François Höpflinger


Spezielle Herausforderungen bei älteren Migranten und Migrantinnen



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Spezielle Herausforderungen bei älteren Migranten und Migrantinnen
Die älteren Migranten und Migrantinnen bilden von ihrer Herkunft, aber auch von ihrer familialen und beruflichen Lebensgeschichte eine sehr heterogene Gruppe. Je nach Herkunftskontext, Migrationszeitpunkt, Lebenssituation und sozio-kultureller Ausrichtung bestehen bei älteren Men­schen, die in die Schweiz einwanderten, sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Formen der Lebens­gestaltung im Alter (vgl. Dietzel-Papakyriakou 2001). Vielfach sind es zudem mehr soziale Schichtfaktoren (Bildung, früherer Berufsstatus, Rentenhöhe) sowie biographische Einflussfaktoren (erlebte Kindheit und Jugend, Verlauf der Migration und der Integration in den neuen Wohn­kontext) als spezifisch kulturelle Faktoren, die das Alter bestimmen.

Betrachten wir die heute alt gewordenen Frauen und Männer der ersten Einwanderungswelle – oft ehemalige Arbeitsmigranten aus südeuropäischen Ländern – sind häufig drei Merkmale bedeutsam:


a) ländliche Herkunft und das Thema der ‚verlorenen Jugend’: Die in den 1950er und 1960er Jahren einwandernden Arbeitskräfte stammten vielfach aus damals wenig entwickelten oder ruralen Regionen Südeuropas. Unterentwicklung und hohe Arbeitslosigkeit waren treibende Motive, im Norden Arbeit zu suchen. Die Migration bedeutete nicht nur einen Wechsel von einem vertrauten Land in ein fremdsprachiges Land, sondern oft auch den Wechsel von einer ländlich geprägten Sozialordnung zu industriell-städtischen Lebensverhältnissen (was die sozio-kulturellen Unter­schiede zwischen ausländischen Arbeitskräften und einheimischer Bevölkerung zusätzlich ver­stärkte). In den letzten Jahrzehnten haben viele dieser südeuropäischen Regionen einen raschen Entwicklungssprung erlebt, und die Herkunftsregionen der ersten Einwanderergeneration haben sich wirtschaftlich und sozial massiv verändert. Die ursprüngliche Heimat ist nicht mehr die gleiche ist wie zur Zeit ihrer Auswanderung, aber langjährige Rückkehrillusionen können dazu führen, dass der inzwischen stattgefundene Wandel im Herkunftsland verdrängt wurde. Für ältere Migranten und Migrantinnen kann sich daraus ein doppelter Verlust ergeben: Die ursprünglich verlassene Heimat der Jugend existiert nicht mehr, aber auch die Schweiz ist noch keine echte Heimat. Das Gefühl von Heimatlosigkeit (und einer ‚verlorenen Jugend’ ist bei älteren Migranten nicht selten. Die im Alter zentrale biographische Aufarbeitung der Lebensgeschichte hat deshalb sowohl die Migrations­biographie (das Erlebnis der Migration in ein fremdsprachiges Land) als auch den Wandel der Herkunftsgesellschaft zu thematisieren (vgl. Stauffer 2001). Bei Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien sind auch direkte und indirekte Kriegserfahrungen ein zentrales biographisches Thema.
b) langjährige Rotationspolitik der Schweiz und verzögerte Integration: Während ein Teil der osteuropäischen Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen wurde, war die Einwanderungsspolitik gegenüber den ausländischen Arbeitskräften der ersten Generation widersprüchlich. Die Arbeits­kräfteimmigration wurde lange Zeit als vorübergehendes Phänomen erachtet (was sich in einer gezielten Rotationspolitik mit kurzfristigen Arbeitsverträgen bzw. Saisonarbeit sowie erschwertem Familiennachzug niederschlug). Trotz massiver Einwanderung verstand sich die Schweiz lange Zeit nicht als 'Einwanderungsland'. Dies verzögerte und erschwerte die sprachliche und soziale Inte­gration der ersten Einwanderergenerationen wesentlich. Die Wohn- und Arbeitsbiographien der ersten Migrationsgenerationen waren oft gebrochen und diskontinuierlich (z.B. Beginn als Saison­arbeiter, Trennung von Familie, erst späte Niederlassung und Familiennachzug). Fehlende Inte­grationsbestrebungen seitens der Schweiz führen bis heute dazu, dass ältere Ausländer teilweise sprachlich und sozial wenig integriert verblieben. In einer 2000 durchgeführte Umfrage der „Federazione colonie libere italiane“ beschuldigte die grosse Mehrheit (83%) der befragten älteren Italiener die Schweiz ‚ nichts für ihre Integration getan zu haben’, und 78% der Befragten haben sich noch nie an eine schweizerische Institution gewandt. So ist die Nutzung von Beratungsstellen durch Migranten und Migrantinnen vielfach gering (vgl. Hiebert-Gfeller 2004).
c) berufliche und soziale Unterschichtung: Für das Verständnis der wirtschaftlichen und gesund­heitlichen Lage älterer Menschen der ersten Einwanderergenerationen ist entscheidend, dass sie während ihres Erwerbslebens häufig harte körperliche Arbeiten als ungelernte Arbeitskräfte zu übernehmen hatten. 39% der ausländischen AHV-Rentner und 58% der ausländischen Rentnerinnen haben keine nachobligatorische Ausbildung; bei den Schweizern liegen die Anteile bei 14% (Männer) und 43% (Frauen) (vgl. Bundesamt für Statistik 2007: 123). Die ‚Fremdarbeiter’ der ersten Generation füllten primär Berufspositionen aus, welche die Schweizer mieden, weil sie schmutzig, gefährlich, körperlich hart oder schlecht bezahlt waren. Die Schweiz der Nach­kriegsjahrzehnte war durch eine ausgeprägte soziale Unterschichtung gekennzeichnet: Immigranten übernahmen untere Statuspositionen, was Einheimischen den Weg in obere Statuspositionen öffnete. Die Einwanderungsbewegung der 1960er und frühen 1970er Jahre hat die wirtschaftliche Lage heutiger einheimischer AHV-Rentner verbessert, auf der anderen Seite hat sie dazu geführt, dass ältere Migranten - ob eingebürgert oder nicht – häufiger mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben. Ausländer beziehen tiefere BV-Renten als gleichaltrige Schweizer, und sie können in geringerem Ausmass auf Leistungen aus der 3. Säule zählen. Während 2006 11% der Schweizer AHV-Rentner Ergänzungsleistungen zur AHV in Anspruch nehmen mussten, waren dies 24% der ausländischen AHV-Rentner. Harte berufliche Belastungen tragen auch dazu bei, dass älter gewordene ausländische Arbeitskräfte im Alter häufiger mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben (wie Rückenprobleme, Gelenk- und Gliederschmerzen usw.) (vgl. Meyer 2008: 88ff.). Speziell bei älteren Migranten aus Balkanländern wurde ein besonders schlechter Gesundheitszustand festgestellt (vgl. Bolzman et al. 2004).
Abschlussdiskussion und Folgerungen
Die soziale und wirtschaftliche Lage von Migranten und Migrantinnen im späteren Lebensalter variiert deutlich je nach Familienstand, Bildungshintergrund und erlebter sozialer Integration. Deshalb zeigt sich, dass bei Diskussionen um den Unterstützungsbedarf älterer Migranten weder das Bild der ‚zerrissenen Migrationsfamilie ohne Kohäsion und Unterstützung’ noch das Bild eines allumfassenden Familienverbundes der Wirklichkeit gerecht wird (vgl. Olbermann 2003). Wie allgemein in der Alterspolitik hat eine bedarfsgerechte Unterstützung älterer Migranten von Konzepten einer 'differenziellen Gerontologie' auszugehen. Wichtig bei der Unterstützung älterer Migranten ist allerdings generell die Mitberücksichtigung ihrer oft vielfältigen Migrations­erfahrungen und ihrer jahrelangen Auseinandersetzung mit zwei unterschiedlichen Kontexten. Für ältere Migranten hat auch die Anerkennung der Anpassungsleistungen, die sie während der Migrationszeit erbracht haben, eine hohe Bedeutung. „Der Wertschätzung dieser Leistungen könnte deshalb in der Altersbetreuung eine grosse Bedeutung zukommen, insbesondere bei MigrantInnen, die schon seit mehreren Jahrzehnten in der Schweiz leben.“ (Kobi 2007: 103). Ältere Migranten beurteilen ambulante oder stationäre Angebote zudem oft gemäss transnationalen Bezugspunkten (z.B. Pflegeverhältnisse in der Schweiz werden mit Pflegeformen im Herkunftsland verglichen), was die eigenen Wünsche zur Altersbetreuung beeinflusst. Es zeigt sich zudem, dass schwei­zerische Institutionen der Altersarbeit nicht davon ausgehen können, dass die Migranten „einfach“ kommen. Es ist notwendig, dass sie auf diese neue Klientengruppe zugehen, etwa indem Infor­mationen so aufbereitet werden, dass sie von Migranten verstanden werden (vgl. www.alter-migration.ch). Allerdings reichen schriftliche Informationen zumeist nicht aus, sondern wichtig sind Multiplikatoren mit Beziehungen zu den jeweiligen Migrationsgruppen (auch weil ältere Migranten ihre Informationen primär aus informellen Netzwerken beziehen) (vgl. Kobi 2007: 20). Projekte für ältere Migranten funktionieren deshalb nicht ohne starke Mitbeteiligung ausländischer Moderatoren
Benützte Literatur

Bolzman, C . et al. (2001) Les immigrés vieillissent aussi, in Nova, N°2: 21-25.

Bolzmann, C., et al (2004). Older labour migrants`well being in Europe: the case of Switzerland. Ageing and Society 24: 411 – 429.

Bundesamt für Statistik (1996) Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 1995-2050, Bern.

Bundesamt für Statistik (2007c) Statistik Alterssicherung. Analyse der Vorsorgesituation der Personen rund um das Rentenalter anhand der Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) 2002 und 2005, Neuchâtel: BFS.

Bundesamt für Statistik (2008) Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Bericht 2008, Neuchâtel: BfS.

Dietzel-Papakyriakou, M. (2001) Elderly foreigners, elders of foreign heritage in Germany, Revue Européenne des Migrations Internationales, 17 (1): 79-99.

Hiebert-Gfeller, K. (2004) Wohnberatung für ältere Migrantinnen und Migranten in der Stadt Zürich, Diplomarbeit Nachdiplomstudium "Management im Sozial- und Gesundheitsbereich", Hochschule für Soziale Arbeit, Luzern (mimeo.).

Kobi, S. (2007) Unterstützungsbedarf älterer Migrantinnen und Migranten: Die Sicht der Betroffenen, Forschungsbericht der Fachhochschule Zürich, Hochschule für Soziale Arbeit, Dübendorf.

Meyer. K. (Hrsg.) (2008) Gesundheit in der Schweiz. Nationaler Gesundheitsbericht 2008, Bern: Huber.

Olbermann, E. (2003) Soziale Netzwerke, Alter und Migration: Theoretische und empirische Explorationen zur sozialen Untersützung älterer Migranten, Dissertation an der Universität Dortmund, Dortmund.

Stauffer, J. (2001) ‚Kulturpendlerinnen’. Lebensgeschichten italienischer Frauen in der Schweiz, Lizentiatsarbeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, Zürich (mimeo.).

Wanner, P.; Sauvain-Dugerdil, C.; et al (2005) Alter und Generationen. Das Leben in der Schweiz ab 50 Jahren, Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.
Urbanisierung – Land-Stadt-Wanderungen und regionale Verteilungsstrukturen
Land-Stadt-Wanderungen und Prozesse der Urbanisierung

Urbanisierung (Verstädterung) ist ein zentraler gesellschaftlicher Prozess der letzten hundertfünfzig Jahren; ein Prozess, der immer stärker globalen Charakter angenommen hat. Demographisch sind Urbanisierungsprozesse aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens wird dadurch die räumliche Verteilung der Bevölkerung verändert, und zweitens war und ist das Wachstum von Städten bzw. Metropolen auch das Resultat einer säkularen Wanderungsbewegung, nämlich der Land-Stadt-Wanderung von Menschen.


Anteil der Wohnbevölkerung in als urban definierten Gebieten (urban areas)
1950 2007 2050
Afrika 15% 39% 62%

Asien 17% 41% 66%

Europa 51% 72% 84%

Latein- & Zentralamerika 41% 78% 89%

Nordamerika 64% 81% 90%

Ozeanien 62% 71% 76%


Anteil der Wohnbevölkerung in urbanen Regionen in ausgewählten Länder 2005
%-urban * %-urban 750'000 + Personen

Welt insgesamt 49% 21%

Algerien 63% 12%

Burkina Faso 16% 8%

Nigeria 47% 16%

Kenya 19% 10%

Südafrika 59% 32%
USA 79% 47%

Brasilien 83% 40%


Bangladesh 24% 12%

Indien 28% 13%

China 45% (1950: 15%) 21%

Japan 79% 48%


Grossbritannien 80% 29%

Oesterreich 75% 17%

Frankreich 77% 27%

Deutschland 73% 9%

Schweiz 68% 15%

Italien 68% 17%

Griechenland 60% 37%
Australien 87% 61%

* nationale Definition

Quelle: UN Population Division (2008) World Urbanization Prospects. The 2007 Revision, New York.
In Europa und Nordamerika leben heute 70% bzw. mehr als 80% der Bevölkerung in als urban definierten Gebieten, wobei die Definition einer Stadt national variiert. Auch in Lateinamerika leben gut drei Viertel der Einwohner in urbanen Regionen. Weniger urbanisiert sind (noch) weite Teile Asiens (ohne Japan) und Afrikas, wobei auch in diesen Regionen ein rasch ansteigender Urbanitätsgrad zu erwarten ist. Einer der wesentlichen sozio-demographischen Wandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte ist das enorme Anwachsen der Städte in Ländern der sogenannten 'Dritten Welt'. Dabei entstanden innerhalb historisch kurzer Zeit riesige urbane Agglomerationen, mit allen damit verbundenen sozialen Konsequenzen, wie Entstehung riesiger Slums, Zusammenbruch von Verkehr und Infrastruktur. Das Wachstum von Städten ist aus jeder Sicht dramatisch, ob an der Kopfzahl, Grösse oder Wachstumsrate gemessen. Während der Verstädterungsprozess in den Industrieländern stagniert, hat die Verstädterung vor allem in den Entwicklungsländern immense Dimensionen angenommen, mit Raten, die oft zu hoch sind, um ein geordnetes Städtewachstum zu ermöglichen. Sowohl die absolute Grösse wie die Kürze der Zeit, in der diese Entwicklung vor sich gehen wird, sind überwältigend und von gravierender Bedeutung sowohl für die soziale wie die physische Umwelt vgl. Cube 1995: 42).
Die grössten Mega-Cities 2007 (Bevölkerung in Mio.)
1950 2007 1950 2007

Tokyo 6.1 35.7 Delhi - 16.0

Mexico City 3.1 19.0 Shanghai 5.3 15.0

New York 12.3 19.0 Kolkata 4.4 14.8

Mumbai - 19.0 Buenos Aires 5.0 12.8

Sao Paulo - 18.8 Dhaka - 13.5


Quelle: UN Population Division (2008), World Urbanization Prospects. The 2007 Revision, New York.

Im folgenden soll kurz auf die Entwicklung urbaner Regionen eingegangen werden. Dabei werden - schematisch - vier Phasen der Stadtentwicklung unterschieden:

a) Vor-industrielle Städte,

b) Industrialisierung und Verstädterung,

c) Post-industrielle Stadt-Entwicklungen: Agglomerisierung und Suburbanisierung,

d) Dritte Welt: Urbanisierung ohne sozio-ökonomische Entwicklung?


Vorindustrielle Städte

Die ersten Städte waren hauptsächlich Macht-, Kultur- und Handelszentren. Wirt­schaftlich lebten die vorindustriellen Städte (und ihre Machteliten) weitgehend von der Ausbeutung der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktion ihres Umlandes. Manche vorindustrielle Machtzentren - namentlich in Asien und Nordafrika - waren am Machterhalt einer bestimmten Dynastie gebunden, und beim Sturz einer Dynastie wurde nicht selten eine neue Hauptstadt gegründet. Als Zentrum von Verwaltung und Macht waren vorindustrielle Hauptstädte auch das kulturelle Zentrum eines Landes. Die Zentralisierung und Monopolisierung von Macht und Kultur eines Landes widerspiegelten sich in der Macht der jeweiligen Metropole. Umland und andere Städte waren der Hauptstadt untergeordnet. Insofern Städte dem Herrschaftswillen der jeweiligen aristokratischen Machtelite unterworfen waren, besassen sie meist nur eine geringe sozio-politische Eigenständigkeit. Vorindustrielle Städte waren häufig 'instrumentelle Zentren'; ein Muster, das vor allem in asiatischen Kulturen dominierte.

In der griechisch-römischen Kultur, und später im europäischen Abendland entwickelte sich allerdings eine vollständig andere Stadtkultur: die Stadt (Polis), mit ihren Bürgern, war ein aktives soziales und politisches System. Solche Städte genossen eine weitgehende Selbständigkeit, und zwar in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Hinsicht. Griechische Stadtrepubliken, der römische Stadtstaat und später die 'Freien Städte' des Mittelalters in Deutschland oder die Stadtrepubliken Italiens waren eigenständige Machtzentren. Sie waren gegenüber Königen oder dem Adel weitgehend autonom. In solchen Städterepubliken konnte sich das gewerblich-kauf­männische Bürgertum gegenüber dem Adel wirtschaftlich und teilweise auch politisch durchsetzen (auch wenn Teile der bürgerlichen Machteliten anschliessend selbst aristokratische Züge übernahmen). Selbst in europäischen Ländern mit zentraler Machtstruktur und starker Aristokratie (z.B. England, Frankreich) blieben die Städte weitgehend eigenständige und bürgerlich geprägte Wirtschaftszentren (die ihre wirtschaftliche Macht häufig gezielt einsetzten, um verschiedene Fraktionen der Aristokratie gegenseitig auszuspielen und so zu schwächen).

Die Bedeutung dieser europäischen Form autonomer Städte und Stadtrepubliken für die Entwicklung und den Aufstieg des Bürgertums kann nicht genug betont werden. Ohne freie Städte wären weder Reformation und Aufklärung noch die Ablösung feudaler Verhältnisse durch liberal-demographische Strukturen möglich gewesen. Der Grund, weshalb sich wirtschaftlicher Liberalismus, wissenschaftlich-technisches Denken und indu­strielle Revolution zuerst in Europa und Nordamerika erfolgreich durchzusetzen vermochten, war die Existenz eines selbstbewussten, städtisch geprägten Bürgertums, wie es in aussereuropäischen Kulturen und Reichen kaum oder nur in rudimentärer Form (z.B. als wohlhabende Handelsleute in arabischen Städten) bestand.

Allerdings lebte bis ins 19. Jahrhundert nur eine geringe Minderheit der Weltbevölkerung in Städten, und 1900 wohnten weltweit erst 5% der Menschen in als Städte definierten Gebieten. In Europa besassen einzig Italien, Niederlanden und England einen relativ hohen Anteil städtischer Bevölkerung. 1800 lebten hingegen in Deutschland rund 90% der Menschen noch in Gemeinden mit weniger als 5'000 Einwohner, und auch 1850 waren es noch 84% (vgl. Bairoch 1976).
Industrialisierung und Verstädterung

Der eigentliche demographische Aufschwung der europäischen und nordamerikanischen Städte erfolgte erst mit dem Durchbruch industrieller Produktionsweisen. So führten Neuorganisation und Mechanisierung der Landwirtschaft zur massenhaften Freisetzung landwirtschaftlicher Arbeits­kräfte, die in neu entstehende industriell-städtische Ballungs­räume abwanderten. In England wurde im 19. Jahrhundert beispielsweise massenweise Pachtland in Wiesen für die Schafzucht umgewandelt, den gekündigten Pächtern blieb nichts anderes übrig, als in den Industriestädten nach Arbeit nachzusuchen. In Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern wurde die Land-Stadt-Abwan­derung durch wiederkehrende Krisen ländlich-gewerblicher Wirtschaftszweige und der Heimarbeit angeheizt. Technisch-industrielle Umstrukturierungen ihrerseits führten zu neuen, zentralisierten Produktionsformen. Es entstanden Fabriken, um die sich neue industrielle Ballungsräume bildeten. Viele industrielle Städte wuchsen sozusagen im Gleichschritt mit Kohlen- und Stahlproduktion. Manchester, um 1800 ein ländlich geprägtes Gebiet von 75'000 Einwohnern, umfasste 1850 schon 400'000 Personen, zumeist ungelernte Arbeitskräfte aus den umliegenden Gebieten. Noch extremer verlief die Entwicklung etwa in Chicago: 1833 war Chicago eine armselige Hüttenstadt mit 4'000 Einwohner, 1865 lebten schon 180'000 Leute in der Stadt, und bis 1872 hatte sich die Bevölkerung auf 360'000 verdoppelt, um 1900 1.8 Mio. Einwohner zu erreichen (und dies war vor Beginn der industriellen Autoproduktion). Analoge rasche Verstädterungs­prozesse - begleitet durch massive Land-Stadt-Wanderungsbewegungen - als Folge der industriellen Entwicklung erfuhren auch Frankreich, Belgien und weite Teile Deutschlands. Industrialisierung und Urbanisierung waren sowohl in den USA als auch in vielen europäischen Ländern eng assoziiert. Eine Ausnahme war die Schweiz, die wegen des Fehlens von Rohstoffen und einer Spezialisierung auf Qualitätsprodukte eine dezentralisierte industrielle Entwicklung bzw. eine Industrialisierung ohne Urbanisierung erlebte.

Das enorme Wachstum der industriellen Städte, aber auch die Expansion nationaler Metropolen, wie Paris, London und später Berlin, war mit einer enormen Arbeitskräftemigration begleitet. Dabei ergaben sich neben kleinräumlichen Wanderungsbewegungen auch grenzüberschreitende Migrationsbewegungen, etwa wenn polnische Arbeitskräfte im Ruhrgebiet Arbeit suchten. Diese Land-Stadt-Migration war für viele Männer und Frauen mit sozialem Aufstieg verbunden, endete für andere Menschen hingegen in Proletarisierung und Verslumung. Ein nicht unwesentlicher Teil der Land-Stadt-Migration war temporär, und die Arbeitskräfterotation industrieller Städte war zeitweise enorm. Die Industriestadt von Duisburg beispielsweise wuchs zwischen 1848 und 1904 um rund 98'000 Personen. In dieser Periode arbeiteten jedoch insgesamt rund 720'000 Menschen für längere und kürzere Zeit in Duisburg (Jackson 1982: 248). Die enormen Klassenunterschiede innerhalb der rasch wachsenden Städte widerspiegelten sich in den urbanen Siedlungsstrukturen, und die Urbanisierung war meist mit ausgeprägter räum­licher Segregation sozialer Klassen begleitet. In London etwa siedelten sich die reichen Bürgerfamilien im Westen der Stadt an, wodurch sie - da der Wind meist von Westen her bläst - von den industriellen Abgasen und dem Smog Londons geschützt blieben. Mit der Entstehung urbaner Metropolen entstanden allmählich auch neue Dienstleistungszweige, die das Entstehen neuer Mittelschichten (Angestellte, freie Berufe usw.) förderten.

Während um 1750 erst 7% der WesteuropäerInnen in Städten lebten, wohnten 1900 schon über die Hälfte der englischen Bevölkerung und ein Fünftel der französischen und deutschen Bevölkerung in Städten von über 20'000 Einwohnern (Moch 1995: 127). Im 20. Jahrhundert erhöhte sich der Urbanisierungsgrad Europas weiter. Die andere Seite der Land-Stadt-Wanderungen war eine zeitweise markante 'Entvölkerung' vieler ländlicher Regionen und Alpengebiete; eine Entwicklung, die vielfach erst mit der Ausbreitung der 'weissen Kohle' (Elektrizität) und der Entwicklung des Tourismus ein Ende fand.
Post-industrielle Stadt-Entwicklungen

Mit dem Durchbruch des Individualverkehrs erfuhren viele europäische und nordamerikanische Ballungsräume einen bedeutsamen Strukturwandel, der mit Begriffen wie "Agglomerisierung", Sub-Urbanisierung" und "Peri-Urbanisierung" umschrieben werden kann.

Mit Agglomerisierung angesprochen wird die räumliche Ausdehnung eines urbanen Ballungs­raumes in umliegende Gemeinden, die oft ihre politische Eigenständigkeit beibehalten. An Stelle einer politisch und administrativ einheitlich organisierten Stadt tritt eine Agglomeration ver­schiedener Gemeinden, und teilweise wachsen ganze Regionen zu einem zusammenhängenden Siedlungsgebiet zusammen. Im Rahmen urbaner Agglomerisierung ergibt sich häufig eine verstärkte Segregation von Wohn- und Geschäftsviertel. Im Kern der Agglomeration - der sogenannten City - verdrängen Büros und Geschäfte die Einwohner, die sich mehr und mehr in den Agglomerationsgebieten rund um den Stadtkern niederlassen. Die städtischen Kerngebiete verlieren nicht nur relativ an Bedeutung, sondern zeitweise sinken die Einwohnerzahlen absolut.

Wenn ein urbanes Siedlungsgebiet sich über die ursprüngliche Stadtgrenzen ausdehnt, ist dies häufig mit Prozessen der Sub-Urbanisierung begleitet. Angesprochen ist damit einerseits der Bau neuer Wohnsiedlungen in Agglomerationsrandgebieten und andererseits - in einer weiteren Phase - die Entstehung von Subzentren innerhalb einer Agglomeration (z.B. durch den Bau neuer Industrie-, Dienstleistungs- und Einkaufszentren ausserhalb der City). In London, aber auch in Hamburg, Paris usw. wurde die Sub-Urbanisierung politisch gefördert, um die polyzentrische Struktur dieser Metropolen zu verstärken. In diesem Rahmen wird auch von einem Prozess 'dezentralisierender Zentralisierung' gesprochen. Im Extremfall entstehen eigentliche urbane Gürtel, die sich über Hunderte von Kilometern erstrecken; urbane Gürtel, die verschiedene traditionsreiche Städte umfassen. Ein solcher urbaner Gürtel ist etwa das Rhein-Ruhr-Gebiet. In den USA bildet etwa die Region von Boston bis Washington ein nahezu zusammengewachsenes urbanes Grossgebiet.

Prozesse der Sub-Urbanisierung sind mit verschiedenen gesellschaftlichen Folgen verknüpft. Eine Folge ist eine verstärkte funktionale und soziale Segregation urbaner Siedlungsräume. Funktionen, wie Wohnen, Einkaufen, Arbeiten und Freizeit, werden räumlich stärker getrennt, was das Verkehrsaufkommen bzw. die Pendel-Migration beschleunigt. Im Extremfall verlieren urbane Räume ein klar definiertes städtisches Zentrum (eine Tendenz, die bei amerikanischen Ballungsräumen besonders auffällt). Parallel mit der funktionalen Entmischung verstärkt sich vielfach die soziale Segregation der Bevölkerung. In manchen Städten war Sub-Urbanisierung zumindest zeitweise mit ausgeprägten familienzyklischen Wanderungsbewegungen verknüpft, indem junge Familien in kinder- und familienfreundliche Vororte zogen, was die Geburten­häufigkeit in städtischen Kerngebieten weiter reduzierte.

Ab den späten 1970er Jahren kam es in verschiedenen europäischen Ländern zu einer Gegen­bewegung im Sinne einer erneuten räumlichen Dezentralisierung der Bevölkerung ('counter-urbanisation'). Im Rahmen dieser urbanen Gegenbewegung erhöhte sich der Bevölkerungsanteil kleiner oder mittelgrosser Städte auf Kosten grosser Städte. Gleichzeitig kam es zu einer verstärkten Peri-Urbanisierung. Mit Peri-Urbani­ierung wird die Verstädterung ländlicher Regionen in Agglomerationsnähe umschrieben, etwa wenn gezielt Einfamilienhäuser für städtische Arbeitskräfte abseits bereits bebauter Gebiete errichtet werden. Die Folgen von Peri-Urbanisierung sind die Überbauung ehemals ländlicher Gegenden und eine rasche Zunahme des täglichen Pendelverkehrs. Der Trend zu Sub-Urbanisierung und Peri-Urbanisierung kann zu einem Teufelskreis von Privatverkehr, Lärm, Umweltbelastung und touristischer Flucht aufs Land beitragen.

Generell zeigt sich in weiten Gebieten Europas und Amerikas eine verstärkte urbane Ausrichtung ländlicher Gebiete, beispielsweise durch eine urban ausgerichtete touristische Entwicklung oder durch die Verbreitung urbaner Lebensweisen in ländlichen Regionen. Die ehemals enormen Unterschiede in Lebenslage und Lebensweise städtischer und ländlicher Bevölkerungen haben sich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte verwischt, was sich beispielsweise im allmählichen Verschwinden lokaler Dialekte ausdrückt. Umgekehrt sind rurale Traditionen heute ein etablierter Teil der urbanen Freizeitkultur geworden, wie die Popularität von Country, Volksmusik oder Trachten bei städtischen Angestellten illustriert.


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