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Ein erstes Problem für die Regulierungslandschaft des Baugewerbes entstand mit der Zulassung von Leiharbeit im Jahre 1967. Die nicht dem Baugewerbe angehörigen Verleihbetriebe erzielten erhebliche Kostenvorteile aus ihrer Sonderstellung, die z.B. zur Folge hatte, dass sie nicht in das Sozialkassenverfahren eingebunden waren und also auch keine Beiträge abführen mussten, so dass es zu ganz erheblichen Wettbe­werbsverzerrungen kam. Deshalb wurde die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlas­sung in Betrieben des Baugewerbes 1982 weitgehend verboten. Zwar wurde dieses Verbot seitdem gelockert, aber Leiharbeit spielt im Baugewerbe keine Rolle mehr265.

Aus diesen beiden Punkten lässt sich schlussfolgern, dass bis in die siebziger Jahre hinein das Regulierungsgeflecht und die ihm zugrunde liegenden Regulierungsein­sichten gut funktionierten. Alle drei bzw. vier Kollektivakteure waren sich offensicht­lich darin einig, dass die besondere Lage des Baugewerbes besondere Maßnahmen erforderlich machte. Über alle natürlich auch in dieser Branche vorhandenen Interes­sengegensätze hinweg schaffte man es regelmäßig, im Konsens zu handeln und alle Vereinbarungen umzusetzen.


Erst in den achtziger Jahren begann diese Interessenkoalition aufzubrechen. Sicher­lich wurde diese Veränderung maßgeblich von der seit 1973/74 andauernden Krise befördert. Die ersten zwanzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges waren für die Bauwirtschaft aus nahe liegenden Gründen ausgesprochen erfolgreich; in die­ser Zeit boomten die Bauinvestitionen und lagen regelmäßig über der gesamtwirt­schaftlichen Expansion. Doch nach dem ersten noch recht kurzen Konjunktureinbruch 1967 und der sich daran anschließenden immerhin fünf Jahre dauernden (1969 bis 1973) erneuten Boomphase mit aber nur noch durchschnittlichen Expansionsraten brach die Baukonjunktur über Jahre hinweg ein. Auch die konjunkturelle Erholung zwischen 1976 und 1980 reichte nicht, die Verwertungsschwierigkeiten zu beheben, mit denen die Branche zu tun hatte. Bis zum durch die deutsche Vereinigung und be­reits im Vorfeld sich im Zuge der verstärkten Zuwanderung aus den mittel- und ost­europäischen Ländern verursachten Sonderboom zum Beginn der neunziger Jahre dauerte diese krisenhafte Phase an und setzt sich seit dem Ende des Sonderbooms Mitte der neunziger Jahre beschleunigt fort.
Jedenfalls wurden 1986 Teile der "produktiven Winterbauförderung" nicht zuletzt auf Betreiben der Bauarbeitgeber zunächst ausgesetzt und 1994 schließlich ganz abge­schafft (Bosch, Zühlke-Robinet 2000, 158f)266. Der ökonomische Nutzen dieser Rege­lung hatte sich in der Zwischenzeit erschöpft und die Branche war nicht mehr länger bereit, eine nur für einzelne Betriebe günstige Regelung über Umlage zu finanzieren. Schon Ende 1995 wurde auch die gesetzliche Schlechtwettergeldregelung vom Ge­setzgeber aufgehoben und die Aufgabe an die Tarifparteien weiter gereicht, eine an­dere Lösung zu finden. Ein Ergebnis ist die neu geschaffene Arbeitszeitflexibilisie­rung; mit ihr sollen Konsequenzen aus dem Wegfall sowohl der produktiven Winter­bauförderung als auch des Schlechtwettergeldes aufgefangen werden.
Überhaupt wird die über das Sozialkassenverfahren entstehende (zunächst) zusätz­liche finanzielle Belastung zunehmend kritisiert. Zwar gibt es (noch) keinen offenen Widerstand gegen das Prinzip der Sozialkassen selbst, diese Diskussion findet aber über die Höhe der Beiträge statt. Doch auch das Prinzip selbst gerät in die Kritik; so hat die zwar nicht tarifmächtige, aber auch nicht einflusslose Bundesvereinigung Mittelständischer Bauunternehmen bereits Mitte der neunziger Jahre die ersatzlose Abschaffung der Sozialkassen gefordert (Hunger 2000a, 74f). Gerade die Tatsache, dass es sich um eine Vertretung der mittelständischen Unternehmen und nicht der großen Aktiengesellschaften handelt, zeigt, wie weit der Druck schon in die Branche hineinreicht.
Für ein ganzes Jahrzehnt blieb der relative Beitrag an die Sozialkassen unverändert, um dann binnen weiterer 13 Jahre auf über das Doppelte zu steigen. Seitdem fällt die Beitragshöhe so gut wie ununterbrochen. Dies geschieht zwar nicht rasend schnell, aber doch merklich (siehe dazu die Tabelle 55 im Anhang). Die jüngste Er­höhung der Beitragsquote auf 20,6 vH (bzw. 18,95 vH) zum 1. Januar 2002 ist da bestenfalls eine Unterbrechung dieser Tendenz. Ein Ende der Entwicklung in Rich­tung der Beitragsreduzierung ist gerade bei gegebener Wettbewerbslage und sich durchsetzender "neoliberaler Diskurshegemonie" (Voswinkel 1999) eher nicht zu se­hen. Die prinzipielle und auch von tarifmächtigen Verbänden betriebene Infragestel­lung der Sozialkassen mit entsprechenden Umsetzungsversuchen könnte ihren End­punkt markieren. Die Forderungen der Arbeitgeberverbände in der aktuellen Tarif­auseinandersetzung im Frühjahr 2002 werden jedenfalls von der IG BAU als Angriff auf das System der Sozialkassen verstanden (Der Grundstein 4/2002).
1998 wurde dann noch von der konservativ-liberalen Bundesregierung die Hand­werksordnung dergestalt novelliert, dass die strikte Gewerketrennung zwar nicht auf­gehoben (vielmehr eigentlich sogar bestätigt) wurde, aber doch einige Lockerungen bei gewerkeübergreifenden Arbeiten (insbesondere bei verwandten Gewerken) ein­geführt wurden. Die Definition, nach der nur ein Maurermeister einen Maurerbetrieb führen darf, gilt weitgehend auch nach der Novellierung noch. Zwar ist die Zahl der Gewerke bzw. der Vollhandwerke nach Anlage A der HWO von 127 auf 94 reduziert worden und dürfen auch klar beschriebene Randbereiche anderer Gewerke betrieben werden. Doch bleibt die Verbindung von beruflicher Qualifikation und selbstständig ausgeübtem Handwerk noch immer sehr eng. Allerdings ist die HWO so als Gegen­stand möglicher Deregulierungen entdeckt worden.
Zwar gingen die meisten Initiativen zum Abbau der besonderen Branchenpolitik vom Gesetzgeber aus und haben sich die Tarifparteien bei den darauf folgenden Ausein­andersetzungen weitgehend einig gezeigt; zwar konnten die Kollektivakteure des Baugewerbes mit der Durchsetzung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und dem damit verbundenen Mindestlohn sich ein weiteres Mal durchsetzen; zwar wird bei vie­len Gelegenheiten die Gemeinsamkeit der Interessen betont und auf die Besonder­heit der Branche verwiesen, die besondere Formen der Zusammenarbeit brauche, so dass Gerhard Bosch und Klaus Zühlke-Robinet (2000, 281) sicherlich mit Recht sagen können, die "Sozialpartner haben ihren Vorrat an gemeinsamen Sichtweisen noch nicht aufgebraucht." Doch es ist kaum zu übersehen, dass dieser Vorrat auf zuneh­mend fragilem Grund steht.
Nicht zuletzt die Austritte aus den Verbänden, also der massive Mitgliedsrückgang der Gewerkschaft in den vergangenen zehn Jahren und die teilweise katastrophalen Austrittswellen, mit denen sich die beiden "Verbandsverbände" der Arbeitgeber kon­frontiert sehen, deuten darauf hin, dass ein größer werdender Teil der Betroffenen (insbesondere hier natürlich die Baubetriebe) sich nicht länger von dieser korporatis­tischen Politik und ihren Ergebnissen vertreten fühlt. Obwohl der Mitgliederrückgang der IG Bauen-Agrar-Umwelt (bzw. IG BSE) auf zuletzt (Dezember 2001) gerade noch knapp über 500.000 (gegenüber rund 650.000 in 1994) wirklich enorm ist, kann er zu einem guten Teil doch mit dem noch größeren Stellenabbau in der Branche erklärt werden. Im Falle des Mitgliederrückgangs der beiden Arbeitgeberverbände greift die­ser Zusammenhang aber nicht mehr. Als Verbandsverbände organisieren die beiden Bundesverbände nicht einzelne Betriebe oder Unternehmen, sondern die juristisch selbstständigen Landesverbände, die wiederum aufgegliedert sind in regionale und lokale Verbände (oder Bezirke). Hier sind die Unternehmen der Branche organisiert. Die Zahl der Betriebe hat sich, wie gezeigt werden konnte, in den vergangenen Jah­ren weiter erhöht, nicht jedoch die Zahl der organisierten Betriebe. Für die politische Macht der Bundesverbände entscheidend ist aber die Kündigung ganzer Landesver­bände. Dies ist kein dem Mitgliederrückgang der Gewerkschaft gleichzusetzendes Problem. Hier schwindet die Vertretungsmacht.
Vor allem die durch jüngere Entwicklungen hervorgerufenen Veränderungen im La­ger der Arbeitgeber sind ein maßgeblicher Grund für die Schwäche einer betriebs­übergreifenden und branchenweiten Politik. Insbesondere die in der Folge der krisen­haften Entwicklung seit den siebziger Jahren entwickelten neuen Geschäftspolitiken mit einer Beteiligung an einem größeren Teil der Wertschöpfungskette von der Pla­nung bis zum Abriss und der seit den achtziger und erst recht seit den neunziger Jahren stattfindenden forcierten Internationalisierung nicht mehr nur der Produkt- und Angebotsmärkte, sondern vor allem des Bauarbeitsmarktes hat sich das Lager der Anbieter von Bauleistungen stark differenziert. So haben sich die Tätigkeitsfelder auseinander entwickelt, mit der Folge, dass die schon beschriebenen hierarchischen Effekte entstehen. Weiterhin haben sich nicht nur die konkreten Produktionsbedin­gungen auseinander entwickelt, sondern die (daraus resultierenden) Verwertungs­bedingungen. Die meisten kleinen Unternehmen schaffen es kaum, sich am Markt zu halten; Kapazitäten frei zu machen für weiter gehende Strategien will so den wenigs­ten Betrieben gelingen. Sie geraten in die Hierarchiefalle. Es ist heute sehr viel schwieriger, zu einheitlichen Positionen zu kommen, als dies früher der Fall war. Das heißt, dass sowohl die ideologischen Grundlagen ("Krise des Fordismus") als auch die tatsächlichen Bedingungen (Differenzierung der Interessenlagen aufgrund von diffe­renzierteren Produktions- und Verwertungsbedingungen) gegen die traditionelle kor­poratistische Branchenpolitik sprechen. Hiervon ausgehend dürfte es schwer fallen, den besonderen Druck, dem die Branche unzweifelhaft ausgesetzt ist, mit "metier­orientierten" (Voswinkel) Regulierungen auszuhalten.

7.5 Rekrutierungsprobleme aufgrund der Stigmatisierung der Branche


In Fortsetzung der oben eingeführten ambivalenten Situation vom bauadäquaten Mi­lieu bzw. der Defizienz des Sektors kann die These aufgestellt werden, dass das Re­servoir versiegt, aus dem die Fachkräfte hervorgingen, derer sich der Bausektor bis­her bediente. Bereits Ende der achtziger Jahre konnte Burkart Lutz die These formu­lieren, dass "der Typ von Arbeitskraft, aus dem die" Baubranchen "ihre qualifizierte Belegschaft – vor allem, aber natürlich nicht nur die Baustellenbelegschaft – rekru­tiert haben, ... das Ergebnis einer bestimmten historischen Konstellation (war), die in den letzten 30 Jahren unwiderruflich zu Ende gegangen ist" (Lutz 1989, 6; siehe auch: Ders. 1990). Mit Versiegen der traditionellen Arbeitskräftereservoirs muss das Baugewerbe neue Reservoirs erschließen, wenn die bisherigen Arbeitskräfteeinsatz­strategien weiter betrieben werden sollen. Sind solche Reservoirs nicht mehr zu fin­den, bedeutet das zwangsläufig die Entwicklung einer neuen Produktionsstrategie, die den Sektor unabhängig macht von solcherart fundierter Facharbeit und darauf aufbauender Spezialfacharbeit.
Konkret könnten diese beiden alternativen Strategien bedeuten: Entweder verzichten die Baubetriebe ganz auf die Qualifizierung von Fachkräften und praktizieren eine Produktionsweise, die – möglicherweise aufgrund der starken Mechanisierung und Automatisierung in stationären Fabriken und / oder der starken Modularisierung von Bauarbeit mit schließlich nur noch verbleibenden Endmontagetätigkeiten auf der Bau­stelle – überhaupt keine qualifizierte Baufachkräfte braucht. Ob diese Strategie funk­tionieren kann, sei an dieser Stelle zunächst dahin gestellt. Oder die Baubetriebe er­schließen eben doch neue Reservoirs, die wahrscheinlich nicht im Inland zu finden sind, sondern im europäischen und auch außereuropäischen Ausland. Sind diese neu zu erschließenden Reservoirs schließlich doch im Inland zu finden, so bedeutet dies, im Sinne der formulierten These, dass sie es heute noch nicht sind. Infrage kämen demnach also eingewanderte Menschen mit biografischen Hintergründen, die sie der Bauarbeit zuführen würden – ähnlich wie dies in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg schon funktionierte.
Die moderne Industrie einschließlich des Bausektors entstand und wuchs umgeben von einem bäuerlich-handwerklichen Milieu, in dem traditionelle Produktionsweisen, Wirtschaftsformen und Lebensweisen vorherrschten. Aus dem in diesem Milieu mit Verbesserung der hygienischen Bedingungen hervorgehenden Geburtenüberschuss nährte sich das Wachstum der Städte und aus diesem deckte die expandierende In­dustrie ihren Bedarf an Arbeitern. Diese Zuwanderer waren sozusagen ideale Arbeits­kräfte, denn sie waren jung und also auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen Leis­tungsfähigkeit – und dies zu einem Zeitpunkt, als körperliche Kraft in den Kernsekto­ren der Wirtschaft noch weit wichtiger war als geistige Stärke. Sie waren harte kör­perliche Arbeit darüber hinaus von frühester Jugend, wenn nicht Kindheit, gewohnt. Ihre Ansprüche an das Leben waren geprägt durch eine Kindheit im bäuerlich-hand­werklichen Milieu, das sie verlassen mussten, um in der Stadt nach Arbeit zu suchen. Das heißt, sie waren genügsam und ausdauernd, sie waren hierarchiegewohnt und konnten mit vielen Materialien quasi natürlich umgehen. Und sie mussten ihre Ar­beitskraft auf einem Markt anbieten, der diese Qualifikationen bzw. Fähigkeiten oder Eigenschaften nicht bezahlte. Sie hatten den Charakter eines freien Gutes. Deshalb konnten sie nur niedrige Löhne erwarten. Zu fordern hatten sie noch nicht gelernt, bei gegebenem Geburtenüberschuss und gegebener Verbreitung ihrer Qualifikationen hätten sie aber auch keine merklichen Verbesserungen durchsetzen können.
Diese Land-Stadtwanderung aufgrund von Geburtenüberschuss und Arbeitsplatzman­gel in den Herkunftsgebieten, die als Migration innerhalb der politischen Grenzen des Deutschen Reiches und der jungen Bundesrepublik Deutschland bezeichnet werden kann, machte keinen Unterschied nach den konkreten Fähigkeiten der Wanderer. Die neue sozusagen noch ungefilterte Arbeitsbevölkerung bildete die Basis für die auf einfacher Arbeit, Facharbeit und Spezialarbeit aufbauende Industrie. Aus einer gro­ßen Zahl von nicht qualifizierten oder jedenfalls nicht für die konkrete Arbeit qualifi­zierten Arbeitern erwuchsen die Facharbeiter als Fundament einer darauf aufbau­enden Qualifikationspyramide. Der deutsche Facharbeiter ist das Produkt dieser his­torischen Konstellation und Entwicklung; er steht an der Schwelle zwischen einer vorindustriellen Lebens- und Arbeitswelt und der Welt der städtischen Mittelschich­ten. In der ersten Gruppe war harte körperliche Arbeit, in der zweiten Gruppe ist Nutzen abwägendes auf langjährigem Schulbesuch beruhendes aufstiegsorientiertes Verhalten selbstverständlicher Teil des Lebens.
Der Prozess der Verstädterung, die Orientierung der Lebensweise an mittelständi­schen Kategorien, die Nutzung der Schule als Instrument des sozialen Aufstiegs, die Durchsetzung einer Lebensweise, in der Vorteilsnahme und Nutzenkalkül selbstver­ständliche Verhaltensregeln sind, ist praktisch abgeschlossen. Damit findet die tradi­tionelle Welt der Bauern und Handwerker ihr Ende und mit ihr das Reservoir, aus dem sich der Fachkräftenachwuchs des Baugewerbes gespeist hat. Diese Aussage bedeutet aber auch, dass die gegenwärtigen Versuche der kollektiven Akteure des Baugewerbes, die "Arbeit am Bau" attraktiver zu machen für "leistungsstarke Ju­gendliche", zu diesem Zweck betriebene Marketingaktivitäten, Imagepflege usw. nichts am grundlegenden Problem ändern: Der Wertewandel ist Folge der beschrie­benen historischen Veränderungen und kann nicht mit Marketing rückgängig ge­macht werden. Bestenfalls kann momentan angesichts einer sich verstetigenden An­gebotslücke auf dem Ausbildungsstellenmarkt eine gewisse allokative Wirkung erzielt werden, die aber mitnichten in der Lage sein wird, die Grundtendenz zu überwinden.
Der Berufseinstieg der geburtenstarken Jahrgänge in den achtziger Jahren markierte das definitive Ende der traditionellen Facharbeiterrekrutierung. Die seit den siebziger Jahren stattgefundene "Bildungsexpansion", also der Aufbau eines enormen Bil­dungsapparates und die damit betriebene Zurückdrängung des früher üblichen Hauptschulabschlusses zu einer Restgröße funktioniert allemal als soziale Selektion. Je höher der formale Schulabschluss, desto weniger kommt der Schulabgänger als Arbeiter für Industrie und Bau infrage, denn er orientiert sich am Leitbild des Auf­stiegs, das ja tatsächlich eng mit der schulischen Bildung korreliert. Die Restbevölke­rung, die dann noch für eine Lehre infrage kommt, ist so nicht mehr vergleichbar mit jenem Potenzial, das bisher für qualifizierte Lohnarbeit zur Verfügung stand. Der Strom der leistungsfähigeren Schüler in die weiterführenden Bildungseinrichtungen kann nicht mit Marketingaktivitäten zum Stillstand gebracht werden – nicht zuletzt eben weil es diesen klaren und offensichtlichen und für die meisten Menschen deut­lich erkennbaren positiven Zusammenhang von schulischer Bildung und Lebensein­kommen gibt. In anderen Ländern, in denen dieser Zusammenhang noch ausgepräg­ter ist und in denen die Expansion höherer Bildung (deshalb) noch weiter vorange­schritten ist, gibt es schon jetzt praktisch keinen qualifizierten Arbeiternachwuchs mehr. Gerade vor dem Hintergrund des im internationalen Vergleich unterdurch­schnittlichen Anteils von an Hochschulen ausgebildeten Menschen in Deutschland und der daraus abzuleitenden Prognose, dass sich dieser Anteil in der Zukunft noch weiter erhöhen wird, wird sichtbar, dass diejenigen, die mit einem Hauptschulab­schluss ins Berufsleben treten, wirklich nur noch als Restgröße zu fassen sind. In an­deren Ländern, in denen dieses Faktum nicht nur evident, sondern auch bereits Teil der betriebenen Politik ist, wird das Rekrutierungsproblem über legale und illegale Zuwanderung "gelöst".
Versuche, diesem Problem durch forcierte Automatisierung bei gleichzeitig weiter be­triebener Akademisierung zu begegnen, müssen scheitern, weil so der Fachkräfte­mangel über die Trennung der von Ingenieuren betriebenen qualifizierten Tätigkeit zum Zwecke der totalen Planung und Planbarkeit der Produktion und der von kurz­fristig Angelernten ausgeführten Restarbeiten letzten Endes nur bestätigt werden würde. Indem nämlich der Verzicht auf Facharbeit als Antwort auf den Mangel an da­für geeigneten Fachkräften programmatisch betrieben wird, wird auch auf die Heran­bildung dieser Fachkräfte verzichtet. Mit dieser Strategie ist also letzten Endes nichts zu gewinnen. Im Gegenteil: Die Wahrscheinlichkeit einer breiten Dequalifizierung ist im Programm selbst angelegt.
Es ist gerade ein Merkmal von Bauarbeit im Gegensatz zur Fabrikarbeit, dass ein er­heblicher Teil der konkreten Produktionsbedingungen eben nicht planbar und damit eben auch nicht programmierbar ist. Nicht zuletzt wegen dieser – vor dem Hinter­grund der noch immer in den Köpfen existenten fordistischen Normalitätsfiktion – suboptimalen Produktionsbedingungen auf den Baustellen wird seit einiger Zeit (wie­der) verstärkt der Versuch unternommen, größere Teile der Bauarbeit in vorgelagerte Fabriken zu bringen, wo eine in diesem Sinne optimalere Produktion über die höhere Plan- und Kontrollierbarkeit der einzelnen Produktionsschritte möglich ist. Dies ist die eine der beiden Seiten einer auf die vertiefte Trennung von dispositiver und ausfüh­render Arbeit beruhenden Strategie. Auf der anderen Seite stünden dann tatsächlich nur noch repetitive Teilarbeiten, die von nicht qualifizierten Arbeitern unter großem Beaufsichtigungs- und jeweiligem Anleitungsaufwand durchzuführen wären. Wichtig wäre also die Betreibung von beidem: Automatisierung und Sicherstellung des Fort­bestandes qualifizierter Baustellenbelegschaften, eben weil das eine das andere nicht ersetzen kann. Es liegt demnach im, wenn auch langfristigen Eigeninteresse der Bau­betriebe selbst, diese doppelte Strategie zu verfolgen.
Doch bliebe damit das prinzipielle Problem der nachlassenden Attraktivität der Bau­berufe für die nachwachsenden potentiellen Fachkräfte ungelöst. Lutz (1989, 15f) schlug deshalb vor, zunächst das Einkommen, das für Bauarbeit erzielbar ist, so zu erhöhen, dass die ansonsten bestehende Struktur der kumulativen Verbindungen von physischen, finanziellen und sozialen Arbeitsbedingungen aufgebrochen wird. Norma­lerweise gilt, dass, wer am meisten verdient, auch den komfortabelsten Arbeitsplatz, die größte Arbeitsplatzsicherheit und besonders gute Aufstiegsmöglichkeiten hat. Voraussetzung dafür ist in der Regel eine hohe Eingangsqualifikation, die in der Schule und in weiterführenden Bildungseinrichtungen erworben wurde. An den ge­sellschaftlichen Wirkungsmechanismen, die diese kumulative Verbindung hervorbrin­gen (vgl. dazu Hager u.a. 1985), kann auf Branchenebene nichts geändert wer­den267. Als einzige Strategie bleibt also nur, die erlebte defiziente Atypik des Bausek­tors mittels starker finanzieller Anreize zu kompensieren.
Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kam etwa zur gleichen Zeit der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes: "Alle Überlegungen und Anstrengungen, Nachwuchs­kräfte für das Baugewerbe zu gewinnen und der Abwanderung von Facharbeitern zu begegnen, werden unzulängliches Stückwerk bleiben, wenn es nicht gelingt, dem Bauarbeiter einen Jahresverdienst zu sichern, der wenigstens in etwa der Höhe des Jahresarbeitslohnes entspricht, der ohne witterungsbedingten Arbeitsausfall erzielt werden kann" (ZDB a 1989, 188). Zwar ist die Forderung nach einem der stationären Industrie entsprechenden Einkommen nicht so weitreichend wie die von Lutz erhobe­ne, zwar setzten sich die Erkenntnisse schon damals nicht in konkreten Zahlen um (so sind die in derselben Publikation wiedergegebenen tarifpolitischen Vorstellungen weniger ambitioniert als die Losung "finanzieller Ausgleich" vermuten lässt), doch im­merhin offenbart dieser Satz das Problembewusstein.
Weiterhin ist die heute normale Trennung von Ingenieur- und Facharbeit keineswegs allein Ausdruck technisch oder organisatorisch sinnvoller Arbeitsteilung, sondern zu­gleich Ergebnis einer sozialen Schichtung, die ihre Wurzeln in der zu Ende gehenden Trennung handwerklicher und städtischer Milieus hatte. Heute ist es keineswegs mehr normal, vor Beginn einer Ausbildung zum Ingenieur oder Techniker eine Weile im Beruf gestanden zu haben. Die Erwerbsbiografie beginnt mit einer Hochschulaus­bildung, die traditionelle Qualifikationspyramide wird unterhöhlt. Deshalb ist es not­wendig, sich über neue Ausbildungs-, Berufs- und Aufstiegswege auseinanderzuset­zen, die den früher üblichen Facharbeiteraufstieg neu beleben, und so die in vielen Bereichen dysfunktionale Trennung von Fach- und Ingenieurarbeit zu überwinden.
Lutz (1989, 16) schlussfolgert, dass "eine Veränderung der Verdienststruktur mit dem Ziel, unterschiedliche Arbeitsbelastungen und mehr oder minder große Attrak­tivität von Tätigkeiten durch die Bezahlung zu kompensieren, auf der einen Seite und grundlegende Neustrukturierung von Ausbildungswegen und Karrieremustern für qualifiziertes Personal ..., die praktische Erfahrung und Bewährung auf der Baustelle einen hohen Rang einräumt, zwei Ansatzpunkte sind, die ... durchaus die Chance da­für eröffnen, daß es nach Ablauf einer Generation einen ganz neuen, aber ähnlich leistungsfähigen Typ qualifizierter Baustellenarbeit gibt, wie er bisher existiert hatte. Sollte uns dies nicht gelingen, so stehen freilich überall auf der Welt die Schwellen­länder, in denen große Menschenmassen noch heute unter den Verhältnissen leben, aus denen wir bisher unsere zukünftigen Facharbeiter herausgeholt haben, bereit, die technischen Aufgaben und wirtschaftlichen Tätigkeiten zu übernehmen, zu deren Ausführung wir selbst dann nicht mehr in der Lage sind, weil uns die Fähigkeit verlo­ren gegangen ist, die hierfür unverzichtbaren Arbeitskräfte heranzubilden und auf den Baustellen zu halten".
Die seit der Veröffentlichung des Artikels von Lutz und der Formulierung der erfor­derlichen Veränderungen erlebten Rückschläge in Bezug auf ein der stationären In­dustrie anzugleichendes Einkommen dürften kaum zur Überwindung der zugrunde liegenden Probleme beigetragen haben. Mit dieser seit Jahren bestenfalls durch­schnittlichen Lohnentwicklung auf der tariflichen Ebene (Bispinck, WSI-Tarifarchiv; siehe auch: Hunger 2000a, 102f), in der Entlohnungswirklichkeit sehr wahrscheinlich unterdurchschnittlichen Entwicklung (Artus u.a. 1998) und der permanenten negati­ven Medienpräsenz (die ja begründet ist) bei gleichzeitig massivem Stellenabbau macht sich der Bausektor zu einer Schmuddelkinderbranche.

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