(Zusammenfassung)
In dieser Doktorarbeit wird das Kanonisierungsprozess in den ungarischen Minderheitenliteraturen Siebenbürgens, der Tschechoslowakei, Serbiens und in den deutschen Minderheitenliteraturen der Bukowina und Siebenbürgens aus den zweiten und dritten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts untersucht. Die Theorien und Methoden der traditionellen Literaturgeschichte wurden mit der amerikanischen Kanontheorie “angereichert“. Weil nicht alle erwähnten Literaturen einen eigenen literarischen Kanon im traditionellen Sinne des Begriffs zu schaffen fähig waren, muss ich eine Kompromisslösung anwenden. Nur in der ungarischen Minderheitenliteratur Siebenbürgens können wir in dieser Zeitspanne über die vollständige Kanonisierung der Literatur sprechen: es wurde ihr Wertsystem herausgebildet, das Publikum geformt und es wurden ihre Institutionen geschaffen. Die anderen Minderheitenliteraturen befinden sich in einer präkanonischen Lage und sind mit den Teilaspekten des Kanons beschäftigt. Sie haben keine ausreichenden geistigen Reserven, einen die ganze Literatur umfassenden Kanon herauszuarbeiten. Ihre schöpferische Energie wird von den Sorgen um das Schaffen von Institutionen, um das Publikum und die neue politische Lage der Minderheiten aufgezehrt. Die Sorgen des Überlebens erlauben diesen Minderheitenliteraturen nicht, eine dem Transsilvanismus ähnliche Ideologie zu schaffen. Die Notlage dieser Literaturen hat mich zu dem methodischen Versuch angeregt, den kanon der rumäniendeutschen Literatur und der ungarischen Literaturen aus der Tschechoslowakei und aus Serbien in ihrer Partialität zu studieren. Die betreffende Adaptation der Kanontheorie ermöglicht eine Rekonstruktion des Kanons des Regionalismus und des Randes bei diesen Literaturen. Durch den Vergleich aller dieser Kanontypen kommen die Merkmale der Ähnlichkeiten und der Unterschiedlichkeiten hervor.
Die Vollständigkeit des literarischen Kanons des Transsilvanismus in der ungarischen Literatur Siebenbürgens ermöglicht auch das Studium anderer Aspekte und die Einbeziehung neuerer Theorien in die Untersuchung. Durch die Rekonstruktion der Rezeptionsgruppen der Literatur können jene Erwartungshorizonte der dreißiger Jahre erschlossen werden, die den Kanonisierungsprozess der ungarischen Literatur Siebenbürgens unmittelbar beeinflusst haben. Vor allem die abweichenden Betrachtungsweisen der Rezeptionsgruppen kanonisierten die ungarischen Literaturen der Nachfolgeländer als Minderheitenliteraturen und bestimmten für sie den neuen Status Quo. Im gegensatz dazu ermöglicht die Theorie der Mehrsystemigkeit die Untersuchung der Integrationstendenzen der Literaturen. So kann man in der Literaturkonzeption der dreißiger Jahren eine neue Bestrebung bemerken: die Minderheitenliteraturen werden nicht mehr isoliert, sondern in einem umfassenden Kanon, d. h. im Rahmen der Nationalliteratur betrachtet. Diese über die Grenzen und über die Teilliteraturen hinausreichende Rezeption vervollständigte sich später in der gesamtungarischen Literaturkonzeption der siebzigen Jahren.
In den Literaturgeschichten gibt es kein bedeutendes kanontheoretisches Vorstudium der Minderheitenliteraturen. Die nationalen Literaturgeschichten zählen die größeren Stilrichtungen und schriftstellerischen Bestrebungen auf. Die amerikanische Fachliteratur berücksichtigt auch die kleineren Kanons: die Funktionen des Kanons sind in der literarischen Tätigkeit einiger gruppen und verschiedener Minderheiten studiert. Unter diesen Gruppen werden ethnische, sexuelle und religiöse Gemeinschaften verstanden, die eine gruppen- und identitätseigene Ideologie haben. Die Literatur richtet sich dann nach diesem Identitätskanon, der identitätspezifische Themen darstellt. Die Literaturen der nationalen Minderheiten haben einen ähnlichen Rezeptionsmechanismus, doch mit einem bemerkenswerten Unterschied: die nationalen Minderheiten Südost-Europas haben in ihrer politischen Zwangssituation den eigenen literarischen Kanon als teil einen Überlebenstheorie aufgenommen. Dieser Verteidigungreflex ruft jene Aspekte des Kanons hervor, die die Identität einer nationalen Gemeinschaft festigen. So kann Literatur im Dienst des Überlebens stehen. Es ist bekannt, dass der unter dem Einfluss des Alltagslebens sich befindende Kanon vor allem seinen universellen Charakter und seine schöpferische Kraft verliert. Deswegen gibt es zur Zeit keine Kanonisierung der ungarischen Minderheitenliteraturen in der Tschechoslowakei und in Serbien und der deutschen Minderheitenliteraturen in der Bukowina und in Siebenbürgen. Das hat Makkai Sandor, der Kanonschöpfer der ungarischen Literatur Siebenbürgens rechtzeitig bemerkt, und fördert er die Revision des Transsilvanismus, d. h. die Rekanonisation der Literatur.
Die in dieser Doktorarbeit verwendeten Theorien und Methoden ermöglichen es, die schon bekannten Tatsachen der Literaturgeschichte in neuere Kontexte zu stellten, und einige bis jetzt wenig untersuchte Aspekte und Tendenzen in der Herausbildung des Bewusstseins der Minderheiten zu skizzieren. So kann verfolgt werden, wie sich die Minderheitenliteraturen unter verschiedenen geschichtlichen und politischen Bedingungen kanonisiert haben, wie diese Kanonisation durch die Beziehungen zwischen der Binnenliteratur und Aussenliteraturen beeinflusst wurde, oder welches die Faktoren der Kanonisation sind, die für die Minderheitenliteraturen einen Hohenwert besitzen. In dieser Hinsicht versucht meine Doktorarbeit drei heuristische Voraussetzungen zu setzen: 1. Die Minderheitenliteraturen müssen intensiver (in zwei Jahrzehnten) die Kanonisierung verwirklichen, zu der vorher die Nationalliteraturen ein ganzes Jahrhundert gebraucht haben. 2.Die von mir studierten Minderheitenliteraturen bestätigen die Hauptschlussfolgerung der Fachliteratur: keine Gemeinschaft existiert ohne Kanon. 3. Der Kanon der Minderheiten strukturiert sich anhand der grossen Kanons der Literaturgeschichte. Auch sie verfügen über die wichtigsten Teile des Kanons: das Publikum, die eigene Aesthätik, die Institutionen, die Sprache und die Geschichte.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse meiner Doktorarbeit sind partiell und offen zum Dialog. Ich versuchte Fragen zu stellen und Fragen zu beantworten. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Kanonisierung der Minderheitenliteraturen kein beendetes Prozes ist, sie dauert auch in unserer Zeit noch an. Die Minderheitenliteraturen sind noch heute mit der Schaffung von Institutionen beschäftigt, mit dem Finden eines Publikums und mit der Bewahrung der Sprache und der Kultur.
Diese Doktorarbeit ist methodisch strukturiert, und ihre zwei Teile stellen die Kanonisierung der Minderheitenliteraturen aus verschiedenen Aspekten dar. Der erste Teil schaut die wichstigte ungarische und deutsche Fachliteratur durch und versucht eine kleine Begriffserklärung zu geben, und enthält eine Einführung in die Kanontheorie. Der zweite Teil erörtert die Hauptaspekte der Kanonisierung in den Minderheitenliteraturen, insbesonders die Rolle des Publikums, der Aesthätik, der Geschichtlichkeit und der Institutionen. Dieser Teil untersucht den Kanon der ungarischen Minderheitenliteratur Siebenbürgens und des Regionalismus in der deutschen Minderheitenliteraturen Rumäniens: Bukowina und Siebenbürgen. Diesem Teil gehört der Kanon des Randes der ungarischen Literatur aus der Tschechoslowakei und aus Serbien.
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