VG Berlin 18 A 712.98 v. 14.01.99, GK AsylbLG § 1a VG Nr. 10; teilweise abgedruckt in NVwZ-Beilage I 1999, 38, www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/docs/C1261.pdf (rechtskräftig). Sachverhalt: Der aus dem Kosovo stammende Antragsteller reiste am 2.10.97 mit einem zu Arbeitszwecken erteilten Visum nach Italien ein und reiste am 29.3.98 nach Deutschland weiter. Der Antragsteller wurde vom Landeseinwohneramt zunächst unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aufgefordert. Er erhielt am 29.6.98 eine dreimonatige Duldung, laut Aktenvermerk der Ausländerbehörde aufgrund § 55 AuslG. Am 1. Oktober 1998 wurde die Duldung um 6 Monate verlängert.
Das Sozialamt Wedding gewährte ab dem 30.3.98 Leistungen nach dem AsylbLG. Mit formularmäßigem Bescheid vom 3.11.98 stellte das Sozialamt Wedding sämtliche Leistungen nach AsylbLG zum 6.11.98 ein, da der Antragsteller eingereist sei, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen.
Entscheidungsgründe: Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass er auch dann nach Deutschland weitergereist wäre, wenn die Möglichkeit, öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen, nicht bestanden hätte, insoweit ist der Bescheid im Ergebnis rechtmäßig. Es kann deshalb offen bleiben, welche konkreten Gefahren dem Antragsteller in seiner Heimat durch den Kosovokonflikt drohen, denn er hat sich zunächst nach Italien begeben, wo er vor einer möglichen Gefahr geschützt war, und ist erst mehrere Monate später nach Deutschland weitergereist.
Der Antrag hat jedoch Erfolg, weil es dem Antragsteller derzeit nicht zuzumuten ist, in seine Heimat zurückzukehren. Der Antragsgegner hat auch bei Vorliegen des Tatbestandes nach § 1a stets zu prüfen, inwieweit Leistungen im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten sind. Das kann sich in der Übernahme der Reisekosten erschöpfen, aber auch zu dem vollen Leistungsumfang des § 3 AsylbLG führen. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn der Hilfesuchende nicht zurückkehren kann, weil seiner Rückkehr tatsächliche oder rechtliche Gründe entgegenstehen. Diese Einzelfallprüfung und die damit verbundene gebotene Sachverhaltsaufklärung hat der Sozialhilfeträger vorliegend unterlassen.
Die Kammer geht davon aus, dass dem Antragsteller als einem der zahlreichen in Deutschland lebenden Kosovo-Albaner eine Rückkehr in die BR Jugoslawien zu Zeit nicht zuzumuten ist (anders: VG Berlin 32 A 637.98 v. 12.1.1999). Die erheblichen Spannungen im Kosovo haben sich in den vergangenen Monaten weiter verschärft. Nach Aktionen der serbischen Polizei - auch gegen die Zivilbevölkerung - sind im Kosovo erhebliche bewaffnete Konflikte ausgebrochen. Die gesamten Auseinandersetzungen haben zu zahlreichen Todesfällen und einer dramatischen Verschlechterung der humanitären Situation geführt. Der auf internationalen Druck angeordnete Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte führt dazu, dass die UCK-Strukturen vielerorts wieder aufleben, so dass die Gefahr erneuter bewaffneter Auseinandersetzungen groß ist (Lagebericht Auswärtiges Amt v. 18.11.98). Dies belegt auch die aktuelle Entwicklung... (wird ausgeführt).
Die Kammer hält es derzeit auch nicht für zumutbar, den Antragsteller auf andere Teile Serbiens oder auf Montenegro zu verweisen. Belgrad ist durch die Aufnahme von Flüchtlingen bereits erheblich überlastet. Montenegro hat seit Juli 1998 bereits über 42.500 Flüchtlinge aus dem Kosovo aufgenommen und vom 13.9. bis Mitte Oktober 1998 die Grenzübergänge zum Kosovo geschlossen und 3000 Vertriebene nach Nordalbanien zurückgeschickt (Lagebericht a.a.O.). Nach Angaben des UNHCR hielten sich Ende Oktober 1998 in der BR Jugoslawien 527.000 registrierte Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien auf. zu denen eine Dunkelziffer von 150.000 nicht registrierten Flüchtlingen kommt. Deren Existenzbedingungen sind zwar nicht lebensbedrohlich, viele von ihnen finden sich jedoch in einer schwierigen Lage (Lagebericht a.a.O.). Bei der Beurteilung der vorliegenden Frage kann nach Ansicht der Kammer nicht darauf abgestellt werden, ob ein einzelner eine "inländische Fluchtalternative" hat, sondern es muss die Gesamtzahl der Flüchtlinge berücksichtigt werden. Wie häufig im Ausländerrecht bei der Reihenfolge der Abschiebung größerer Flüchtlingsgruppen könnte hier z.B. an Straftäter gedacht werden. Die Auswahl muss jeweils vom Sozialhilfeträger begründet werden und eine einheitliche Praxis gewährleistet sein.
Für die Unzumutbarkeit einer Rückkehr spricht auch, dass die Senatsverwaltung für Inneres die Ausländerbehörde bereits im Juni 1998 gebeten hat, albanische Volkszugehörige aus dem Kosovo wegen der dortigen Lage bis auf weiteres nicht mehr abzuschieben (vgl. INFO zur Weisung B.55.2 v. 19.6.1998).
Im übrigen spricht alles dafür, dass eine Ausreise aus tatsächlichen Gründen nicht möglich ist. Freiwillige Rückkehrer haben nur dann Aussicht auf Einreisegestattung der jugoslawischen Grenzkontrollorgane, wenn sie im Besitz eines neuen BRJ-Passes oder eines SFRJ-Passes mit serbischen bzw. montenegrinischen Buchstabenkombinationen (CA, CE, CG, CJ, CR, V, VS, B, KA, KB) oder im Besitz eines von den konsularischen Vertretungen Jugoslawiens in Deutschland ausgestellten Reiseausweises sind. Weiterhin darf aus ihrem Pass nicht ersichtlich sein, dass sie ein Asylverfahren durchlaufen haben, wobei u.a. eine Duldung im Pass für die jug. Behörden ein Indiz für ein vorangegangenes Asylverfahren ist (Lagebericht a.a.O.).
Angesichts dieser Sachlage hat der Antragsteller Anspruch auf unabweisbar gebotene Leistungen, zu denen neben den Grundleistungen nach § 3 Abs. 1 S. 1-3 hier auch der zusätzliche Geldbetrag nach § 3 Abs. 1 S. 4 Nr. 4 gehört. Da nicht absehbar ist, wann dem Antragsteller eine Rückkehr zuzumuten ist bzw. wann der Antragsteller tatsächlich ausreisen kann, ist das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum nicht auf die Grundleistungen nach § 3 Abs. 1 S. 1-3 zu beschränken (ebenso VG Berlin 8 A 732.98 v. 8.1.1999).