François Höpflinger


Migrationsbewegungen als demographische und soziale Prozesse



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Migrationsbewegungen als demographische und soziale Prozesse
Wanderungsbewegungen sind wichtige demographische Einflussfaktoren der regionalen Bevöl­kerungsentwicklung. Migrationsbewegungen 3 verändern Bevölkerungszahl und Bevölkerungs­struktur sowohl des Auswanderungskontexts als auch des Einwanderungskontexts; beispielsweise in der Richtung, dass der Auswanderungskontext einen Bevölkerungsrückgang und eine verstärkte demographische Alterung erfährt, wogegen im Einwanderungskontext die Bevölkerungszahlen ansteigen und sich die Bevölkerung verjüngt. Es wäre jedoch verfehlt, Wanderungsbewegungen nur als quantitative demographische Prozesse anzusehen, sondern damit verbunden sind immer auch qualitative soziale Veränderungen. Aus soziologischer Sicht ist grundsätzlich zu betonen, dass Migration eine spezifische Form sozialer Mobilität darstellt. Noch stärker als in anderen Bereichen der Bevölkerungssoziologie setzt die Diskussion von Wanderungsbewegungen eine enge Verknüpfung quantitativer und qualitativer Denkweisen voraus.

Migrationsprozesse können allerdings sehr unterschiedliche Formen annehmen, von einem kleinräumlichen Wohnungswechsel einer einzelnen Familie bis hin zu massenhaften Flucht­bewegungen oder kontinentüberschreitenden Auswanderungszügen ganzer Volksgruppen. Angesichts der Vielfältigkeit und Komplexität von Migrationsprozessen ist für die meisten Fragen kein paradigmatischer Konsens zu erwarten. Dies beginnt mit der Vielfalt an Definitionen). Als Migration wird etwa allgemein verstanden "jede Ortsveränderung von Personen" (Hoffmann-Nowotny 1970: 107) bzw. "jeder Wechsel des Hauptwohnsitzes einer Person" (Wagner 1989: 26) oder formeller "das Verlassen des bisherigen und das Aufsuchen eines neuen, als dauerhaft angestrebten Wohnorts in einer signifikanten Entfernung." (Schrader 1989: 436). In analoger Weise wird Migration bei Clark (1986) definiert: "Ich definiere Migration als eine örtliche Verlagerung, die zu weit ist, als dass unter normalen Bedingungen ein Pendeln zum gleichen Arbeitsplatz noch möglich ist." (Clark 1986: 12).

Andere Autoren betonen stärker die gesellschaftliche Dimension einer Migrationsbewegung. Migration wird etwa verstanden als 'Wechsel der Gruppenzugehörigkeit' (Elias, Scotson 1990: 248) oder sogar als 'Übergang eines Individuums oder einer Gruppe von einer Gesellschaft zur anderen' (Eisenstadt 1954: 1). Die Bandbreite zwischen einer (klein)räumlichen Ortsveränderung bis zum Wechsel gesellschaftlicher Zugehörigkeit ist enorm. Allen Definitionen unterliegt allerdings ein Element des räumlich-geographischen Wechsels, wobei meist auch Aspekte der Dauerhaftigkeit betont werden (um kurzfristige räumliche Bewegungen wie touristisches Reisen, berufliches Pendeln und sportliches Wandern auszuschliessen).

Die gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle und demographische Bedeutung von Wanderungsbewegungen ist unbestreitbar enorm. Man übertreibt sicher nicht, wenn man behauptet, die Geschichte der Menschheit sei auch eine Geschichte der Wanderungen. Umso erstaunlicher erscheint, dass selbst die Migrationsforschung lange Zeit implizit oder explizit von der Grundannahme ausging, der Mensch sei ein prinzipiell sesshaftes Wesen. Damit wird Migration - und nicht das Verbleiben am gleichen Ort - erklärungsbedürftig. Daniel Kubat und Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (1981) stellten dieses 'Metaparadigma der Sesshaftigkeit' schon früh grundsätzlich in Frage: "In Umkehrung des klassischen Metaparadigma von Migration nehmen wir an, dass der Mensch von Natur aus mobil ist." (312). Es wäre verführerisch, diesen Gedanken weiter zu verfolgen und anstelle einer Thematisierung von Migration eine 'Theorie der Sess­haftigkeit' zu formulieren. In jedem Fall sind Vorstellungen vom 'Ausnahmecharakter' von Wanderungsbewegungen jederzeit zu hinterfragen.




Formen von Migrationsbewegungen
Zur Unterscheidung und Konkretisierung verschiedener Formen von Wanderungsbewegungen wurden diverse Typologien vorgeschlagen und entwickelt. Dabei stehen primär vier Unterscheidungskriterien im Zentrum:

a) räumliche Kriterien: Unterscheidungskriterium ist in diesem Fall die geographische Distanz der Wanderungsbewegung. So lässt sich etwa ein kleinräumlicher Wohnungswechsel von einer grossräumigen Auswanderung unterschieden. Häufig wird zwischen intrakommunaler, interregionaler und internationaler Wanderung unterschieden, da die vorhandenen statistischen Migrationsdaten meist auf politischen Grenzziehungen basieren (ein Punkt, der bei der Unterscheidung von intranationaler und internationaler Migration besonders deutlich wird). Nationale Grenzziehungen wirken insofern auf Wanderungen zurück, als innerhalb eines Landes das Prinzip der Niederlassungsfreiheit vorherrscht, wogegen internationale Wanderungs­bewegungen vielfach starken politischen Regelungen und Kontrollen unterworfen sind. Sozio­logisch sind räumliche Kriterien insofern bedeutsam, als Wanderungsdistanz, Wanderungsformen und Wanderungsmotive im allgemeinen wechselseitig assoziiert sind. Ein kleinräumlicher Wohnungs- oder Wohnortswechsel ist oft mit Faktoren des Wohnungsmarktes sowie mit Aspekten des Lebenszyklus verbunden (z.B. Wegzug aus dem Elternhaus, Zusammenziehen mit PartnerIn, Wohnwechsel nach Familiengründung usw.). Grossräumige Migrationsbewegungen sind hingegen eher mit wirtschaftlichen Faktoren verknüpft, wie etwa mit Unterschieden in Einkommens- und Arbeitsmarktchancen zwischen Regionen oder Nationen.

b) zeitliche Kriterien: Diesbezüglich wird zwischen temporärer Wanderung (z.B. Saisonarbeit, Ausbildungsjahre im Ausland, kurzfristige Flucht aus Kriegsgebieten) und permanenter Wanderung (z.B. endgültige Auswanderung in ein anderes Land) unterschieden. Die Dauerhaftigkeit einer Wanderungsbewegung lässt sich allerdings nur retrospektiv erfassen, weil selbst langfristig angelegte Auswanderungspläne eine Rückkehr nicht ausschliessen bzw. als temporär geplante Wanderungen sich nicht selten als dauerhaft erweisen. Das zeitliche Kriterium ist zumindest für die Analyse aktueller Migrationsbewegungen ohne Aussagekraft.

c) soziale Kriterien: Unterschieden wird zwischen der Migration von Einzelpersonen (Individual­wanderung), von Familien, ganzer Sippschaften oder sogar ganzer Volksgruppen (Massen­wanderungen). Auch diesbezüglich sind die Übergänge fliessend. Obwohl die Arbeitskräfte-Migration meist als Individualwanderung definiert und wahrgenommen wird, handelt es sich faktisch ebenfalls häufig um kollektiv geprägte Migrationsbewegungen; sei es, dass familial-verwandtschaftliche Strukturen die Wanderungsentscheide beeinflussen; sei es, dass sich aus Einzelwanderungen nach und nach eine Massenauswanderung ergibt. Die Fixierung eines Grossteils der traditionellen Migrationsforschung auf (männliche) Arbeitskräfte hat unter anderem dazu geführt, dass Lage und Probleme von Migrantinnen (als Angehörige oder als eigenständige Arbeitskräfte) lange Zeit vernachlässigt blieben.

d) Wanderungsgründe: Angesprochen werden Motive bzw. Gründe einer Migration. Eine klassische Unterscheidung ist etwa die Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Wanderung. Zwar gibt es eine Reihe von Migrationsformen, die eindeutig erzwungen sind (wie Versklavung und Vertreibung), aber die Unterscheidung 'freiwillig-unfreiwillig' ist bei vielen Migrationsformen fliessend und politisch-moralischen Wertsetzungen unterworfen. So ist etwa die 'Freiwilligkeit' der Auswanderung von Arbeitskräften umstritten, wenn hohe Arbeitslosigkeit im Ursprungskontext die Wahlmöglichkeiten von vornherein einschränkt.
Insgesamt betrachtet vermitteln die verschiedenen Migrationskriterien wenig Anregungen zur theoretischen Erklärung von Migrationsprozessen. In stärker theoretisch ausgerichteten Typologien wurden deshalb gezielt wichtige gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Aspekte sozialer Mobilität einbezogen. Am bekanntesten ist diesbezüglich die Typologie von William Petersen (1975). Er unterscheidet einerseits zwischen vier gesellschaftlichen Ausgangsfaktoren von Migration und andererseits zwischen konservativer und innovativer Migration.
Eine allgemeine Typologie von Migrationsformen nach William Petersen


Typ der Inter­aktion:

Migrations-

Faktoren:



Klassifikation

der Migration:



Typ von Migration

Konservativ Innovativ



Natur und Menschen

Ökologische

Push-Faktoren




'Primitive'

Migration



Nomadische

Wanderung



Land-Flucht,

Auswanderung



Staat und Menschen

Migrations-Politiken

Unfreiwillige,

zwangsweise

Migration


Flucht, Ver­treibung

Kuli-Handel,

(Sklaven-Handel) (?)



Menschen und

ihre Normen




Wunsch nach

Aufstieg


'Aspirationen'

Freiwillige,

freie Migration



Gruppen-wanderung

Migration von 'Pionieren', freie Arbeitsk.

Kollektives

Verhalten




Sozialer

Impuls (social

momentum)


Massen­wanderung

Neu-Ansied­lung

Urbanisierung

Quelle: Petersen 1975


Nun ist die Klassifizierung einer bestimmten Migrationsform als innovativ und konservativ teilweise fragwürdig. So lässt sich kritisieren, dass Petersen den Sklavenhandel zu den 'innovativen Migrationsformen' zählt. Aus diesem Grund haben Krishan und Odynak (1987) diese Typologie modifiziert, und anstelle der Unterscheidung 'konservativ' und 'innovativ' stärker Aspekte sozialer Mobilität (aufwärtsmobil, stationär und abwärtsmobil) berücksichtigt. Alle Typologien vermitteln allerdings höchstens einen groben Hinweis auf die Vielfalt an Migrationsformen.

Aus empirischer wie theoretischer Sicht ist die Brauchbarkeit von Typologien umstritten. Es ist jedoch unbestritten, dass sich die Formen menschlicher Migrationsbewegungen im Verlaufe der gesellschaftlichen Entwicklungen (und Rückentwicklungen) enorm ge­wandelt haben. Ebenso wie andere Formen sozialer Mobilität ist auch die geographische Mobilität historischen Wandlungen unterworfen.
Weltgeschichtlich bedeutsame Migrationsbewegungen - ein Abriss
Im Gegensatz zu anderen Lebewesen sind die Menschen eigentliche 'Globalwanderer' bzw. 'unspezifische Migranten'. Anders als viele Tiere, wie Wandervögel, Aale, Raubtiere usw., folgen die Menschen in ihren Wanderungen keinen biologisch festgelegten Pfaden. Als Gattung, die sich ganz verschiedenen ökologischen Nischen anzupassen vermochte, haben sich die Menschen in biologisch gesehen extrem kurzer Zeit von rund 50'000 Jahren auf allen Kontinenten, mit Ausnahme der Antarktis, niedergelassen. Um 8000 vor Christus war die globale Besiedlung der Erde - mit Ausnahme einiger Inselgruppen - durch wandernde Gruppen jagender und sammelnder Menschen abgeschlossen. In einigen Gebieten erzwang die Zunahme der Bevölkerungsdichte eine erste Änderung der Lebensweise: vom nomadischen Jagen und Sammeln zu einer halb­nomadischen Brandrodung, wie sie teilweise heute noch zu finden ist. Um 4000 vor Christus wurden die ersten Küstensegler entwickelt, mit der Folge, dass auch die Insel­welt besiedelt wurde, zuerst die Inseln im Mittelmeer, später die pazifische Inselwelt.

Mit der Bewirtschaftung domestizierter Tiere entstand allmählich ein pastorales Nomadentum, das sich insbesondere in den eurasischen Steppengebieten rasch ausbreitete. Im 4. Jahrtausend vor Christus entwickelte sich in den fruchtbaren Schwemmgebieten Asiens erstmals eine Lebenskultur der Sesshaftigkeit, mit intensiver Landwirtschaft und festen Siedlungen. Der 'immobile Mensch' war geboren. Bald entstanden erste Städte, begleitet von einer zunehmenden funktionalen und hierarchischen Gliederung der Gesellschaft. Die Entstehung der Städte führte zu einem neuen Typus von Wanderungen; der Land-Stadt-Wanderung. Demographisch gesehen waren die vorindustriellen Städte aufgrund hoher Sterblichkeitsraten oft eigentliche "Schwarze Löcher", und sie waren auf ein Hinterland potentieller ImmigrantInnen angewiesen. Falls die Leute nicht freiwillig einwanderten, wurden sie auch geraubt. So bestanden die altgriechischen und altrömischen Städte in ihrer Mehrheit aus Sklaven und Sklavinnen.

Parallel zu Städtegründungen wurden immer wieder neue Gebiete urbar gemacht oder - nach Epidemien und Kriegszügen - neu besiedelt. Die historischen Wanderungsbewegungen verliefen somit in zwei entgegengesetzte Richtungen, von den Zentren in die Peripherie und von der Peripherie in die Zentren. "Historisch lässt sich in zivilisatorischen Systemen eine grundlegende menschliche Zirkulation beobachten, die auf der einen Seite sporadisch einige Familien in Richtung Peripherie führt, wo neue Gebiete kultiviert werden. Auf der Gegenseite ergibt sich eine mehr kontinuierliche Bewegung in Richtung städtischer Zentren, die zur Erhaltung ihrer Grösse und ihrer Arbeitskraft auf eine Rekrutierung von Menschen aus ihrem Hinterland angewiesen sind." (McNeill 1987: 22).

Im folgenden sollen vier Wanderungsbewegungen kurz skizziert werden, die weltgeschichtlich und gesellschaftlich von besonderer Bedeutung waren bzw. sind.


Gegensatz von nomadischer und sesshafter Lebensweise

Der Gegensatz von nomadischen oder semi-nomadischen Gruppen und sesshaften Bevölkerungsgruppen hat die Weltgeschichte bis in die Neuzeit grundlegend geprägt. Immer wieder kam es zur Eroberung, Vernichtung, Vertreibung oder Überschichtung sesshafter Bevölkerungsteile durch Nomadenstämme bzw. Steppenvölker. Die Sumerer wurden durch Semiter vertrieben, die indogermanischen Völker besetzten Indien und Griechenland, die Hunnen bedrohten die Goten und initierten die Völkerwanderungen, welche mit zum Untergang des weströmischen Reichs beitrugen. Später, in historisch neuerer Zeit, zerstörten die Tartaren das Reich von Kiew, die islamisierten Krieger- und Händlernomaden Arabiens eroberten den Vorderen Orient und Nordafrika. Die Mongolen unterwarfen sich China, und turkmenische Reitervölker bezwangen Byzanz. Auch Afrika wurde (und wird teilweise bis heute) durch den Gegensatz zwischen sesshaften Bauern und zumindest semi-nomadisch lebenden Viehzüchter geprägt. Die Ausbreitung der Bantu, der Tutsi oder später der Zulu verlief entlang dieser Konfliktlinie, und nomadische Raubzüge trugen im 15. Jahrhundert zur Zerstörung des christlichen Königreichs des Kongo bei.



Die nomadischen Völker der Peripherie waren immer wieder stark genug, um hochstehende städtische Zivilisationen zu erobern und zu zerstören, da sie aufgrund ihrer Beweglichkeit militärisch im Vorteil waren. Der Anlass zur militärischen Mobilisierung und Expansion vormals zersplitterter Steppenvölker war vielfach eine demographisch bedingte Überbevölkerung der Steppengebiete. Nomadische Völker haben die gesellschaft­liche Entwicklung weiter Gebiete Asiens, Afrikas und Osteuropas lange Zeit in bedeutsamer Weise geprägt. Einerseits trugen sie zur Zerstörung urbaner Zivilisationen bei, wodurch verschiedene gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen für lange Zeit oder für immer unterbrochen wurden. Andererseits führten die Kriegs- und Eroberungszüge von Steppenvölker zeitweise zur raschen Ausbreitung neuer militärischer Technologien und kultureller Innovationen. Beispielsweise konnte die neue Religion des Islams dank kriegerischen Eroberungszüge nomadisch geprägter arabischer Stämme im 7. Jahrhundert rasch expandieren, später wurde die islamische Hochkultur (und islamische Aufklärung) des Orients im 13. Jahrhundert ihrerseits durch die Eroberungszüge mongolischer Steppenvölker vernichtet. Nomadische Expansionen haben auch zur kontinentalen Ausbreitung von Epidemien beigetragen. So schwächten die von den Hunnen verbreiteten Epidemien im 2. Jahrhundert gleichermassen das Römische Reich und die chinesische Han-Kultur. Im 14. Jahrhundert - als indirekte Folge mongolischer Eroberungen - verbreitete sich die Beulenpest (der 'Schwarze Tod') sowohl in China, Indien, Kleinasien als auch - nach 1347 - in Europa, wodurch die mittelalterliche Gesellschaft Europas in ihren Grundfesten erschüttert wurde.

Die gesellschaftliche Entwicklung mancher Gebiete wurde somit durch wiederkehrende Invasionen nomadischer Völker unterbrochen. Vom direkten Konflikt zwischen nomadischen Völkern und sesshaften Bauern weitgehend verschont blieben einerseits Mittel- und Lateinamerika (da Reittiere vor der europäischen Invasion unbekannt waren) und andererseits Japan und Westeuropa. Abgesehen von kurzfristigen Einfällen (z.B. der Hunnen) war Westeuropa von den eurasischen Steppengebieten zu weit entfernt, um wiederkehrenden nomadischen Invasionen zum Opfer zu fallen. Dasselbe gilt auch für Japan (wo ein mongolischer Invasionsversuch kläglich scheiterte). Das Fehlen noma­discher Invasionen und Zerstörungen war wahrscheinlich ein wesentlicher Faktor, weshalb sich in Westeuropa - von äusseren Bedrohungen relativ ungestört - autonome städtische Bürgerschichten zu etablieren vermochten. Die einzige Analogie zu kriegerischen Steppennomaden in Westeuropa waren zeitweise die nordischen Seefahrervölker (Wikinger, Normannen) sowie einige semi-nomadisch lebende Hirtenvölker. Vor allem die schweizerischen Eidgenossen betrieben jahrhundertelang eine lukrative Krieger-Emigration (Soldwesen) (wobei das Prinzip der 'Neutralität' erfunden wurde, um sich gleichzeitig beiden Kriegsparteien anzudienen).


Erst ab dem 16. Jahrhundert begann sich das jahrtausendalte Muster nomadisch geprägter Bevölkerungswanderungen und Raubzüge allmählich abzuschwächen. Vor allem die Entdeckung und Ausbreitung der Feuerwaffen - womit die Verteidiger grundsätzlich stärker wurden als die Angreifer - veränderte das militärische Gleichgewicht immer mehr zu Ungunsten nomadischer Angreifer. Der letzte erfolgreiche Eroberungszug von Steppenvölker war die Eroberung Chinas durch die Mandschu nach 1644, die als kleine Machtelite bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu regieren vermochten. Russland, lange Zeit den Tartaren unterworfen, unterwarf sich ab dem 17. Jahrhundert allmählich alle Steppenvölker östlich und südlich des Ural; ein Eroberungszug, der von einer enormen Siedlungsauswanderung begleitet wurde. Dazu wurden im 18. Jahrhundert gezielt Bauern und Handwerker aus Deutschland angeworben und angesiedelt (Wolga-Deutsche u.a.). Die allmähliche Kolonialisierung der östlichen Steppengebiete durch das Russische Reich schränkte die Steppennomaden immer stärker ein. Auch in anderen Regionen Asiens trat an Stelle eines Machtwechsels zwischen nomadischen und sesshaften Völkergruppen die eindeutige Vorherrschaft der Sesshaften. Nomadisierende Bevölkerungsgruppen - wie etwa die Zigeuner - wurden ab dem 19. Jahrhundert zunehmend marginalisiert. Nomadische und semi-nomadische Lebensformen - früher von weltgeschichtlicher Bedeutung - sind weitgehend Erinnerung geblieben; eine Lebensform, die in teilweise verkitschter Form höchstens die post-moderne Freizeitkultur belebt (Zigeuner- und Viehzüchter ('Cowboy')-Romantik, Freizeitnomaden mit Rucksack und Zelt usw.).
Überseeische Auswanderung

Während das russische Reich nach und nach die östlichen Steppen- und Waldgebiete unterwarf und besiedelte, unterwarfen die süd- und westeuropäischen Mächte den amerikanischen Kontinent. Die europäische Eroberung und Besiedlung Amerikas wurde durch mitgebrachte Epidemien begünstigt, welche die ursprüngliche Bevölkerung der Karibik, Mittel- und Südamerikas dezimierten oder vernichteten. Von Europa eingeschleppte Krankheiten (wie Pocken, Masern, Tuberkulose u.a.), denen die einheimische Bevölkerung schutzlos ausgeliefert waren, kosteten schon in den ersten Jahren der spanischen Eroberungen Millionen von Amerikaindianern das Leben. Da sie die Transportwege kontrollierten, waren einzig die Europäer in der Lage, die Chancen dieser demographischen Katastrophe auszunutzen. Form und Art der Auswanderung in die 'Neue Welt' variierten je nach den kolonialen Verhältnissen. Während die nordamerikanischen Kolonien religiösen Minderheiten Schutz boten, wurde die Emigration in die spanischen Kolonien Mittel- und Lateinamerikas streng kontrolliert, und spanische Auswanderer benötigten eine Lizenz. Die wirtschaftliche Nutzung weiter Teile Amerikas beruhte lange Zeit weitgehend auf dem Sklavenhandel. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert wurden ungefähr 8 Mio. Schwarze als Sklaven nach Amerika geschleppt, um in den Zucker- und Tabakplantagen der Karibik sowie später in den Baumwollfeldern der amerikanischen Südstaaten zu arbeiten. "Der Sklavenhandel war einer der grössten Migrationsbewegungen von Arbeitskräften in der menschlichen Geschichte. Heute stammen schätzungsweise rund 40 Millionen Menschen in Amerika und der Karibik von diesen Sklaven ab." (Stalker 1994: 11).



Aber auch die europäische Auswanderung nach Übersee war von einmaliger Grössenordnung, und sie erlaubte Europa einen wesentlichen Teil des damaligen Geburtenüberschusses zu 'expor­tieren':"Während der letzten drei Jahrhunderte wurde das natürliche Bevölkerungswachstum teilweise durch internationale Auswanderung abgeschöpft. Mehr als 60 Mio. Menschen haben Europa für Australien, Kanada, die USA und Neuseeland verlassen. Während ihres Höhepunkts, 1881-1910, belief sich die Auswan­derung aus Europa auf rund 20% des natürlichen Bevölkerungswachstums (Razin, Sadka 1995: 9). Historisch war dies für Europa eine einmalige Chance, riesige Flächen an gut kultivierbarem Land in entvölkerten Gebieten zu besiedeln. Allerdings gelang die koloniale Auswanderung langfristig nur in den mittleren Breitengraden, da in den tropischen Gebieten die Europäer tropischen Krankheiten (z.B. Malaria, Gelbfieber) unterlagen. Mit Ausnahme des Südens konnte Schwarzafrika deshalb - trotz entsprechender kolonialer Pläne - von den Weissen nicht permanent kolonialisiert werden.4
Zu einer Massenauswanderung aus Europa kam es allerdings erst im 19. Jahrhundert, und dies primär aus zwei Gründen:

Einerseits wurde die überseeische Auswanderung bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die schlechten Verkehrsverbindungen und unsicheren Transportmöglichkeiten behindert. Dies änderte sich erst mit dem Ausbau des Verkehrsnetzes und der Einführung regelmässiger Schifffahrtslinien über den Atlantik. Vor allem ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die überseeische Auswanderung zum gezielt geförderten und durch Auswanderungsagenturen organisierten Massenphänomen.

Zweitens befanden sich weite Teile Europas im 19. Jahrhundert in jener Phase des demographi­schen Übergangs (abnehmende Sterblichkeit bei noch hohem Geburtenniveau), die zu raschem Bevölkerungswachstum führt. Dies erhöhte den Wanderungsdruck. Allerdings waren auch damals die Motive zur Auswanderung sehr unterschiedlich. Wirtschaftliche Gründe waren sicherlich von entscheidender Bedeutung, aber es wäre verfehlt, die damalige überseeische Auswanderung allein als direkte Folge von 'Armut' zu erklären. Abenteuerlust, sowie der Wunsch, den sozialen, religiösen oder politischen Einschränkungen des 'Alten Kontinents' zu entkommen, spielten ebenso eine Rolle wie die gezielte Anwerbung und Organisation der Auswanderung im Rahmen der kolonialen Expansion. Die überseeische Auswanderung ist zudem auch als Teil des Prozesses der industriellen Entwicklung und der damit verbundenen weltweiten Verflechtungen anzusehen. Deshalb lässt sich zwischen dem Beginn der industriellen Entwicklung und dem Beginn der massenhaften Überseeauswanderung für verschiedene europäische Regionen eine hohe Korrelation festhalten. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts wandelte sich die ursprünglich agrarisch orientierte Siedlungsauswanderung deshalb immer mehr zu einer industriellen Arbeitskräftemigration. Dies schloss eine kräftige Rückwanderungsbewegung mit ein, und von den in die USA eingewanderten EuropäerInnen kehrten schätzungsweise gut 16% wieder nach Europa zurück (vgl. Easterlin 1985: 25).
Zwischen 1846 und 1890 verliessen 17 Mio. Menschen Europa in Richtung Übersee, davon stammten rund 8 Mio. von den englischen Inseln. Im Jahrzehnt nach der Hungerkatastrophe von 1847 wanderten 2 Mio. Iren aus, wodurch sich die Bevölkerung Irlands (vor der Hungersnot: 8.25 Mio.) um nahezu die Hälfte reduzierte (Scally 1995). Massiv war auch die Auswanderung aus Deutschland, das bis 1870 in viele Kleinstaaten zersplittert blieb. Zwischen 1846 und 1890 wanderten rund 3.5 Mio. Deutsche nach Übersee aus (Nugent 1995: 104ff.). Von 1891 bis 1920 verliessen weitere 27 Mio. Menschen den 'alten Kontinent', diesmal primär Menschen aus Süd- und Osteuropa, wogegen sich die Überseeauswanderung aus Deutschland nach 1890 deutlich verringerte.

Der grösste Teil der auswandernden Frauen und Männer reisten in die sich rasch entwickelnde neue Industrie- und Kapitalmacht, den USA, aus. In der Periode 1846 bis 1890 gingen über 70% der europäischen Überseeauswanderer nach den USA, 1891 bis 1910 waren es immerhin noch rund 58%. Entsprechend hoch war der Anteil der Immigration am damaligen Bevölkerungswachstum. 1830 bis 1880 erfolgte über ein Viertel des Bevölkerungswachstums der USA über Immigration; eine Ziffer, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeitweise sogar auf über 40% anstieg. Andere wichtige Immigrationsländer im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert waren Kanada, Argentinien, Brasilien, Australien/Neuseeland und Südafrika.

Von den schätzungsweise 59 Mio. Menschen, die zwischen 1846 und 1939 Europa verliessen, gingen 38 Mio. in die USA, je 7 Mio. nach Kanada und Argentinien, 4.6 Mio. nach Brasilien. Je 2.5 Mio. Menschen wanderten nach Südafrika und Australien oder Neuseeland aus (Stalker 1994: 14ff.).

Die Folgen dieser europäischen Auswanderung waren weltgeschichtlich, aber auch für die Entwicklung europäischer Länder zu modernen und demokratischen Gesellschaften enorm. Nicht nur entstanden auf anderen Kontinenten europäisch geprägte Gesellschaften, sondern durch die Auswanderung wurden gesellschaftliche Individualisierung, wirtschaftlicher Liberalismus und politische Demokratie - als drei Grundelemente moderner entwickelter Gesellschaften - in ent­scheidenden Phasen der menschlichen Entwicklung vorangetrieben. Namentlich mit den USA entstand eine neue Weltmacht, die Europa im 20. Jahrhundert mehr als einmal vor diktatorischen Herrschaftsansprüchen rettete.
In den 1920er und 1930er Jahren reduzierte sich die europäische Einwanderung nach Amerika als Folge restriktiver Einwanderungspolitiken. Schon 1921 führten die USA erstmals nationale Quoten für die europäische Einwanderung ein, und in den Krisenjahren der 1930er Jahre wurde die Einwanderung weiter eingeschränkt. Erst in der Nachkriegszeit verstärkte sich die Einwanderung in die USA und anderen Ländern (Australien, Neuseeland, Kanada) erneut, allerdings verlagerte sich die Einwanderung immer mehr auf aussereuropäische Gruppen. Asien und Lateinamerika wurden zur Hauptquellen von Immigranten in die USA, womit sich der multi-ethnische Charakter weiter Teile der USA zusätzlich verstärkte.

In den Nachkriegsjahrzehnten wurde auch Europa vermehrt zum Ziel 'überseeischer Auswanderer'. Erstens kehrten im Rahmen der Ent-Kolonialisierung viele europäische Auswandererfamilien in ihr ursprüngliches Herkunftsland zurück (z.B. Rückkehr von Franzosen aus Algerien, Briten aus afrikanischen und asiatischen Kolonien, Portugiesen aus Angola und Mozambique usw.). Zweitens reisten vermehrt afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Menschen in die Länder ihrer ehemaligen Kolonialherren ein (z.B. Vietnamesen nach Frankreich; Pakistani, Inder usw. nach Grossbritannien, Molukken und Surinamer nach den Niederlanden usw.) (vgl. Cohen 1995). Die europäischen Kolonialmächte verloren zwar ihre Kolonialreiche, aber durch diese Einwanderung behielten zumindest ihre Hauptstädte einen globalen und multi-ethnischen Charakter. In den letzten Jahrzehnten erlebte vor allem auch die USA erneut eine massive Einwanderung (legal/illegal), und zwischen 1990 und 2005 wanderten 15 Mio. Menschen in die USA ein. Gegenwärtig wird die Zahl der internationalen Migranten (= Menschen, die in einem anderen Land als ihr Geburtsland leben) auf gut 191 Mio. Personen geschätzt.


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