Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge Stadt und Hof Jahrgang 1 (2012)



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2. Forschungsstand

In der kunsthistorischen Forschung zu Mainz wurde diese Fragestellung bislang noch nicht untersucht, da sich das Augenmerk vorwiegend auf das bedeutende mittelalterliche Erbe richtete. Von daher beschränkt sich die kunsthistorische Forschung zum frühneuzeitlichen Bauwesen in Mainz bisher vor allem auf kleinere Aufsätze, in denen Einzelbauten in erster Linie stilanalytisch und bauhistorisch untersucht wurden26. Umfangreichere Baumonographien wie die Arbeiten zum bürgerlichen Haus27, zum Jüngeren Dalberger Hof28 oder zum kurfürstlichen Schloss29 stellen Ausnahmen dar, denen zudem häufig noch eine umfassende kulturwissenschaftliche Perspektive fehlt. Der städtische Raum als Spiegel politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist in der Forschung zu Mainz daher bisher nur unzureichend betrachtet worden. Der Grund für die Vernachlässigung des historisch gewachsenen Stadtraumes mag in der starken Zerstörung während des Zweiten Weltkrieges und der rücksichtslosen Stadtplanung im Innenstadtbereich der Nachkriegszeit liegen, sodass von der ehemaligen Pracht der Residenzstadt nur noch relativ wenig erhalten ist. Erst in jüngerer Zeit wurden Arbeiten veröffentlicht, die sich dezidiert mit dem Stadtraum beschäftigen. So untersuchte Cornelia Buschbaum anhand der Mainzer Stadtaufnahmen die Entwicklung des Flächen- und Häuserbesitzes nach sozialen Gruppen und konnte dabei die Ausbreitung des Adels und des Kurfürsten in der Stadt zuungunsten der Bürger und des Klerus nachzeichnen30. Ebenso zu nennen ist das online verfügbare „Digitale Häuserbuch von Mainz“, ein Projekt des Mainzer Stadtarchivs, in dem die Besitzverteilung in der Stadt für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts graphisch vorgestellt wird31. Thomas Hilsheimer legte zuletzt 2011 in einem Aufsatz eine Rekonstruktion des Gebietes zwischen Schillerplatz und Höfchen vor.32 Die genannten Arbeiten entstanden jedoch in erster Linie aus einer historischen Perspektive und sind dabei entweder auf einen kleinen Untersuchungszeitraum begrenzt oder auf einen kleinen geographischen Radius.

Die begonnene Dissertation knüpft hier an und stellt damit erstmals den städtischen Raum der Residenzstadt Mainz in den Fokus einer größeren kunsthistorischen Arbeit. Durch die Wahl des Untersuchungszeitraumes und der genannten Untersuchungsbeispiele soll die Baupolitik in Mainz als Mittel und Spiegel politischer Beziehungen zwischen den maßgeblichen städtischen Gruppen, Personenverbänden und Institutionen umfassender nachgezeichnet werden, als es bisher geschehen ist. Die Arbeit bietet dabei nicht nur eine historisch-stadttopographische Rekonstruktion, sondern stellt darüber hinaus die ästhetische Überformung der Stadt als zentralen Prozess der räumlichen Aneignung durch die städtischen Eliten heraus. Indem die Sprachfähigkeit und die Wirkung von Architektur auf den Rezipienten sowohl im Stadtraum durch die Bauwerke selbst als auch durch ihre publizistische Verbreitung mittels druckgraphischer Bildmedien hervorgehoben werden, leistet die Dissertation einen Beitrag zum tieferen Verständnis von architektonisch und urbanistisch artikulierten Machtbeziehungen und Formen der Herrschaftsausübung im frühneuzeitlichen Mainz. Der Status von Mainz als Residenz des wichtigsten Erzbischofes des Reiches stellt die Ergebnisse der Arbeit darüber hinaus in den überregionalen Diskurs zur Struktur, Funktion und Gestalt geistlicher Residenzstädte.

3. Quellen

Als Quellengrundlage der Untersuchung dient in erster Linie der heutige Mainzer Stadtgrundriss, durch den palimpsesthaft die historische Entwicklung der Stadt durchscheint. Entscheidend sind zudem die noch erhaltenen frühneuzeitlichen Palaisbauten. Trotz ihrer zum Teil stark rekonstruierten Zustände bieten sie immer noch einen Abglanz der barocken Stadt und sind daher auch in Bezug auf die Bewertung ihrer Wirkung im Stadtraum von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus sind vor allem Bildquellen wie gemalte oder druckgraphische Stadtansichten ein entscheidendes Medium zur Rekonstruktion von Platz- und Gebäudeensembles. Zu nennen sind hier insbesondere die Stadtansichten von Franz von Kesselstatt, die zwar nur eine begrenzte Anzahl ausgewählter Motive wiedergeben, durch ihre Genauigkeit aber von großem Quellenwert sind. Weitere wichtige Quellen stellen historischen Stadtpläne sowie die Mainzer Stadtaufnahmen von 1568 bis 1785/86 dar, die Bestandsaufnahmen aller Häuser samt Besitzer und Zustandsbeschreibungen enthalten. Weiterhin sind auch die schriftlichen Quellen der Stadt- und Bauverwaltung, insbesondere aus dem Mainzer Stadtarchiv und dem Staatsarchiv Würzburg, für die Rekonstruktion der historischen Stadttopographie unerlässlich und werden mit berücksichtigt.



4. Historische Voraussetzungen

Mainz befand sich im späten 18. Jahrhunderts am Ende eines lang andauernden städtischen Transformationsprozesses, der nach dem Verlust der Stadtfreiheit 1462 durch die Eroberung von Fürstbischof Adolf II. von Nassau und der parallel verlaufenden Vertreibung und Flucht der städtischen Eliten einsetzte. Auch wenn sich die Stadt erst im 17. Jahrhundert endgültig als Hauptresidenz der Kurfürsten durchsetzen konnte, wurde unmittelbar nach ihrer Eroberung der Herrschaftsanspruch der Kurfürsten gegenüber dem städtischen Rat durch den Bau der Martinsburg zum Ausdruck gebracht. Als Kernanlage des späteren kurfürstlichen Schlosses blieb sie bis 1809 erhalten. Mit der Etablierung des Hofes in Mainz war die Stadt mit ihrer Kathedralkirche nunmehr nicht nur geistliches Zentrum der größten Erzdiözese des Alten Reiches, sondern auch weltliches Zentrum des Erzstiftes, das ein weit verstreut liegendes Territorium vom Untermain über den Rheingau und Taunus bis nach Erfurt und das Eichsfeld umfasste.

Der Ansiedlung des Hofes folgte eine weitreichende gesellschaftliche Umwälzung, bei der die Bürgerschaft jegliche Partizipation an der politischen Macht in der Stadt verlor. Die Machtkonzentration lag fortan bei dem Kurfürsten und bei dem Domkapitel als zweitwichtigste politische Instanz. Da sich der Kurfürst aus dem Domkapitel rekrutierte und das Domkapitel von Mitgliedern des Adels besetzt wurde, stellte der Adel die Basis für das neue Machtgefüge. Dies wird insbesondere in der Verteilung des Stadtraumes augenfällig. Mitte des 17. Jahrhunderts besaßen nach Rödel der Klerus 42,9% der bebauten Flächen innerhalb der Stadt, der Adel und der Kurfürst zusammen 14,7% und die Bürger 42,4%. Allerdings machten die Bürger 95% der Stadtbevölkerung aus, auf deren Grundstücke sich 80% aller vorhandenen Häuser befanden. Die Häuserkonzentration auf den Bürgergrundstücken war somit wesentlich höher als bei den Grundstücken des Kurfürsten, Adels und Klerus’. Im Stadtbild waren damit zugleich der Kurfürst, der Adel und der Klerus überproportional präsent33. Diese Tendenz verstärkte sich bis zum Ende der Residenzstadtzeit noch und wurde vor allem an den drei zentralen Orten in der Stadt deutlich, die die Untersuchungsgrundlage der Dissertation darstellen: dem Regierungsviertel mit dem kurfürstlichen Schloss, dem Schillerplatz und der Anlage des Bleichenviertels.

Durch den Bau der Martinsburg ab 1477 als Kernbau des späteren frühbarocken Schlosses mitsamt den nachfolgend errichteten Bauten wie der Regierungskanzlei, der Hofkirche und dem Alten Zeughaus verlagerte sich das politische Zentrum der ehemals freien spätmittelalterlichen Stadt vom Brand nördlich des Domes an den äußersten Rand der Stadt. Im 18. Jahrhundert erfuhr das Gebiet mit dem Bau des Deutschordenshauses und dem Neuen Zeughaus eine weitere Verdichtung als politisches Zentrum. Die damit eingeleitete Nutzungstradition des Gebietes als Regierungsviertel wird bis heute mit dem Sitz des Landtages im Deutschordenshaus aufrechterhalten.

Auch der Schillerplatz am westlichen Rand der Stadt erfuhr insbesondere ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Umwertung. Bürgerliche Häuser wurden nach und nach durch Adelspalais verdrängt. Stadttopographisch zählte die Platzanlage, die vor der Errichtung des Schillerdenkmals 1862 Dietmarkt oder Tietmarkt genannt worden war, zu den größten umbauten Stadtflächen. Der Platz erstreckt sich trichterförmig nach Süden und ist in seiner Grundausrichtung heute noch so erfahrbar. Die Präsenz des Adels um den Platz wurde ab 1668 durch den Bau des Schönborner Hofes eingeleitet. Weitere Adelspalais folgten und setzten damit die Reihe der Palaisbauten entlang der Emmeranstraße nach Westen fort.

In dem dritten städtischen Raumgefüge, dem Bleichenviertel, ist der bewusst gestalterische Eingriff in die Stadtstruktur durch den Landesfürsten offensichtlich. Unter Kurfürst Johann Philipp von Schönborn wurde ab 1663 mit der Stadterweiterung im Norden der Stadt begonnen. Durch drei vom kurfürstlichen Schloss aus parallel verlaufende Straßenzüge, die durch Seitenstraßen verbunden waren, erhielt das Gebiet eine geometrische Gliederung, die heute noch als Hintere, Mittlere und Große Bleiche das nördliche Altstadtgebiet bestimmt. Die Straßenzüge waren großzügig und regelmäßig angelegt und standen damit im starken Gegensatz zu den engen und krummen Altstadtgassen. Das Bleichenviertel wurde anfangs nur sehr schleppend besiedelt und war vornehmlich durch Bürgerbauten geprägt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erfuhr es aber durch die Ansiedlung von Adelspalais, dem Bau einer repräsentativen Brunnenanlage auf dem Neubrunnenplatz sowie dem Neubau des kurfürstlichen Marstalls an der Großen Bleiche eine repräsentative Aufwertung.

Anhand einer historisch-stadttopographischen Längsschnittanalyse dieser drei Orte sollen die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der aktiven Stadtgestaltung durch den Kurfürsten und den Adel herausgestellt werden. Die Möglichkeiten waren denkbar groß, da mit dem Regierungsviertel, der Errichtung prächtiger Palaisbauten am Schillerplatz und der Anlage des Bleichenviertels umfangreiche stadtplanerische Vorhaben umgesetzt wurden. Die Grenzen der aktiven Stadtgestaltung lassen sich allerdings ebenso aufzeigen, da – zumindest beim Schlossviertel und den Bleichen – große Bauvorhaben auf zuvor weitgehend unbewohntem Gebiet ausgeführt wurden und nicht im dicht besiedelten Altstadtbereich.


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