Gesammelte Aufsдtze zur Dramaturgie



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Einen Menschen, mit dem das Schicksal ein leichtfertiges Spiel treibt, hat Edmond Rostand in seiner Komödie «Cyrano von Bergerac» dargestellt. Goethe hat von der Natur gesagt, daß sie alles auf Individualität angelegt zu haben scheine und sich nichts aus den Individuen mache. Cyrano ist ein Individuum, aus dem sich die Natur sehr wenig macht. Sie hat es nur geschaffen, um über ihre eigenen Absichten einmal gründlich zu spotten. Und es ist ihr gleichgültig, daß ein armer Mensch durch ihre Launen leidet. Sie gibt diesem Menschen eine Seele, die aus dem Reiche der Schönheit und der Größe stammt; aber sie macht ihn zugleich häßlich und unfähig, wirkliche Größe zu entfalten. Cyrano liebt Roxane. Wegen seiner Häßlichkeit kann er nicht daran denken, daß die Angebetete ihn wieder liebe. Ihre Neigung hat der schöne, aber geistlose Christian von Neuvillette. Und Cyrano muß es ertragen, daß Roxane ihn bittet, ihrem Geliebten eine Stütze im Leben zu sein. Er erfüllt diese Bitte ganz entsprechend der Rolle, die ihm die grausame Natur zugedacht hat. Nie würde Roxane einen Mann lieben, der nicht in feinen Wendungen über die Liebe sprechen und schreiben kann. Christian, diese schöne Hülle eines nichtigen Innern, kann ihre Liebe nur mit Cyranos Hilfe erringen und erhalten. Was dieser der Geliebten sagen würde, wenn er Gegenliebe finden könnte, das bringt er Christian bei. So kann dieser mit schönen Worten seine Gefühle schildern. Aber auch die Briefe, die Christian an Roxane richtet, stammen von Cyrano. Der Häßliche, der auf Liebe verzichten muß, schreibt sie für den Schönen, dem weibliche Neigung unverdient zuteil wird. So verliebt sich Roxane in Cyranos Seele, die aus Christians Körper zu ihr spricht. Die Qualen der Entbehrung und die Art, wie Cyrano sie erträgt, sind der Inhalt der Komödie. Der von der Natur schmäh-

lieh Behandelte sucht auf seine Weise mit dem Leben fertigzu-werden. Seine Kraft und Tüchtigkeit verschaffen ihm Gewalt über die Mitmenschen, obgleich er durch das Nasenungetüm, das sein Gesicht entstellt, den Spöttern reichlichen Stoff zum Lachen gibt. Und er nützt diese Gewalt aus. Es ist ihm eine Lust, diejenigen en canaille zu behandeln, die es verdienen. Er spielt mit den Menschen gerne, weil die Natur ja auch mit ihm spielt. Eine Fülle von Duellen hat er zu bestehen. Denn er ist ein guter Fechter; und als Sieger mit der Waffe kann er immer wieder von neuem vergessen, daß das Schicksal ihn ein für allemal zu einem Besiegten geschaffen hat.

Einen solchen Charakter mit Humor zu schildern, ist Rostand gelungen. Man möchte wütend werden über das frivole Spiel, das die Natur mit Cyrano treibt; aber man begräbt die Wut in einem herzlichen Lachen. Denn der leidende Held läßt die Gegensätze, die in seinem Wesen vorhanden sind, sich gegeneinander austoben; und dadurch geht das Tragische seines Lebens immer wieder in ein Komisches über. Allerdings liegt in den Tiefen dieses Dramas der Ernst des Lebens. An ihn müssen wir trotz des Schabernacks, den Cyrano treibt, immer denken. Rostand hat alle Mittel des Theatralischen verwendet; aber er hat diese Mittel in den Dienst einer großen Lebensfrage gestellt. Das Ernste tritt in gefälliger Gestalt vor uns hin. Es gibt nichts von seinem wahren Charakter auf; es bringt aber diesen Charakter in leichtem Spiel zur äußeren Erscheinung. Es ist Rostand hoch anzurechnen, daß er sich von der Schwere seiner Aufgabe nicht hat erdrücken lassen. Daß er den Menschen nicht gesagt hat: seht, wie ihr leidet, wie euch die Natur quält, sondern ihnen gezeigt hat, wie sie dem Ernsten trotzig gegenüberstehen können, ohne die Duldermiene anzunehmen. Rostand ist einer von den Dichtern, welche die Aufgabe der Kunst darin sehen, den Menschen über die Miseren der Alltäglichkeit hinwegzuhelfen. Pathetischer könnte man das so nennen: er will über die Wirklichkeit hinausführen. Sein freier Stil ist ein Beweis für diese seine künstlerische Grundüberzeugung. Ludwig Fulda hat in seiner deutschen Übersetzung der Komödie diesen freien Stil in trefflicher Weise wiedergegeben.

«NAPOLEON ODER DIE HUNDERT TAGE»

Schauspiel in fünf Aufzügen von Chr. D. Grabbe. Für die Bühne bearbeitet von O. G. Flüggen



Aufführung im Belle-Alliance-Theater, Berlin

Napoleon hat trotz seiner Größe nur die Hälfte eines dramatischen Charakters. Seine Größe stellt sich uns in einer zu einfachen Vorstellung dar. Der einzige Gedanke der Kraft steigt in unserem Kopfe auf, wenn wir uns diesen Mann vergegenwärtigen. Und neben dieser Kraft erscheint alles mehr oder weniger gleichgültig, was durch sie vollbracht worden ist. Es läßt sich keine dramatische Handlung mit Napoleon in der Mitte ersinnen, die im Fortgange eine Kette von Begebenheiten aufwiese, wie sie die dramatische Kunst braucht. Wir sind immer wieder versucht, bei allem, was Napoleon tut, die Stärke seines Willens zu bewundern und uns um den Inhalt seiner Handlungen nicht zu kümmern. So gewiß Grabbe die Größe Napoleons gefühlt hat: seine Phantasie konnte dieser Größe keine dramatische Form geben. Ja, es scheint, als wenn auf Grabbes Schaffen bei diesem Drama die Kraft in einseitiger Weise gewirkt und alle andern Fähigkeiten des Dramatikers zurückgedrängt hätte. Ohne Rücksicht darauf, was dramatisch und theatralisch möglich ist, hat Grabbe gedichtet. Statt mit einer dramatischen Entwickelung haben wir es mit einer Reihe von Szenen zu tun, welche fast nur durch die Zeitfolge und die Person des Helden zusammengehalten werden. Und die wir durchaus nicht um ihrer selbst willen auf uns wirken lassen, sondern denen wir ein Interesse abgewinnen, weil wir glauben, durch sie von einer starken Persönlichkeit etwas zu erfahren. O.G.Flüggen hat das Drama für die Bühne bearbeitet. Er hat einen zu engen Begriff von dem Bühnenmöglichen und Bühnenwirksamen. Von Grabbes Werk hat er viel zu wenig herübergerettet in das Theaterstück, das er daraus gemacht hat. Dennoch habe ich gefunden, daß das Drama selbst noch in dieser Verwässerung einen hohen Genuß bietet. Es ist entschieden ein Verdienst, daß es Georg Droescher auf die Bühne gebracht hat, so gut er es mit den ihm zur Verfügung stehenden künstlerischen Mitteln gekonnt hat.

«EIFERSUCHT» (JALOUSE)

Lustspiel in drei Akten von Alexandre Bisson und Adolphe Leclerq



Aufführung im Residenz-Theater, Berlin

Das Lustspiel «Eifersucht» von A. Bisson und Leclerq könnte uns vielleicht zwei Stunden anhaltend in herzlichem Lachen erhalten, wenn nicht die Mittel, durch welche die an Wahnsinn streifende Eifersucht einer jungen Frau geheilt werden soll, zu ärgerlich wären. Die Frau Moreuil hält alle Männer für Ehebrecher. Den ihren natürlich auch. Sie hat nie etwas gesehen, was den leisesten Verdacht begründete. Aber gerade weil sie gar nichts sieht und hört, was ihr Grund gibt, den Mann zu beschuldigen, deshalb hält sie ihn für einen heimlichen Verbrecher. Ein Freund des Hauses will sie heilen. Die alten Eltern müssen zu diesem Zwecke Komödianten werden. Sie müssen der eifersüchtigen Tochter in sich selbst ein Ehepaar vorführen, das sich das Dasein durch Eifersucht vergiftet. Dieses Theater auf dem Theater verringert den Wert des harmlosen Schwanks. Ein solches Heilmittel ist nicht nur eine Sünde gegen allen Wirklichkeitssinn, sondern eine ziemlich arge Geschmacklosigkeit. Auch wird die Aufführung des Stückes dadurch fast zur Unmöglichkeit. Denn Schauspieler, die imstande sind, Nicht-Schauspieler darzustellen, die eine Komödie vollführen, wird es nur wenige geben.

«HOFGUNST»

Lustspiel in vier Akten von Thilo von Trotha



Aufführung im Neuen Theater, Berlin

In «Hofgunst» von Trotha handelt es sich um einen kleinen Fürstenhof. Die Fürsten selbst sind brave und edle Menschen. Nur die Schranzen verderben alles durch ihre Albernheiten und Intrigen. Bloß der Finanzminister ist auch einer von den «Edlen».

Er muß natürlich da sein, damit sich der niedrige Sinn der Höflinge entsprechend abhebt. Die Tochter eines fern vom Hofe wohnenden Barons, eine Art höherer «Unschuld vom Lande», ist der Inbegriff aller Gescheitheit, Geradheit und anderer schöner Tugenden. Sie läßt sich überreden, an den ihrem Vater und ihr verhaßten Hof zu gehen, und wird dort sogleich Hofdame. Die Kluge stiftet in wenigen Stunden mehr Gutes an dem Hofe als eine Höflingsschar in Jahrhunderten. Sie ist die richtige Person, die zum versöhnlichen Ausgang notwendige Heirat des jungen Fürsten mit seiner Cousine herbeizuführen, während vor ihrem Wirken die irregeführten Verwandten die beiden wie füreinander geschaffenen Menschen, um allerlei Rücksichten zu beobachten, an andere, nicht für sie passende verschachern wollen. Die alten Theater-figureh der Generation Moser-SchÖnthan mit neuen Namen und etwas anderem Aufputz.

«DAS VERMÄCHTNIS» Schauspiel in drei Akten von Arthur Schnitzler



Aufführung im Deutschen Theater, Berlin

Schnitzlers dramatische Leistungen mußte ich bisher immer mit Frauen vergleichen, welche wegen der Anmut ihres äußeren Wesens und des Geschmackvollen ihrer Toilette uns gar nicht zu der Frage kommen lassen, ob ihre Seele auch bedeutend ist oder nicht. «Das Vermächtnis» fordert aber diese Frage allerdings heraus. Schnitzlers Begabung und auch sein Stil scheinen im ein so bedeutendes Problem, wie das hier behandelte es ist, nicht auszureichen. Seine flotte dramatische Darstellungskraft ist offenbar nur dann in ihrem Elemente, wenn es sich um die kleinen Kreise handelt, die von dem Leben gezogen werden. «Das Vermächtnis», das Hugo Losatti seiner Familie hinterläßt, nachdem er durch einen Sturz vom Pferde tödlich verwundet worden ist, revolutio-

niert die Seelen einer Reihe von Menschen. Schnitzler ist nicht Psychologe genug, um diese Seelenrevolution überzeugend und tiefgründig darzustellen. Wir sehen den Personen nicht ins Innere, deshalb will uns nicht recht in den Sinn gehen, was sie reden und tun. Das Vermächtnis ist Hugo Losattis Geliebte und sein Kind. Er spricht als seinen letzten Wunsch aus, daß die Seinen die beiden Wesen, die er mehr als alles andere geliebt hat, in ihr Haus aufnehmen. Der Vater, ein halb vertrottelter Professor der Nationalökonomie, weiß mit einem solchen Wunsche nichts anzufangen. Da er aber ein guter Kerl und ein unglaublicher Schwächling ist, wird es ihm nicht schwer, das «Vermächtnis» doch zu übernehmen. Die Mutter ist sofort geneigt, dies zu tun, als der Sohn ihr sein Geheimnis mitteilt. Von ihren Charaktereigenschaften erlangen wir aber keine Vorstellung. Deshalb ist es uns gleichgültig, wie sie sich verhält. Die Schwester Franziska lernen wir wohl genauer kennen, und es macht deshalb einigen Eindruck, daß sie von ganzem Herzen «ja» sagt zu dem Wunsche des Bruders und daß sie die Geliebte sogar innig liebt. Allein mir scheint doch, daß wir hier einen Charakter der biederen Birch-Pfeiffer in einem modernen Kleide vor uns haben. Auch im Reiche der «Gartenlaube» sind solche Charaktere zu finden. - Der theatralische Gegenpol dieses Mädchens darf natürlich nicht fehlen. Er heißt Dr. Ferdinand Schmidt, ist aus dürftigen Verhältnissen hervorgegangen, war Hauslehrer Hugos und verkehrt, nachdem er Arzt geworden ist, freundschaftlich bei Losattis. Der Gegensatz käme nicht stark genug zum Ausdrucke, wenn die vorurteilslose, zartfühlende Franziska und der vorurteilsvolle, gemütsrohe Schmidt sich nicht ineinander verliebten. Daher tun sie es. Schmidt ist es von vorneherein unsympathisch, zu sehen, wie die Losattis ihr Ansehen damit «besudeln», daß sie die «Maitresse» und den Sprößling des Sohnes ins Haus nehmen.

Die Handlung ist bald klar, nachdem der Vorhang aufgegangen ist. Leute wie die Losattis haben Gewissen, also erfüllen sie den Wunsch eines Kindes. Der unehelich gezeugte Knabe wird uns sogleich als krankes Kind vorgestellt. Also wird er bald sterben. Also wird auch bald Gelegenheit sein, die unwillkommene

Mutter aus dem Hause zu jagen. Also wird das Stück damit schließen, daß diese einen Selbstmord begeht. Die Losattis sind schwachmütige Leute, also brauchen sie jemand, der ihnen zuredet, das «Vermächtnis» nicht zu halten. Dazu ist Dr. Schmidt da. Dieses sein Verhalten öffnet Franziska die Augen, und sie weist den rohen Menschen von sich. Während sich das alles programmmäßig abspielt, läuft alle Augenblicke Emma Winter, die Witwe von Frau Losattis Bruder, zur Tür herein und redet «jenseits von Gut und Böse», echt wie ein weiblicher Trast. Sie will die unglückliche Geliebte des Verstorbenen sogar ins Haus nehmen, wird aber — damit der Selbstmord möglich ist - doch zuletzt von ihrer Tochter davon abgebracht.

Es sind gewichtige Konzessionen, die heute Schnitzler der äußerlichen Kulissenkunst macht Derselbe Schnitzler, an dem wir den Mangel an Tiefe niemals bemerkt haben, solange er sich nur seiner liebenswürdigen Natur überließ.

Das Deutsche Thater hat diesmal gezeigt, was es kann, nachdem es bei «Cyrano» uns klargelegt hat, was es nicht kann. Mit Ausnahme von Louise Dumont, welche der allerdings undankbaren weiblichen Trastrolle wenig gewachsen war, boten die Mitspieler vollendete Leistungen. Reicher, Rittner, Sauer und Winterstein verdienen aber noch besonders genannt zu werden.

«DER HERR SEKRETÄR» Schwank von Maurice Hennequin



Aufführung im Residenz-Theater, Berlin

Aus dem Schwank «Der Herr Sekretär» (Inviolable) von Maurice Hennequin, der jetzt im Residenz-Theater aufgeführt wird, hätte etwas werden können, wenn der Verfasser seine paar Dutzend Einfälle dazu benutzt hätte, eine Satire auf die Theatermacherei zu schreiben, die einzig und allein von unwahrscheinlichsten Verwechslungen lebt. Denn er hat den Verwechslungsunsinn bis zur

tollsten Methode ausgebildet. Es gibt in diesem Stücke kaum eine Person, die nicht für eine andere gehalten wird. Und es gibt nichts, was nicht diese Tollheit zur Ursache hätte. Aber der Autor hat keine Satire, sondern nur einen von den genannten Schwanken geschrieben. Die Vorgänge nehmen sich wie ein Spott auf alle Vernunft aus; der Verfasser aber spottet nicht, sondern meint die Dummheit ernst. Die Hauptrolle, den Sekretär, hat Richard Alexander inne. Ich kann an diesem Schauspieler, der in Berlin eine Zugkraft ersten Ranges ist, nichts finden. Jedes Wort, jede Bewegung, alles ist kokette Kulissenkunst bei ihm. Und da er diese Kunst mit einer grotesken Vollkommenheit übt, treten ihre Fehler in geradezu widerwärtiger Gestalt zutage. Da wird nirgends mehr danach gefragt, was sich aus der Handlung oder Situation auf natürliche Weise ergibt, sondern nur, wie etwas gesagt oder gemacht werden muß, damit die Zuhörer aus dem Lachen nicht herauskommen. Da gefällt mir schon Eugen Pansa, der einen bornierten und eitlen Abgeordneten spielt, besser. Er bringt etwas Ähnliches zustande wie Alexander, aber mit Mäßigung und so, wie es das Stück verlangt.

«DER EROBERER» Tragödie in fünf Aufzügen von Max Halbe



Aufführung im Lessing-Theater, Berlin

Über Max Halbe habe ich immer anders gedacht als viele andere. Was man fast allgemein an seiner «Jugend» und an seiner «Mutter Erde» bewundert hat, halte ich für eine - allerdings höchst wertvolle - Beigabe seiner großen dichterischen Begabung. Aber Halbe ist, meiner Ansicht nach, nicht bloß der Dramatiker der Stimmung, die uns in der «Jugend», des aus der heimatlichen Erde sprießenden Gefühles, das uns in «Mutter Erde» entgegenströmt; Halbe ist der Dichter, dem die tiefsten Gründe der Menschenseele zugänglich sind, die in jeder Zeit und an jedem Orte

zu Hause ist. Vor einem Jahre, nach der Aufführung von «Mutter Erde» schrieb ich: «Ich glaube an den Tiefblick Halbes. Ich meine, wenn er ihn entfaltete, diesen Tiefblick: er müßte auf die entlegensten Gründe der menschlichen Seele kommen.» Ich glaubte damals zu ahnen, wie Halbes Künstlerindividualität geartet ist. Meiner Ansicht nach gehört er zu dem Geschlechte der großen Dichter, die individuelle Gestalten schaffen, aber so, daß diese uns in jedem Augenblicke hinweisen auf das, was in der Menschennatur ewig ist, was unwandelbar durch alle Zeiten und Räume lebt und was nur innerhalb gewisser Verhältnisse einen stärkeren Ausdruck findet als in andern. Ein großer menschlicher Konflikt ergreift den Dichter. Von dem innersten Erlebnisse der Seele geht er aus. Dann findet sich dazu Ort und Zeit, in denen dieses innere Erlebnis die beste äußere Gestalt annehmen kann. Dieser Weg des wahren Dichters muß auch der Halbes sein. Bisher war er nur diesen seinen ureigensten Weg noch niemals rücksichtslos gegangen. In seinem «Eroberer» ist er ihn gegangen. Max Halbe hat damit sich selbst erst gefunden. Als ich das Drama kennenlernte, stand ein großes Seelenproblem vor meinen Augen. Das Liebesproblem des Weibes. Man mag sagen, was man will: Das Weib hat in sich den Drang nach dem Manne mit Größe, den es lieben kann wegen seiner Größe. Und glaubt es, diesen Mann gefunden zu haben, dann ist es grenzenlos egoistisch und möchte am liebsten diese Größe mit den Armen an den brünstigen Busen drücken und immer wieder drücken und nicht mehr loslassen und in wollüstigen Küssen die Größe ersticken. Und des Weibes rechte Tragödie muß es sein, daß bei wirklicher Größe die weiblichen Arme zu schwach sind, um das Große zu halten. Der Mann entwindet sich dem Weibe um derselben Eigenschaft willen, um derentwillen es ihn so heiß begehrt. Es möchte die große, weite Seele für sich haben, weil sie groß und weit ist. Aber weil sie groß und weit ist, diese Seele, ist in ihr noch Raum für... anderes. Die Philister mögen mir schon verzeihen, daß ich das so hinschreibe. Die Philister schließen ja so gerne die Augen vor dieser ewigen Tragödie, die sich hineinschiebt zwischen den großen Mann und das große Weib.

Max Halbe hat diese Tragödie geschrieben. Agnes, die Gattin Lorenzos, ist das große Weib, das den großen Mann sucht, weil es nur ihn lieben kann. Und Lorenzo ist der große Mann, den Agnes anbetet, aber in dessen Seele noch der Keim ist für die kleine Ninon, die auch den großen Mann sucht. Und die große Agnes tötet die kleine Ninon, weil der Frau des Mannes Größe verhängnisvoll wird, um derentwillen sie ihn liebt.

Das ist Halbes Problem. Um Menschen, die solche Konflikte durchleben, darzustellen, brauchte er den Hintergrund einer Zeit, von der wir die Vorstellung haben, daß die Menschen in ihr den Mut hatten, sich ihrem natürlichen Egoismus zu überlassen. Die Renaissance ist eine solche Zeit. Deshalb hat Halbe ein Renaissancedrama geschrieben. Hätte er seine Tragödie in der Gegenwart spielen lassen, so hätten wir das Gefühl: heute fänden die Menschen die notwendigen Lügen, um die wahren Empfindungen, die im Hintergrunde schlummern, nicht an die Oberfläche treten zu lassen.

Und es ist Halbe gelungen, den Gestalten seines Dramas die Seelen von Renaissancemenschen einzuhauchen. Sie brauchen nur vor uns hinzutreten und ein paar Worte zu sprechen, so wissen wir, daß wir es mit Menschen des rückhaltlosen Egoismus zu tun haben und mit solchen, die den Mut besitzen, diesen Egoismus zur Schau zu tragen, ohne ihm ein idealistisches Mäntelchen umzuhängen.

In einfachen, kunstvoll stilisierten Linien hat Halbe eine Handlung gezeichnet, innerhalb der uns die auftretenden Personen ewige Erlebnisse der Menschenseele vor Augen treten lassen. Er hat damit den Weg gefunden zu den Urquellen der dramatischen Dichtung.

Halbes Publikum vom 29. Oktober konnte den Weg nicht mitmachen, den der Dichter gegangen ist. Dieses Publikum hätte am liebsten wieder ein Stimmungsidyll von der Art der «Jugend» von ihm gesehen. Es versteht den Dichter nicht mehr, der sich selbst gefunden hat. Und weil das Berliner Theaterpublikum kaum die schlechtesten Manieren hat, die ein Publikum überhaupt haben kann, hat es den «Eroberer» ausgelacht, verhöhnt und verspottet.

Am 29. Oktober gab es im Lessing-Theater einen Durchfall. Aber nicht Max Halbes Stück ist durchgefallen. Nein, das Publikum ist durchgefallen. Sein Verständnis reicht nicht heran an die Größe der Halbeschen Ideen. Der Dichter mag sich trösten. Da er noch unentwickelt war und den Leuten die «Jugend» hinwarf, da verstanden sie ihn. Jetzt, wo er ihnen etwas mehr zu sagen hat, verhöhnen sie ihn. Wie hat doch Goethe gesagt, als er auf der Höhe seiner Kunst stand?

«Da loben sie meinen Faust, Und was noch sunsten In meinen Schriften braust, Zu ihren Gunsten;

Das alte Mick und Mack, Das freut sie sehr; Es meint das Lumpenpack, Man wär's nicht mehr!»

Noch schlimmer als das Publikum am Sonnabend waren die Kritiken am Sonntagmorgen. In der Stadt der Intelligenz fand sich auch nicht ein Kritiker, der eine Ahnung gehabt hätte von dem, was Max Halbe gewollt hat. Von dem impotenten Faseler der «Tante Voß» durch das lauwarme Bad des Berliner Tageblattes hindurch bis zu den rohen Schimpfereien des Lokalanzeigers und des Kleinen Journals konnte man alle Nuancen der kritischen Unfähigkeit studieren. Am 30. Oktober mußte man die Erfahrung machen, daß es in Berlin nicht einen einzigen Tageskritiker gibt, der einer bedeutenden Dichtung gewachsen ist.

Halbes Dichtung konnte in den Augen derjenigen, die sie verstehen, keinen Mißerfolg haben; Publikum und Kritik haben sich blamiert. Am Sonnabend hat sich der Unverstand und Un-geschrnack einer Menge in den schlechtesten Manieren kundgegeben, und am folgenden Sonntag hat eine lächerliche Kritik sich an den Pranger gestellt.

«DAS ERBE»

Schauspiel in vier Aufzügen von Felix Philippi Aufführung im Berliner Theater, Berlin

Das Haus Larun besitzt eine große Gewehrfabrik. Als dieses «Werk» gegründet wurde, stand dem alten Larun als geistiger Handlanger Heinrich Sartorius zur Seite. In dem Augenblicke, da der Vorhang aufgeht, sind 35 Jahre seit der Gründung der Fabrik verflossen. Eine Jubiläumsfeier wird abgehalten. Der alte Larun ist tot. Der Sohn, Baron Karl von Larun, hat das «Erbe» angetreten. Der geistige Schöpfer, Geheimer Kommerzienrat Sartorius, leitet mit Energie und Hingebung die Fabrik. Er ist ganz verwachsen mit «seinem Werke». Eine aufrührerische Broschüre ist erschienen, in welcher der junge Larun Wachs in den Händen des Alten genannt wird. Sie ist der erste Wink mit dem Zaunpfahl, der anzeigt, daß der Alte, der sich den Dank des Hauses Larun verdient hat und den das ganze Fabrikpersonal vergöttert, aus dem Sattel gehoben werden soll. Ein zweiter Wink mit einem noch dickeren Pfahl ist der schablonenhafte Theaterintrigant, der in der Person des Abteilungschefs van der Matthiesen erscheint. Dieser hat eine Tochter, die das Intrigieren im Dienste ihres Vaters und das Kokettieren auf eigene Rechnung besorgt. Der Staat hat einen großen Auftrag, den er dem Larunschen Werke gegeben hat, zurückgenommen, weil er von einer englischen Firma dieselbe Ware billiger und ebenso gut erhalten kann. Das Fabrikgeheimnis ist verraten worden. Nachdem er das gehört hat, ist dem Zuschauer alles klar, und wenn die Personen des Stückes nicht jenen Grad von Blödigkeit haben müßten, die schlechte Theaterschriftsteller zur Fortführung ihrer Handlung brauchen, so würde der alte Sartorius zu dem jungen Herrn Baron sagen: lieber Freund, schmeißen Sie doch diesen Burschen, den van der Matthiesen, schleunigst hinaus. Der hat selbstverständlich den Verrat begangen. Aber so kann es nicht gemacht werden. Da müßte Herr Felix Philippi sein Publikum schon nach einer halben Stunde entlassen. Und er muß doch einen Theaterabend füllen. Daß der alte Sartorius erst noch

einen Helfershelfer braucht, um hinter den Sachverhalt zu kommen, den Schuft Lorinser, der erst dem Matthiesen geholfen, das Fabrikgeheimnis zu verraten, und der jetzt für 20 000 Mark dem geistigen Leiter den Verrat wieder verrät, ist für den Zuschauer langweilig und ärgerlich. Daß der junge Larun die Wahrheit lange nicht durchschaut, ist wenigstens vom Standpunkte der Kulissenkunst motiviert. Er verliebt sich in Matthiesens kokette Tochter. Und Liebe macht ja natürlich blind. Der junge Erbe vergißt, was er dem erprobten Ratgeber seines Vaters schuldet. Da der Alte seinen Feldzug gegen den Schädiger des Werkes beginnt, findet eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem treuen Diener und dem neuen Herrn statt. Dem erprobten Leiter des Werkes wird der Abschied gegeben. Um die völlig uninteressante Handlung fortzuschleppen, wird alles versucht, was dem Stückefabrikanten zu Gebote steht. Von den aufgewandten Mitteln ist das freche Attentat auf die Tränendrüsen das Widerlichste. Daß in der Presse der Versuch gemacht worden ist, in der Handlung eine Anspielung auf einen der bedeutendsten politischen Vorgänge des Deutschen Reiches zu sehen, will ich nur als ein Symptom für die Geschmacklosigkeit eines Teiles unserer Zeitungskritisiererei registrieren.


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