In das Bild des Faktorpreisausgleichs passt auch der im neoklassischen Modell verankerte Glaube an die Fähigkeit des Marktes, einen optimalen Preis und damit eine optimale Allokation jeden Guts und jeden Faktors zu finden. Danach verhält sich der Faktor Arbeit wie jeder andere Faktor auch. Das Modell "geht davon aus, daß sich die Entlohnung des Faktors Arbeit bei freiem Spiel von Angebot und Nachfrage wie jeder andere Preis bildet" (Pfromm 1975, 6). In gedanklicher Einheit mit der Grenzproduktivitätstheorie heißt das, dass der einzelne Unternehmer solange Arbeit nachfragen wird, wie der zu erzielende Gewinn die entstehenden Kosten übersteigt. Unterschiedliche Lohnniveaus und -steigerungen werden konsequent innerhalb dieser Marktlogik erklärt. Wenn also z.B. intersektorale und interprofessionale Lohndisparitäten bestehen, dann bedeutet das zunächst schlicht, dass ebensolche Angebots- und Nachfragedisparitäten existieren, die eng zusammenhängen mit der Kapitalausstattung und der Kapitalintensität des Einzelunternehmens und der Branche. Über die unterschiedlichen Niveaus und Veränderungspotenziale kommen dem Lohn dabei vor allem die zwei Aufgaben der Indikation und der Allokation zu (Knorring 1980). Es ist der Doppelcharakter des Lohns – Lebensgrundlage für die Arbeitnehmer und Kostenfaktor für die Unternehmer –, der in diesem modellhaften Markt dazu führt, dass die Anbieter von Arbeit in solche Sektoren und Berufe bzw. Tätigkeiten drängen, in denen ein vergleichsweise hohes Lohnniveau herrscht, und die Nachfrager sich umgekehrt verhalten, also auf Branchen und Berufe ausweichen, wo ein niedrigeres Lohnniveau vorliegt. Dieser Zusammenhang verweist auf die Produktivkraft der jeweiligen Branche. Solche Branchen, in denen ein relativ niedriges Produktivitätsniveau erreicht wird, zahlen entsprechend relativ niedrige Löhne, weil nach der Grenzproduktivätstheorie früher (als in Branchen mit höherem Produktivitätsniveau) der Grenzertrag negativ wird ("ability to pay"-These). Hohe Löhne signalisieren also hohen, niedrige Löhne niedrigen Bedarf an weiteren Arbeitskräften (zur kritischen Diskussion der zugrunde liegenden Konzepte siehe: Fehlandt 2000 und Hochstadt 1995).
Der Lohn hat also allein über seine Höhe im Vergleich zu anderen Löhnen die Fähigkeit, einen Bedarf oder eben keinen Bedarf an Arbeitskräften anzuzeigen231. Damit die Arbeitskräfte entsprechend reagieren können, sich also tatsächlich dem Lohnsignal folgend verhalten können, müssen sie mobil sein. Diese Mobilität betrifft sowohl die fachliche als auch die geografische Dimension. Die erste Dimension findet ihre Grenze schnell an der notwendigen Ausbildungszeit für die verschiedenen Berufe232. Zur Zeit der fordistischen Massenproduktion, als das Paradigma der repetitiven Teilarbeit zur höchstmöglichen Produktivitätssteigerung unangefochten normsetzend wirkte, konnte noch recht unkompliziert zwischen Berufen und Branchen gewechselt werden, weil eine besondere, zeitaufwändige Ausbildung oft nicht erforderlich war233. Jedoch gilt heute für die bei weitem meisten Branchen, dass solche Tätigkeiten, für die keine komplexen Befähigungen erworben werden müssen, kaum noch existieren und jedenfalls keine hinreichende empirische Basis mehr haben, um die darauf bezogene Mobilität wirksam werden zu lassen.
Die Politik der Europäischen Union lässt sich als Einsicht in diese Beschränkung interpretieren. Wenn schon fachlich nicht ernsthaft Mobilität über ein bestimmtes quantitatives und ein bestimmtes Tätigkeitsniveau hinaus erwartet und auch nicht provoziert werden kann, muss die geografische Mobilität besonders gefördert werden. In den vier Freiheiten und insbesondere in der Freizügigkeit der Arbeitskräfte (aber keineswegs nur) treffen sich ideelle Konzepte mit materiellen Interessen. Denn selbstverständlich signalisieren Lohnniveaus nicht nur innerhalb eines Landes einen spezifischen Bedarf. Gerade bei bestehenden enormen Lohnunterschieden zwischen den Ländern der EU schaffen es sogar Löhne, die im Binnenvergleich eher geringen Bedarf an Arbeitskräften signalisieren, weil sie relativ niedrig liegen und sich vielleicht darüber hinaus auch noch schlecht entwickeln, Menschen, die in einem Lohnraum leben, in dem insgesamt geringere Löhne gezahlt werden (wegen des ebenfalls geringeren Produktivitätsniveaus), das Signal zu übermitteln, es würden doch noch Arbeitskräfte gebraucht234. Und tatsächlich sind all diese Sektoren (wiederum gemäß der Grenzproduktivitätstheorie) in der Lage, Menschen mit geringeren Lohnerwartungen aufzunehmen.
Trifft sich diese Situation mit einem Sektor, der auch technologisch in der Lage ist, Menschen mit wahrscheinlich geringerem Qualifikationsniveau, produktiv anzuwenden, dann stehen der Arbeitsmobilität eigentlich nur noch kulturelle Schranken im Wege, die nicht zuletzt im Zuge der europäischen Integration überwunden werden sollen, sofern sie mobilitätsverhindernd sind. Und hier wird das deutsche Baugewerbe erreicht. Seit Jahren befindet es sich in einer tiefen konjunkturellen und strukturellen Krise, die aber noch Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts von einem Fachkräftemangel begleitet war. In dieser Situation wurden sowohl politische als auch ökonomische Signale an potentielle Arbeitskräfte ausgesendet. In der Folge erhöhte sich die Zahl der ausländischen Beschäftigten auf Baustellen in Deutschland signifikant, so dass die Bauwirtschaft in Deutschland durchaus als Paradebeispiel für die erfolgreiche Mobilitätspolitik der Europäischen Union gesehen werden kann. Bezüglich der Auswirkungen auf dem (deutschen) Baumarkt zeigt sich aber die ganze Problematik dieses Erfolgs. Kann prinzipiell schon von einer erfolgreichen Umsetzung der Mobilitätsziele gesprochen werden, so ergibt sich eine kontraindizierte Konsequenz bei vorwiegend temporär begrenzter Arbeitsmigration, weil jetzt nicht mehr der Faktorpreisausgleich als Ergebnis steht, sondern die Konkurrenz der Sozialsysteme. Aus einem möglichen Wohlfahrtsgewinn wird damit unversehens eine reduktive Spirale 235.
7 Gesellschaftliche Bedingtheiten
7.1 Konkurrenz der Kapitalismen und Auswirkung auf die Qualifikation
Wenn im Vollzug sich öffnender Grenzen verschiedene Systeme bzw. sich auf unterschiedlichem historischem Niveau befindende oder einfach unterschiedlich organisierte Nationalkapitale einschließlich der sie umgebenden Sozialsysteme aufeinanderstoßen, ist eine schmerzhafte Kollision nicht nur nicht auszuschließen, sondern sehr wahrscheinlich. Deshalb verwundert es nicht, wenn inzwischen als normal betrachtet werden kann, was früher undenkbar war – ungleiche Bezahlung und ungleiche Arbeitsbedingungen an einem Arbeitsplatz (Artus u.a. 1998; Hochstadt, Janssen 1998). Das heißt: Enorme und (wahrscheinlich) zunehmende Disparitäten nicht wie früher zwischen den Ländern, sondern – und deshalb besonders dazu angetan zu nicht kalkulierbaren Verwerfungen in den Sozialbeziehungen zu führen – innerhalb eines Landes und sogar auf einer Baustelle. Die Gesamtheit der das Arbeitsverhältnis bestimmenden Arbeitsbedingungen, also das Lohnarbeitsverhältnis, entfernt sich so immer mehr von allgemein geltenden Normen. Der normative Charakter des so genannten Normalarbeitsverhältnisses geht mit dessen Abdrängung ins empirisch Bedeutungslose verloren. Konnte früher von der bindenden Kraft eines allgemeinen, d.h. für die Mehrzahl der abhängig Beschäftigten geltenden Arbeitsverhältnisses gesprochen werden, so muss heute davon ausgegangen werden, dass diese bindende Kraft mehr und mehr verloren geht, weil die absolute und relative Zahl der so einheitlich, d.h. unter gleichen oder vergleichbaren Bedingungen arbeitenden Menschen zurückgeht (Smentek 1991, 26f; siehe auch: Hunger 2000a; Janssen 2001). Dies bedeutet die Aufweichung gesellschaftlicher Standards. Diese Entwicklung darf keinesfalls geringgeschätzt werden, denn nur solange es gesellschaftliche Standards gibt, gibt es auch eine Abweichung von ihnen. Gesellschaftliche Standards zeichnen sich nun vor allem durch ihre Sozialität aus (Hochstadt 1995, 79). Mit dem Verlust von Standards geht auch deren bindende Kraft verloren; es entsteht die Gefahr einer Deregulierung, also eines Absinkens des erreichten Niveaus der Kollektivität236.
Bezüglich der augenfälligsten Disparität bzw. Deregulierung, der illegalen Beschäftigung, heißt es von offizieller Seite: "Wenn es nicht gelingt, die illegalen Praktiken deutlich zurückzudrängen, droht eine nachlassende Akzeptanz geltender Regularien auch durch jetzt noch rechtstreue Betriebe" (Senatsverwaltung ... 1996, 16). Und weiter: "Die Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung darf nicht allein als ordnungsbehördliches Anliegen verstanden, sondern muß als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angenommen werden. Halbherzige, d.h. nicht von allen Trägern des Wirtschafts- und Arbeitslebens wirksam unterstützte Maßnahmen gegen Rechtsuntreue wirken nicht nur zerstörerisch auf Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Sozialstrukturen, sondern auch zersetzend auf den freiheitlichen Rechtsstaat" (ebd., 106).
Es wäre fatal zu glauben, illegale oder irreguläre Beschäftigung einerseits und regulierte Beschäftigung andererseits seien lediglich zwei Phänomene des Bauarbeitsmarktes, die in "friedlicher Koexistenz" bestehen, sich also nicht gegenseitig beeinflussen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die neue Qualität irregulärer Beschäftigung mittel- und unmittelbare Auswirkungen auch – und besonders – auf ein erreichtes Regulierungsniveau hat. Denn dieses gerät über seine empirische Infragestellung, also seine zurückgehende Bedeutung in der Praxis des Bauarbeitsmarktes, auch politisch zunehmend unter Druck. Praktisch hat das Vorhandensein irregulärer Beschäftigung schon jetzt neben den negativen Impulsen auf den Bauarbeitsmarkt nicht zu leugnende Auswirkungen: "Die Unterscheidungslinien bei der Fragmentarisierung sozialer Rechte verlaufen inzwischen längst nicht mehr allein entlang der Einteilung in deutsche und ihnen gleichgestellte Arbeitnehmer (EU-Inländer) auf der einen Seite und sonstige Ausländer, die unter den Anwerbestopp fallen, auf der anderen Seite. Inzwischen sind auch die inländischen Arbeitnehmer/innen zunehmend von dieser Tendenz zur sozial- und arbeitsrechtlichen Ausgrenzung in atypischen Beschäftigungsverhältnissen betroffen. Im Baugewerbe, wo die Tendenz zur 'Flucht aus dem Normalarbeitsverhältnis' schon lange vor der Beschäftigung osteuropäischer Wanderarbeiter registriert wurde, ist diese Entwicklung besonders weit vorangeschritten. Durch den Aufbau mehrgliedriger Subunternehmerketten bringen Konzerne, die als Generalunternehmer operieren, mittelständische Unternehmen in unmittelbare Konkurrenz mit unseriösen Anbietern, die schwarzarbeiten lassen, und zunehmend auch mit Unternehmen aus Ländern mit niedrigerem Niveau der Entlohnung und sozialen Absicherung. Es entstehen komplizierte und nicht mehr durchschaubare verschachtelte Geschäftsbeziehungen. Zusätzlich sorgt die große Zahl von Einsatzorten dafür, daß alleine durch Kontrollen eine umfassende Durchsetzung sozialer Standards unmöglich wird" (Cyrus 1995, 35).
In der Tat findet vor dem Hintergrund sich öffnender Grenzen, einer wachsenden Bereitschaft bzw. Notwendigkeit, grenzüberschreitend zu wandern, enger werdender Wirtschaftsräume, einer kaum noch nachzuvollziehenden Branchenstruktur mit ihren bekannten Hierarchieeffekten (Nachunternehmensketten) und vor allem einer unzureichenden Konjunkturlage (sowohl gesamtwirtschaftlich als auch und vor allem im Baugewerbe) eine Aufweichung ehemals gesicherter Standards statt. Es muss inzwischen davon ausgegangen werden, dass die Reichweite der Tarifverträge beschränkt ist und sich wahrscheinlich künftig (bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen) noch weiter verkürzen wird. Längst sind viele Bauarbeiter gezwungen, zu Bedingungen zu arbeiten, die (weit) unterhalb tarifvertraglicher Vereinbarungen liegen237. Die ins Land getragenen Disparitäten und die zugrunde liegenden (also die Disparitäten innerhalb eines Landes begründenden) Unterschiede der Lebens- und Arbeitsbedingungen zwischen den Ländern verschärfen sich aktuell; sie könnten sich aber – zynisch betrachtet – in Zukunft wieder entdramatisieren, dann nämlich, wenn kein Spielraum nach unten mehr vorhanden ist238.
Auf der einen Seite sorgen die wachsenden Disparitäten zwischen orts- und zeitgleich bestehenden Lohnarbeitsverhältnissen für enorme Spannungen in den Sozialsystemen. Auf der anderen Seite ist die Form der Qualifikationserzeugung und -bereitstellung in die öffentliche Debatte geraten. Losgelöst voneinander werden diese beiden Dinge diskutiert. Weiterhin muss auch der innere Zusammenhang zwischen Herstellungs- und Verwertungsprozess einerseits und Qualifikation und Qualifikationsentwicklung andererseits geklärt werden. Hier scheint es keine prinzipiellen Abweichungen zu geben: Egal von welchem theoretischen Hintergrund oder praktischen Interesse aus dieser Zusammenhang diskutiert wird – Ergebnis ist die aus praktischen oder theoretischen Überlegungen abgeleitete Auffassung, die Weiterentwicklung von Qualifikation, d.h. deren fortschreitende Aufwertung sei unbedingt erforderlich. "Flexible und schnelle Anpassung an neue Erfordernisse des Marktes, Rationalisierung und Steigerung der Arbeitsproduktivität setzen den Einsatz qualifizierter Fachkräfte voraus, und nicht deren Einsparung. Rationalisierungsstrategien sind erfolgreicher, wenn sie Qualifikation nutzen, statt sie zu entwerten ... Eine Arbeitskräftestrategie, die auf einen eigenen Fachkräftestamm verzichtet, zerstört selbst die Bedingungen ihres Funktionierens. Je mehr sie auf Fachkräfte verzichtet, desto mehr benötigt sie ... Je konsequenter eine solche Arbeitskräftestrategie also umgesetzt wird, umso zuverlässiger vermeidet sie, daß sie auf Dauer funktionieren kann" (Syben 1996, 418f). Syben nennt dies, wie schon ausgeführt, eine 'Qualifikationsfalle'. Auch von Arbeitgeberseite wird die Überzeugung von der Qualifikationsnotwendigkeit betont: "Die provokatorische Frage nach dem möglichen 'stillen Abschied vom Baufacharbeiter' verliert vor dem Hintergrund der aufgezeigten Trends (z.B. Qualitätsmanagement; S.H.) an Bedeutung. Dies gilt besonders für die europäischen Länder mit einem hohen Niveau der Bauarbeiterlöhne. Im Zuge des verschärften Wettbewerbs gewinnt die Qualifikation der Mitarbeiter im Gegenteil noch mehr an Bedeutung ... Für eine gewerksübergreifende Qualifikation der Mitarbeiter bildet das deutsche System der Bauausbildung eine sehr gute Grundlage. ... Denn eine breite berufliche Ausbildung ist der beste Garant für die erforderliche Anpassungsflexibilität der Fachkräfte gegenüber dem Wandel der Baunachfrage und der modernen Ausführungstechnik" (Küchler 1995, 51). Einigkeit besteht demnach in der Anerkennung der Qualifikations- und daher auch der Qualifizierungsnotwendigkeit239. Es ist damit aber noch nichts gesagt zu den Bedingungen einer erfolgreichen Qualifizierungspolitik. Denn die Einsicht in ein Erfordernis stellt noch nicht die Bedingungen seines Funktionierens her.
Mit der allgemeinen Übereinstimmung bezüglich der Zentralität von Qualifikation verliert die Diskussion um die möglichen negativen Auswirkungen der unregulierten Zusammenführung unterschiedlicher Regulierungssysteme mit der Konsequenz wachsender Disparitäten zwischen den Lohnarbeitsverhältnissen auf die Qualifikationsher- und -bereitstellung vordergründig an Gewicht. Es scheint nicht wirklich ein Problem zu sein. Und es soll gar nicht bezweifelt werden, dass gesamtgesellschaftlich der behauptete Trend zutrifft (der sich wegen der damit verbundenen steigenden Kapitalausstattung, die ja die Entwicklung von Qualifikation überhaupt erst erforderlich macht, ausdrückt in einem sich langfristig verringernden Anteil des für Löhne und Gehälter verausgabten gesellschaftlichen Gesamtkapitals) – es ist dies der notwendige Weg kapitalistischer Produktion unter Konkurrenzbedingungen. Aber wichtig für die Betrachtung einer konkreten Situation, d.h. der aktuellen Entwicklungsstufe und der daraus hervorgehenden weitergehenden Trends ist die vom Grundprinzip womöglich erheblich abweichende Politik. Denn der einzelne Unternehmer ist nicht der ideelle Gesamtkapitalist und auch nicht nur eine Charaktermaske, sondern ein Mensch, der erstens innerhalb seiner Funktion Wahlfreiheiten genießt und zweitens und unter sozusagen verschobenen Konkurrenzbedingungen zur Auffassung kommen kann, dass der dem behaupteten alles überlagernde Trend genau entgegengesetzte Weg für ihn der richtige sei240. Gerade die europäische Bauindustrie gibt für diese Vermutung den empirischen Hintergrund: Dort ist unter national sehr verschiedenen Entwicklungsstufen und Produktionsmethoden offensichtlich ein Prozess eingeleitet worden, der in einer sich beschleunigenden Spirale den behaupteten Trend ins Gegenteil verkehrt; nicht mehr die vermehrte Anwendung von konstantem Kapital, sondern der Rückgriff auf menschliche Arbeitskraft unter Verzicht auf eine besondere Ausstattung mit langlebigen Produktionsmitteln (und deshalb auch unter Verzicht auf Qualifikation bzw. Qualifikationsentwicklung) scheint hier trendsetzend zu sein. Insbesondere die britische Situation belegt diese Aussage. Zwar ist damit zu rechnen, dass diese Strategie sich selbst überlebt, aber stringent, d.h. nicht aus theoretischen Überlegungen heraus, sondern vor der sich empirisch darstellenden Realität lässt sich dies nicht prognostizieren. Es könnte sein, dass auf Branchenebene sich die Spirale gerade vermittels der Konkurrenzmechanismen und kurzfristigen Profitinteressen vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden strukturellen, aber vor allem konjunkturellen Krise im Bausektor nach unten beschleunigt und sich die Notwendigkeit für das einzelne Unternehmen ergibt, eben durch den Verzicht auf eine bessere Kapitalausstattung des einzelnen Arbeitsplatzes selbst Träger dieser Entwicklung zu werden (Gefangenendilemma; Rürup 1995).
Der so formulierte Gegensatz zwischen theoretischer Überlegung und praktischer Strategie bewegt sich um die Frage nach der Rentabilität bzw. dem Rentabilitätsprinzip. Es steht außer Frage, dass der Zweck unternehmerischen Handelns die Erzielung von Profit ist. Profit kann aber nur gemacht werden, wenn rentabel produziert wird, d.h. nur Arbeitskraft verausgabt wird, die gesellschaftlich notwendig ist (oder weniger). Die Überprüfung dieser Fähigkeit findet auf dem Markt statt, wo der Profit realisiert wird. Nun lässt sich Rentabilität sowohl kurz- als auch langfristig fassen. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein Unternehmen das Interesse hat, dauerhaft wettbewerbsfähig zu sein, also auf lange Sicht vom gesellschaftlichen Reichtum zu schöpfen, also langfristig am Markt präsent zu sein. Diese Überlegung führte in der Vergangenheit zu der Überzeugung, das Rentabilitätsprinzip sei langfristig angelegt241. In dieser Lesart liegt es in der Tat nahe, zu vermuten bzw. zu konstatieren, Rentabilität ließe sich dauerhaft nur erzielen, wenn die Kapitalausstattung sich erhöht. Geht man aber davon aus, dass Rentabilität auch und vielleicht sogar vor allem kurzfristig gedacht wird, die Unternehmensstrategie sich also auf die Erzielung von Profit nicht auf lange, sondern auf kurze Sicht richtet242, dann muss diese Überlegung neu angestellt werden. Zu dieser Möglichkeit trägt auch eine sich auf spezifische Art darstellende Konkurrenzsituation bei, in der langfristige Strategien womöglich nicht mehr taugen bzw. zu einem aktuellen Wettbewerbsnachteil, also zu Profiteinbußen führen (z.B. das britische System der self-employed). Wenn das so ist, ist es auch denkbar, dass in der europäischen Bauwirtschaft sich das Prinzip der wachsenden Kapitalausstattung ins Gegenteil verkehrt, auch wenn diese Strategie – von außen betrachtet – in eine Sackgasse führt.
Dieser Begründungszusammenhang führt zurück zur Frage nach der Qualifikation, und allgemeiner: nach der Regulierungsdichte von Lohnarbeitsverhältnissen. Wenn kurzfristige Profitinteressen handlungsleitend sind bzw. sich aus der Marktlage, d.h. der Konkurrenzsituation hinterrücks ergeben, dann führt das nicht nur zu einer zurückgehenden Bereitschaft, in die Ausrüstung, sondern auch zu einer ebenso zurückgehenden Bereitschaft, in die Arbeitskräfte zu investieren. Investitionen in die Arbeitskräfte betreffen sowohl deren Ausbildung als auch das Regulierungsniveau. Eine hohe Regulierungsdichte, also ein hohes Niveau der Kollektivität, geht zusammen mit einer kollektiv geregelten Form der beruflichen Ausbildung, die nicht auf kurzfristige Verwertungsinteressen eines einzelnen Unternehmens ausgerichtet ist, sondern auf die gesellschaftlichen Erfordernisse einer Reproduktion, d.h. Erhaltung von Qualifikation.
Wenn aus kurzfristigen Profitinteressen heraus nicht-regulierte Lohn- und Arbeitsverhältnisse geschlossen werden, dann erwächst daraus in der Tat eine Gefährdung des erreichten durchschnittlichen Ausbildungsniveaus und damit des Ausbildungssystems als Regelungsinstanz im Konkreten wie im Abstrakten insgesamt, weil solche Arbeitsbeziehungen ja nur deshalb konkurrenzfähig sind, weil sie nicht mit zusätzlichen Kosten belastet werden, die über die aktuelle Vertragserfüllung hinausreichen. Ausbildung von Nachwuchs liegt nicht im Interesse der Vertragsparteien. Gegenüber derartigen Arbeitsverhältnissen sind solche Marktteilnehmer benachteiligt, die ein längerfristiges Interesse haben und deshalb Ausbildung zu ihren Aufgaben zählen. Selbst bei einer Umverteilungsinstanz wie den Sozialkassen, die alle Betriebe des Baugewerbes an den erforderlichen Ausbildungskosten beteiligt, findet eine Aushöhlung des Systems statt, weil das Angebot an Ausbildungsplätzen insgesamt zurückgeht, wenn sich immer mehr Firmen zu nicht-regulierten Arbeitsverhältnissen entschließen. Die Aufrechterhaltung eines spezifischen Ausbildungsniveaus ist nur möglich bei ausreichender Beteiligung der Firmen und genügend vielen Beschäftigungsverhältnissen, die auf einer regulierten Ausbildung aufbauen. Wenn die Basis für ein gegebenes Ausbildungssystem zu klein wird, ist nicht nur die Bereitstellung qualifizierter Beschäftigter infrage gestellt, sondern auch die technische und somit produktive Dynamik des gesamten Sektors. Denn das ist ein notwendiger Nebeneffekt von nicht regulierten und am Ausbildungssystem vorbeilaufenden Arbeitsverhältnissen: Nur die gegebene, d.h. erreichte und verallgemeinerte Produktivität ist wettbewerbsrelevant; für eine Verbesserung der Produktionsmethoden und Erhöhung der Produktivität ist kein Raum243.
Auch in der europäischen Bauwirtschaft überwiegt die Tendenz zur wachsenden Kapitalausstattung und damit der ansteigenden Bedeutung adäquat, also gut ausgebildeter Arbeitskräfte; mit beidem wird die Beschäftigtenproduktivität gesteigert. Auf Baustellen in Deutschland arbeiten heute deutlich weniger Menschen als früher; die Produktivitätssteigerung im deutschen Baugewerbe ist überdurchschnittlich hoch und wird in erster Linie durch den vermehrten Einsatz von Maschinen, einer straffen Arbeitsorganisation und eben qualifizierten Beschäftigten erreicht. Aber ein Blick über die Grenze nach Großbritannien zeigt, dass es sich dabei nicht um einen zwangsläufigen oder allein möglichen Trend handelt. Über die bereits skizzierte Entwicklung, also das Zusammenwachsen der (Arbeits-)Märkte, ist ein Überschwappen der dortigen Entwicklung nach Deutschland nicht mehr auszuschließen. Damit ist der behauptete Zusammenhang zwischen Regulierung und Qualifikation evident.
Mit dieser Argumentation soll nicht, wie das gelegentlich passiert, das deutsche Modell als paradigmatisch vorangestellt werden. Doch lässt sich ein je typisches Kollektivitätsbewusstsein konstatieren, das zu unterschiedlichen Sozialsystemen und genauso unterschiedlichen industriellen Beziehungen geführt hat. Es lässt sich weiterhin ein hohes Niveau der Individualität (also – von vorne gelesen – ein niedriges Niveau der Kollektivität) in Großbritannien feststellen, ohne sich dem Vorwurf der ideologischen oder nationalen Befangenheit auszusetzen. Genau dieses niedrige Niveau der Kollektivität, das alle Bereiche der Produktion und Reproduktion umfasst, hat zum bekannten Verlust von Wettbewerbsfähigkeit der britischen Baubranche zumindest beigetragen. Gleichzeitig findet über die Migration der Bauarbeiter sozusagen ein Export dieses Systems statt, der zu den bereits diskutierten Schwierigkeiten bsp. in Deutschland führt. Jedoch geht es überhaupt nicht nur um den Import von auf Deregulierung setzenden Modellen oder allgemein um ins Land getragene Disparitäten. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass insgesamt eine solche deregulative Tendenzen unterstützende und sogar vorantreibende Situation vorliegt, die nicht nur in den traditionell oder jüngst weniger intensiv regelnden Ländern besteht und von dort ausstrahlt, sondern unter dem Eindruck einer sich grundlegend gewandelten ideologischen Verfasstheit überall alternative Organisationsmodelle abzulösen beginnt.
7.2 Die deutsche Vereinigung als Ausgangspunkt für einen Paradigmenwechsel
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