mit dem Zauber auf uns wirken, welcher die Notwendigkeit des natürlichen Daseins hat.
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