Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge Stadt und Hof Jahrgang 1 (2012)



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4. Historische Voraussetzungen

Mainz befand sich im späten 18. Jahrhunderts am Ende eines lang andauernden städtischen Transformationsprozesses, der nach dem Verlust der Stadtfreiheit 1462 durch die Eroberung von Fürstbischof Adolf II. von Nassau und der parallel verlaufenden Vertreibung und Flucht der städtischen Eliten einsetzte. Auch wenn sich die Stadt erst im 17. Jahrhundert endgültig als Hauptresidenz der Kurfürsten durchsetzen konnte, wurde unmittelbar nach ihrer Eroberung der Herrschaftsanspruch der Kurfürsten gegenüber dem städtischen Rat durch den Bau der Martinsburg zum Ausdruck gebracht. Als Kernanlage des späteren kurfürstlichen Schlosses blieb sie bis 1809 erhalten. Mit der Etablierung des Hofes in Mainz war die Stadt mit ihrer Kathedralkirche nunmehr nicht nur geistliches Zentrum der größten Erzdiözese des Alten Reiches, sondern auch weltliches Zentrum des Erzstiftes, das ein weit verstreut liegendes Territorium vom Untermain über den Rheingau und Taunus bis nach Erfurt und das Eichsfeld umfasste.

Der Ansiedlung des Hofes folgte eine weitreichende gesellschaftliche Umwälzung, bei der die Bürgerschaft jegliche Partizipation an der politischen Macht in der Stadt verlor. Die Machtkonzentration lag fortan bei dem Kurfürsten und bei dem Domkapitel als zweitwichtigste politische Instanz. Da sich der Kurfürst aus dem Domkapitel rekrutierte und das Domkapitel von Mitgliedern des Adels besetzt wurde, stellte der Adel die Basis für das neue Machtgefüge. Dies wird insbesondere in der Verteilung des Stadtraumes augenfällig. Mitte des 17. Jahrhunderts besaßen nach Rödel der Klerus 42,9% der bebauten Flächen innerhalb der Stadt, der Adel und der Kurfürst zusammen 14,7% und die Bürger 42,4%. Allerdings machten die Bürger 95% der Stadtbevölkerung aus, auf deren Grundstücke sich 80% aller vorhandenen Häuser befanden. Die Häuserkonzentration auf den Bürgergrundstücken war somit wesentlich höher als bei den Grundstücken des Kurfürsten, Adels und Klerus’. Im Stadtbild waren damit zugleich der Kurfürst, der Adel und der Klerus überproportional präsent33. Diese Tendenz verstärkte sich bis zum Ende der Residenzstadtzeit noch und wurde vor allem an den drei zentralen Orten in der Stadt deutlich, die die Untersuchungsgrundlage der Dissertation darstellen: dem Regierungsviertel mit dem kurfürstlichen Schloss, dem Schillerplatz und der Anlage des Bleichenviertels.

Durch den Bau der Martinsburg ab 1477 als Kernbau des späteren frühbarocken Schlosses mitsamt den nachfolgend errichteten Bauten wie der Regierungskanzlei, der Hofkirche und dem Alten Zeughaus verlagerte sich das politische Zentrum der ehemals freien spätmittelalterlichen Stadt vom Brand nördlich des Domes an den äußersten Rand der Stadt. Im 18. Jahrhundert erfuhr das Gebiet mit dem Bau des Deutschordenshauses und dem Neuen Zeughaus eine weitere Verdichtung als politisches Zentrum. Die damit eingeleitete Nutzungstradition des Gebietes als Regierungsviertel wird bis heute mit dem Sitz des Landtages im Deutschordenshaus aufrechterhalten.

Auch der Schillerplatz am westlichen Rand der Stadt erfuhr insbesondere ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Umwertung. Bürgerliche Häuser wurden nach und nach durch Adelspalais verdrängt. Stadttopographisch zählte die Platzanlage, die vor der Errichtung des Schillerdenkmals 1862 Dietmarkt oder Tietmarkt genannt worden war, zu den größten umbauten Stadtflächen. Der Platz erstreckt sich trichterförmig nach Süden und ist in seiner Grundausrichtung heute noch so erfahrbar. Die Präsenz des Adels um den Platz wurde ab 1668 durch den Bau des Schönborner Hofes eingeleitet. Weitere Adelspalais folgten und setzten damit die Reihe der Palaisbauten entlang der Emmeranstraße nach Westen fort.

In dem dritten städtischen Raumgefüge, dem Bleichenviertel, ist der bewusst gestalterische Eingriff in die Stadtstruktur durch den Landesfürsten offensichtlich. Unter Kurfürst Johann Philipp von Schönborn wurde ab 1663 mit der Stadterweiterung im Norden der Stadt begonnen. Durch drei vom kurfürstlichen Schloss aus parallel verlaufende Straßenzüge, die durch Seitenstraßen verbunden waren, erhielt das Gebiet eine geometrische Gliederung, die heute noch als Hintere, Mittlere und Große Bleiche das nördliche Altstadtgebiet bestimmt. Die Straßenzüge waren großzügig und regelmäßig angelegt und standen damit im starken Gegensatz zu den engen und krummen Altstadtgassen. Das Bleichenviertel wurde anfangs nur sehr schleppend besiedelt und war vornehmlich durch Bürgerbauten geprägt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erfuhr es aber durch die Ansiedlung von Adelspalais, dem Bau einer repräsentativen Brunnenanlage auf dem Neubrunnenplatz sowie dem Neubau des kurfürstlichen Marstalls an der Großen Bleiche eine repräsentative Aufwertung.

Anhand einer historisch-stadttopographischen Längsschnittanalyse dieser drei Orte sollen die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der aktiven Stadtgestaltung durch den Kurfürsten und den Adel herausgestellt werden. Die Möglichkeiten waren denkbar groß, da mit dem Regierungsviertel, der Errichtung prächtiger Palaisbauten am Schillerplatz und der Anlage des Bleichenviertels umfangreiche stadtplanerische Vorhaben umgesetzt wurden. Die Grenzen der aktiven Stadtgestaltung lassen sich allerdings ebenso aufzeigen, da – zumindest beim Schlossviertel und den Bleichen – große Bauvorhaben auf zuvor weitgehend unbewohntem Gebiet ausgeführt wurden und nicht im dicht besiedelten Altstadtbereich.


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