3.2 Mit Strom für mehr Lebensqualität
Die Elektrifizierung des Umlands (1948 - 1968)
Abb. 53: Das Alte stürzt... Abb. 54: ...und die Elektrizität kommt
Ab 1948 trieb die PESAG auch den Netzausbau im Umland stetig voran. 1953 verschwand der letzte weiße Fleck auf der Karte des PESAG-Versorgungsgebiets: Rund 100 Gehöfte im Sudhäger Bruch bei Delbrück erhielten elektrischen Strom. 1955 zählte die PESAG 69 unversorgte Häuser, 1959 schließlich nur noch fünf.694 Begleitet wurden die Baumaßnahmen von den Werbeaktivitäten der PESAG und EG PESAG: In Veranstaltungen, unter anderem mit dem programmatischen Titel „Das Alte stürzt... das ist der Zeiten Lauf – und nichts hält die Elektroküche auf!“ demonstrierten sie,695 wie fortschrittlich und multifunktionell die Elektrizität „in Wohnung, Werkstatt, Hof und Stall“ einsetzbar sei (Abb. 53 - 54). Mit dem „Alten“ wurde die gerade auf dem Land noch verbreitete Tradition, Kohle oder Holz als Koch- und Heizenergieträger zu verwenden, attackiert. Der „Ausstellungs-Werbe-Wagen“ fuhr ab August 1950 über die Dörfer und stellte Elektrogeräte aus, vor allem Herde, um der Propangas-Werbung die Stirn zu bieten, und nachtstromverbrauchende Futterdämpfer.696 Einzelne Mitglieder der EG präsentierten darüber hinaus in Sonderausstellungen Elektrogeräte.
Diese Entwicklung war auch im Sinne der Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe: Diese sah eine Vollelektrifizierung der Betriebe und Haushalte als unerläßlich an, um den Lebensstandard der bäuerlichen Familie zu heben. Unter anderem sollte auf diese Weise den unverheirateten Jungbauern zu größeren Chancen auf dem Heiratsmarkt verholfen werden. Doch ein viel größeres Problem stellte die wachsende Landflucht dar; die Zahl der Arbeitskräfte nahm dramatisch ab,697 zumal im Zuge der Industrialisierung und des wachsenden Wohlstands auch die Löhne stiegen, womit die Landwirte nicht Schritt halten konnten. Als einziger Ausweg erschien der Einsatz der Technik mittels Landmaschinen, aber auch mittels Elektrizität. Daher arbeitete die Landwirtschaftskammer eng mit der PESAG zusammen. Zum Beispiel stellte sie ihr zinslose Darlehen zur Unterstützung der Elektrifizierung auf dem Land zur Verfügung.698 Beide richteten gemeinsam Elektro-Beispielhöfe ein, die die vielfältigen Möglichkeiten der Elektrizität in Stall und Wohnung demonstrieren sollten. Schwerpunkte waren das elektrische Kühlen zur Effektivitätssteigerung der Vorratshaltung und das elektrische Waschen, damit die Bäuerinnen, die täglich enorme Mengen an Schmutzwäsche zu verarbeiten hatten, entlastet wurden. Des weiteren förderten sie die Einrichtung von Gemeinschafts-Gefrier- und -Waschanlagen, die von mehreren Betrieben genutzt wurden.699 Darüber hinaus fanden die Fortbildungsseminare der Landwirtschaftskammer für die Landfrauen in der Lehrküche der PESAG-Beratungsstelle statt.700
Auch die Landwirtschaftsschulen engagierten sich für die Elektrizität. Einige Beispiele: In Zusammenarbeit mit den Landwirtschaftsschulen in Paderborn und Salzkotten hielt Fritz Wolff Vorträge zum Thema „Alles elektrisch! Strom hilft dem Bauer, Strom hilft der Bäuerin!“. In mehrtägigen Schulungen in der Landwirtschaftsschule Paderborn ließen sich Landwirtschaftslehrerinnen aus der gesamten Region über die Wärmewirtschaft im ländlichen Haushalt informieren; Marieluise Grothe bot neben Vorträgen Koch- und Backvorführungen an.701 Im Rahmen einer im Juni 1952 in Paderborn stattfindenden Landwirtschaftsschau für die Kreise Paderborn, Büren, Höxter, Warburg, Lippstadt und Soest stellte die EG PESAG gemeinsam mit der Landwirtschaftsschule in Paderborn „arbeitserleichternde Geräte“ vor.702
Allerdings mußten sich PESAG und EG PESAG mit der Werbung für mehr Stromeinsatz in den ländlichen Gebieten etwas zurückhalten, denn das Elektrizitätswerk konnte eine zuverlässige Stromversorgung nicht gewährleisten: Aufgrund der enormen Kosten für Leitungen und Transformatoren war die PESAG immer noch nicht in der Lage, die ländlichen Ortsnetze allein mit eigenen finanziellen Mitteln auszubauen. Neben der Landwirtschaftskammer mußten insbesondere der Kreis Paderborn und das Land Nordrhein-Westfalen das Unternehmen mit der Vergabe von zinslosen Darlehen unterstützen.703 Doch vor allem die Bundesregierung investierte ab 1955 im Rahmen eines Förderprogramms, des „Grünen Plans“, große Summen in die Strukturverbesserung der Landwirtschaft, da diese als wichtigste Voraussetzung für den Wettbewerb in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) angesehen wurde. Daher stellte der Bund auch den Elektrizitätswerken jedes Jahr im Rahmen des „Grünen Plans“ Kredite für den Ausbau der ländlichen Ortsnetze zur Verfügung.704
Indes konnte sie selbst Anfang der 1960er Jahre noch keine sichere Stromlieferung garantieren, da die Versorgungsanlagen der sprunghaft steigenden Technisierung der ländlichen Betriebe nicht gewachsen waren. Schon der Anschluß eines größeren Apparats in einem Gewerbebetrieb oder von mehreren Haushaltgeräten in einer Wohnung, vor allem von stromfressenden Heißwasser- oder Heizgeräten, konnte für eine rapide Verschlechterung der Stromqualität vor Ort sorgen, wenn keine Transformatorenstation in der Nähe war. Aus allen Teilen des Versorgungsgebiets ertönten laute Klagen über eine unzureichende Stromspannung, die einen Betrieb von Elektrogeräten erschwerte oder unmöglich machte. Die PESAG vertröstete ihre Abnehmer und empfahl sogar die Anschaffung von Notstromaggregaten.705 Die häufigen Stromunterbrechungen beeinträchtigten die Stromwerbung der PESAG ungemein, wie Fritz Wolff besorgt feststellte. Wiederholt wurden Werbeveranstaltungen dadurch gestört, daß aufgebrachte Bürger ihrem Ärger über die mangelhafte Stromversorgung Luft machten. Auch der Konkurrenzkampf gegen das Propangas litt in empfindlicher Weise.706
Im Frühjahr 1961 verkündete Heinrich Lange schließlich mit großer Erleichterung, die Schwierigkeiten seien überwunden und eine sichere und zuverlässige Stromversorgung nun für mindestens 30 Jahre gewährleistet. Somit müsse sich auch die Stromwerbung auf dem Land nicht mehr „allzu sehr beschränken“.707 Der Anstoß zu neuen Werbeaktivitäten kam aus Bonn: Zu Beginn der 1960er Jahre initiierte die Bundesregierung im Rahmen des „Grünen Plans“ die Aktion „Arbeitserleichterung der Bäuerin“. Um den stark beanspruchten Bäuerinnen die Arbeit zu erleichtern und die ländlichen Lebensverhältnisse zu verbessern, förderte das „Bäuerinnenhilfsprogramm“ vor allem den Einbau von Warmwasser- und Heizungsanlagen mit Zuschüssen von 30 - 40 %. Wurden mindestens drei Zapfstellen mit Warmwasser versorgt, gewährte der Bund bis zu 500 DM, erhielten mindestens drei Räume im Haus eine Zentral- oder Elektrospeicherheizung, gab es bis zu 1.500 DM.708 Diese Gelegenheit nutzend, startete die EG PESAG gemeinsam mit dem Gerätehersteller Stiebel-Eltron eine über mehrere Jahre laufende Werbung für die Elektro-Heißwasserbereitung. Zwei Verkaufskolonnen wurden im Versorgungsgebiet eingesetzt und verkauften bis 1966 über 2.100 Heißwassergeräte im Wert von fast 500.000 DM, vor allem Kochendwasser- und Speichergeräte.709
Auch im Stall setzte sich die Elektrizität immer mehr durch. Gerade die zunehmende Massentierhaltung, so kritisch diese auch aus heutiger Sicht zu sehen ist, profitierte von der Elektrifizierung. Zahlreiche Elektrogeräte fanden Verbreitung, zum Beispiel die elektrische Melkmaschine: 1960 wurden im Kreis Paderborn 610 Melkmaschinen gezählt, 1968 rund 1.000.710 Auch die in der Region stark vertretende Hühnerhaltung und Hähnchenmast war abhängig von Elektrizität in Form von Brutkästen und Klimaanlagen. Dagegen bereiteten Dreschmotoren der PESAG immer noch große Sorgen: 1954 verbot sie die Verwendung von beweglichen Anschlußvorrichtungen; unter anderem, weil diese von den Lohndreschern häufig fehlerhaft genutzt wurden, was zu erheblichen Betriebsstörungen führte.711 Die Entnahme von Dreschstrom durfte nur über fest installierte Dreschkontakte erfolgen, um den Stromverbrauch besser kontrollieren zu können.712 Trotzdem bewirkte der Einsatz von Dreschmotoren weiterhin regelmäßig Spannungsabfälle. Erst als mit der Einführung der Mähdrescher das elektrische
Dreschen überflüssig wurde, löste sich auch dieses Problem.713 Das Elektrizitätswerk trauerte den ungeliebten Dreschmotoren aber nicht hinterher, zumal mit den Getreidetrocknungen ein neuer Großverbraucher hinzugekommen war.
Damit hatte sich trotz aller finanziellen und technischen Hindernisse, die im Verlauf von sechs Jahrzehnten zu überwinden gewesen waren, die Elektrizität auch auf dem Land durchgesetzt.
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