Dichtung digital
Auf der Suche nach E-Books abseits des Mainstreams
Von Elke Heinemann
(leicht gekürzt unter dem Titel „Wir sind die Fährtenleser der neuen Literatur“ am 22.11.2014 in FAZ und FAZ.NET erschienen)
„Auch wenn alle einer Meinung sind, heißt das noch lange nicht, dass sie Recht haben.“ Dieser Satz, dem britischen Philosophen Bertrand Russell zugeschrieben, könnte das Motto jenes kritischen, vor kurzem in der Literaturzeitung „Volltext“ erschienen Aufsatzes sein, in dem der Dichter und Publizist Felix Philipp Ingold der Literaturkritik „in Klagenfurt und anderswo“ vorgeworfen hat, mit der „Laienherrschaft“ der Masse zu paktieren, die nicht an literarischen Kunstformen interessiert sei sondern an wirklichkeitsnahen, unterhaltsamen, spannenden und anrührenden Stoffen. Ingold empfiehlt, das gedruckte Buch der Dichtung aus dem Elfenbeinturm vorzubehalten, weil sie die mehrfache Lektüre lohne, und die trendig-realistischen, durch ausreichende „Likes“ beglaubigten, mit Klagenfurter Bachmann-, Deutschen Buch- und Meraner Lyrikpreisen ausgezeichneten Werke den elektronischen Medien zuzuschlagen, so dass sie keinen physischen Raum einnehmen müßten und jederzeit gelöscht werden könnten.
Ingolds Fundamentalkritik ist zum Teil klug und wahr, zum Teil polemisch und überspitzt. So stimmt es, dass in den 90er Jahren, in jener Zeit also, in der das Internet mehrheitsfähig wurde, Kritiker, Dozenten, Verleger und Buchhändler mit Blick auf ultimative Versuchsanordnungen wie „Zettels Traum“ sowie auf Verkaufszahlen us-amerikanischer Romane das Ende des deutschsprachigen Literaturexperiments beschworen und einen literarischen Realismus ohne stilistische oder kompositorische Wagnisse mit schlichten Darstellungsweisen hochlobten, wie man sie aus der sogenannten „U-Literatur“ kannte, die heute in ihrer Umetikettierung als „Entertainment“ mit Sex and Crime, Monstern und Vampiren sehr selbstbewußt den rasch expandierenden Digitalmarkt beherrscht, egal, ob sie von Profis oder von Amateuren ins Netz gestellt wird. Allerdings gibt es im Literaturpool des World Wide Web neben dem Genre nicht nur die elektronische Version einer Gegenwartsdichtung, die im Druck zu Recht oder zu Unrecht Aufmerksamkeit erfahren mag, sondern auch ambitionierte, im Literaturbetrieb weitestgehend ignorierte Sprachkunstwerke.
Kolumbus benutzte einen Kompass, um in einem noch nicht kartierten Seegebiet Neuland zu entdecken. Die Berliner E-Book-Boutique „minimore.de“, die seit diesem Jahr ein ausgesuchtes Sortiment digitaler Titel ohne komplizierten Kopierschutz in allen gängigen, für E-Book-Reader und andere Lesegeräte geeigneten Formaten präsentiert, ist eine Art Kompass bei der Suche nach anspruchsvoller Literatur im Internet. Die Begründer der Plattform, Marc Degens, Torsten Franz und Frank Maleu, haben als Leitgestirn des Berliner Independent-Verlags „SuKuLTuR“ Erfahrung mit ungewöhnlichen Vertriebswegen. Seit zehn Jahren verkaufen sie in Süßwarenautomaten ihre reklamheftinspirierte Reihe „Schöner Lesen“ mit Texten von Ann Cotten, Dietmar Dath, Wolfgang Herrndorf oder Monika Rinck. Als die Hefte 2010 in elektronischer Version erschienen, gingen sie, wie das gesamte Programm der digitalen Indiebook-Szene, in der Titelflut der großen E-Book-Shops unter. Im Unterschied zu Mega-Online-Kaufhäusern wie „Amazon“ steht „minimore.de“ in der Tradition der gut geführten Sortimentsbuchhandlung, fördert zudem Veranstaltungen rund ums E-Book sowie die Vernetzung digitaler Verlage, in denen die Grenzen zum selfpublishing mitunter fallen, da einige Verlegerinnen und Verleger selbst schreiben oder – wie das Berliner Kollektiv „Shelff“ - auf gewagte Konzepte setzen, nach denen „Leser Autoren und Autoren Verleger“ werden können.
„,minimore.de’ ist unser passendstes und auch kommerziell am besten funktionierendes Sichtfenster“, sagt Christiane Frohmann, Autorin und Verlegerin des „Frohmann Verlags“, neben Nikola Richter, Zoë Beck, Elisabeth Alexander und Marlies Michaelis eine der „E-Book First“-Ladies, die seit zwei Jahren die literarische Start-Up-Szene Berlins prägen. So rief beispielsweise das „E-Book Network Berlin“ vor ein paar Monaten die erste „Electric Book Fair“ auf deutschem Boden ins Leben, auf der man unter anderem über Gestaltung elektronischer Inhalte sprach, da nun mit dem „Deutschen E-Book-Award“ alljährlich ein „Preis für Buchkunst im digitalen Raum“ ausgelobt wird. Auch wurde überlegt, wie sich mehr Aufmerksamkeit für das so preiswerte wie vielfältige digitale Literaturangebot generieren ließe, das wichtige, im Buchhandel nicht mehr lieferbare Werke umfasst, einzeln edierte Original-Erzählungen bekannter und unbekannter Autoren, die im Druck nur verstreut erscheinen könnten, digitale Poesie und andere schwer kommerzialisierbare Texte, die auf diese Weise die Chance bekommen, später auch gedruckt zu werden.
Noch ist das Feuilleton an dem Rhythmus der Druckverlage gewöhnt, die im Herbst und im Frühjahr für wichtige Neuerscheinungen in Vorschauheften werben. „E-Book-Verlage machen selten eine Vorschau, weil viele Titel sehr kurzfristig geplant werden“, sagt „mikrotext“-Verlegerin Nikola Richter, die für ihre „Literatur von morgen“ mit dem „Young Excellent Award“ des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden ist. Auch bleiben E-Books im Unterschied zu gedruckten Büchern dauerhaft im Programm, das somit ohne Backlist auskommt. Gleichwohl gibt es seit kurzem auf der „mikrotext“-website eine „Vorschau-Funktion“, um Interessenten vorab über neue Titel zu informieren, ausschließlich Originalausgaben, die in regelmäßigen und unregelmäßigen Abständen erscheinen. Auch Jan Karsten, der zusammen mit der Autorin Zoë Beck den Digitalverlag „CulturBooks“ führt, in dem es von Plattenlabels inspirierte Editionsformate gibt wie Single, Maxi, Album, Longplayer, will ab Januar 2015 mit einer zwei- bis dreimonatigen Vorschau „auf die Gewohnheiten des Printbuchmarktes“ eingehen. „Es gibt zudem die Idee einer Plattform namens "E-Book First", die E-Book-Only-Originale unabhängiger Digitalverlage präsentieren soll als Orientierung für Leser, Journalisten, Multiplikatoren. Wie würden Sie eine solche Plattform beurteilen?“ Mit „sehr gut“, denn dann hätte man auf der Suche nach literarischen Avantgarden im Internet neben dem Kompass eine Karte und vielleicht bald auch ein paar erfahrene Navigatoren!
Hilfreich ist auch kostenloses Probelesen, angeboten von Verlagen, die auf das zunehmende Interesse am E-Book mit neuen Geschäftsmodellen reagieren. Dazu gehört die App "A Story A Day" für Android und iOS des Berliner Verlags „Voland & Quist“ mit Kurzgeschichten der Lesebühnen-Szene (Ahne, Jochen Schmidt, Nora Gomringer, Bas Böttcher) im Tagesabonnement. Und im wöchentlichen Abonnement bietet der brandneue Digitalverlag „Hanser Box“ Kurzprosa, Sachbücher, Reportagen und Lyrik hauseigener Autorinnen und Autoren wie A.L. Kennedy, Thomas Glavinic, Javier Marías oder T.C. Boyle an.
Auf die kurze Form setzt auch der Berliner Digitalverlag „Das Beben“, benannt nach Kleists Novelle "Das Erdbeben in Chili". Die Verleger interessieren sich „für paradoxe, nichtlineare oder anderweitig unordentliche Texte“, die fantasievoll sind, märchenhaft, grotesk, skurril, aber formal nicht ganz so ungewöhnlich wie beispielsweise der assoziative Roman „Das Zimmer“ des Thomas-Bernhard-Schülers und -Gegners Andreas Maier, der in der soliden englischen Übersetzung von Jamie Lee Searle kürzlich im Berliner Digitalverlag „Frisch & Co.“ unter dem Titel „The Room“ als E-Book First erschienen ist.
Zweisprachig und überdies kostenlos sind die E-Books von „Fiktion“, dem von der Kulturstiftung des Bundes mit 240.000 Euro geförderten „Modellprojekt deutsch- und englischsprachiger Autoren, das die sich durch die Digitalisierung eröffnenden Chancen für die Wahrnehmung und Verbreitung anspruchsvoller Literatur weiterzuentwickeln sucht.“ Die Projektleiter Mathias Gatza und Ingo Niermann wählen gemeinsam mit Autorinnen und Autoren wie Jan Peter Bremer, Katharina Hacker, Elfriede Jelinek oder Sabine Scholl Texte zur digitalen Erstveröffentlichung aus, die angeblich „zu gut sind“, um von Publikumsverlagen angenommen zu werden. Aber Konzept und Entourage des Projekts sind überzeugender als das bisher publizierte, dem Entertainment bedenklich nahestehende Programm, das in diesem Jahr mit „ALFF“ eröffnet wurde, Romandebüt des jungen Dramatikers Jakob Nolte, verfaßt „im Stil eines Highschool-Mystery-Thrillers“.
„Fiktion“ mischt sich zudem wirkungsmächtig ein in die öffentliche Debatte über die Aktualisierung des Urheberrechts, Zankapfel zwischen denen, die die schöpferischen und wirtschaftlichen Verdienste des Autorenberufs gefährdet sehen, und anderen, die mit copy, cut and paste aus vielen Texten einen remix schaffen möchten, wobei sie für die öffentliche Subventionierung der literarischen Existenz plädieren mit Hinweis auf den leidigen Umstand, dass sowieso nur eine Minderheit vom Schreiben leben kann.
Von seiner Kunst zu leben mißlingt auch dem alternden Schauspieler Ferdinand Winter, Protagonist des vielfach ausgezeichneten Autors Gerhard Köpf, dessen besinnliche Erzählungen aus dem Theater- und Filmbereich („Das Glück beim Krähenfüttern“) zu den aktuellen Spitzentiteln des Verlags „CulturBooks“ gehören. Das Programm verzeichnet eine Reihe bekannter Namen (Aleks Scholz, Frank Göhre, Rolf Schneider, Stephan Maus), aber auch hochbegabte Newcomer wie die britische Astrophysikerin Pippa Goldschmidt mit ihren surrealistisch anmutenden Erzählungen aus dem Wissenschaftsbetrieb („Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen“) in der meisterlichen Übersetzung von Zoë Beck.
Gerhard Köpf ist wie Stefan Beuse einer der etablierten Schriftsteller, die bei „CulturBooks“ nicht nur exklusiv publizieren sondern auch die Digitalkopien ihrer gesamten literarischen Werke herausbringen. Prominente Autoren wie Franzobel, Thomas Klupp oder Moritz Rinke findet man auch im Programm des Berliner Digitalverlags „mikrotext“, wo Jan Fischer kürzlich den Band „Irgendwas mit Schreiben. Diplomautoren im Beruf“ herausgegeben hat, in dem Absolventen der Hildesheimer und Leipziger Literaturinstitute in formaler Vielfalt Lust und Frust ihrer Profession darlegen. „mikrotext“-Verlegerin Nikola Richter bevorzugt Kurzprosa, Essays, Reportagen und „Online-Literatur, die fürs E-Book aufbereitet wird“ wie "Der klügste Mensch im Facebook. Statusmeldungen aus Syrien", dem umwerfend komischen Debüt des vormals unbekannten Autors Aboud Saeed, der die Literarizität der elektronischen Kommunikationsform ironisch ausgelotet hat.
An digitalen Schreibweisen interessiert ist auch Hartmut Abendschein, Autor und Verleger der Berner „edition taberna kritika“, einem „hybriden“ Independent-Verlag, der neben einer Printproduktion digitale Poesie, interaktive Hypertexte und literarische Weblogs von poetisch Experimentellen wie Alban Nikolai Herbst, Elisabeth Wandeler-Deck oder Stan Lafleur veröffentlicht. Auch vertritt der Verlag das Literaturlabel „litblogs.net“, einem Portal für Autorenblogs mit eigenem Online-Magazin, das mit anderen literarisch ambitionierten Foren wie Urs Engelers „roughblog“ kooperiert und sich der „Beobachtung von und Beschäftigung mit Entwicklungen des literarischen Felds im Kontext kontinuierlicher Medienumbrüche“ widmet.
In der Wissenschaftsreihe „Generator“ des Berliner „Frohmann Verlags“ diskutiert man ebenfalls über „neue ästhetische Formen“ wie „Twitteratur“, ausgewählt edierte Aphorismen in 140 Zeichen, die zuvor auf der Kommunikationsplattform „Twitter“ gepostet worden sind. Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der Universität der Künste Berlin, vertritt im Nachwort zu den von ihm herausgebenen „Twitter“-Werkstattberichten „Über 140 Zeichen“ die Ansicht, dass der „rund ums Buch etablierte Literaturbegriff nicht mit dem Web 2.0 kompatibel ist“ und somit auch nicht mit den neuen liquiden Literaturformen, deren ästhetisches Programm das Leichtgewichtige, Beliebige, Flüchtige umfasse. Dennoch ist „Twitteratur“ nicht nur inhaltlich sondern auch formalästhetisch umstritten, da die im E-Book eingefrorenen Tweeds dem interaktiven Social-Media-Geschehen entzogen sind, das sich im fortlaufenden Prozess vollzieht und nicht in feststehenden Ergebnissen. Dass „Twitteratur“ somit vielleicht genauso wenig nachhaltig sein könnte wie die verspielte „Hyperfiction“ der 90er Jahre oder die triviale „SMS-Lyrik“ der frühen Milleniumszeit stört Verlegerin Christiane Frohmann nicht. Sie unterscheidet zwischen dem „richtigen E-Book“, also der Digitalversion des gedruckten Buches, und dem „falschen E-Book“, das sich dem Charakter des abgeschlossenen Kunstwerks verweigere und in immer neuen Versionen verfügbar sei.
Und doch lassen sich Twitterer gern zum „richtigen Buch“ verführen. So hat Anousch Müller, die 2012 im „Frohmann Verlag“ mit dem E-Book-Only „Bescheiden, aber auch ein bisschen göttlich. Beflügelte Worte“ debütierte, im letzten Jahr bei C.H. Beck ihren ersten, gar nicht experimentellen Roman über eine Liebesgeschichte aus ihrer thüringischen Heimat veröffentlicht. „Brandstatt“ wurde vom Gros der Followers auf „Twitter“ ignoriert, von Kritikern „in Klagenfurt und anderswo“ negativ rezensiert und am Ende von der Jürgen-Ponto-Stiftung prämiert.
„Alle klagen über schlechte Literatur, aber niemand bemüht sich um konstruktive Kritik und nachvollziehbare Bewertungskriterien,“ zitiert Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig die Programmatik ihrer „Automatischen Literaturkritik“, mit der sie in einer alljährlichen Parallelaktion zur Jurydebatte in Klagenfurt Plus- und Minuspunkte vergibt, beispielsweise für Seltenes („Thema Raumfahrt“) oder Überholtes („Autoren-Video“). „Man muss nicht die Maßstäbe des Kritikautomaten anlegen“, so Kathrin Passig, „aber man kann die Gründe für die eigene Zu- oder Abneigung einem Text gegenüber konkret benennen, ohne Wörter wie „fulminant“ oder „geheimnislos“ in den Mund zu nehmen“.Vermutlich kämen wir auf diese Weise auch der Dichtung abseits des Mainstreams näher, die zuerst oder ausschließlich digital erscheint.
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