Inhaltsverzeichnis Einleitung


Freiheit in der Evolution



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16.1 Freiheit in der Evolution

Der Begriff „Freiheit“ ist schillernd. Er soll im Folgenden auch in unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden. In der Evolution bedeutet Freiheit trotz rigoroser Determination aller Ereignisse das Faktum, dass der Verlauf der Evolution nicht vorhersagbar ist, er bleibt unbestimmt. Wie wir bereits festgestellt haben: Wenn sich die Evolution an einem bestimmten Zeitpunkt wiederholen ließe und alle klimatischen und sonstigen Umweltbedingungen so blieben wie damals, würde die Entwicklung zu einem anderen Ergebnis führen und uns Menschen gäbe es höchstwahrscheinlich nicht. Die eine Seite von Freiheit ist also die Unvorhersagbarkeit der Entwicklung des Lebens.



Zufall und Determination

Zufall wird oft als Ereignis verstanden, dem keine Ursache zugrunde liegt. Dieses Verständnis führt nicht weiter, da jedes Ereignis auf Ursachen zurückgeführt werden kann. Dies gilt auch für den Münzwurf, das Würfeln und das Roulette, also den Prototypen für zufällige Ereignisse. Das Ergebnis des Wurfes eines sechsseitigen Würfels ist zufällig, aber es ist auf den Akt des Würfelns zurückzuführen. Die Wahrscheinlichkeit für ein beliebiges Ergebnis beim Wurf ist ein Sechstel. Auf welcher Seite eine Kugel eine konisch hochgewölbte Erhebung hinunterrollt, ist Zufall. Aber das Ergebnis hat eine Ursache. Letztlich lässt sich das Ergebnis beim Würfeln und Hinabrollen der Kugel sogar minutiös in eine Kausalkette von Ereignissen rekonstruieren, wenn wir alle Bedingungen kennen, die zum jeweiligen Ergebnis geführt haben, wie der Drall beim Würfeln, die momentane Schwerkraftwirkung bei Aufschlagen des Würfels etc. Zufällige Ereignisse haben also Ursachen, aber sie lassen sich nicht genau vorhersagen. Die Vorhersage eines Zufallsereignisses gelingt nur mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wenn wir eine Münze werfen, so ist die Wahrscheinlichkeit für jede Seite 0,5 oder 50%. Bei wenigen Würfen kommt diese Trefferwahrscheinlichkeit noch wenig zum Ausdruck, aber bei tausend Würfen erreicht man schon relativ genau die Wahrscheinlichkeit von 50%.

Auch die Zufälle in der Evolution sind determiniert in dem Sinne, dass ihr Resultat auf Ursachen zurückgeführt werden kann. Bevor wir auf das Phänomen des Zufalls in der Evolution zu sprechen kommen, soll noch auf einen Bereich eingegangen werden,

16.1 Freiheit in der Evolution

in dem der Zufall keine Ursache zu haben scheint, nämlich die Quantenmechanik. Hier entstehen Teilchen aus dem Nichts und verschwinden wieder. Position und Impuls eines Elektrons können nicht zugleich erfasst werden, und welche Wege die Photonen am Doppelspalt nehmen werden, ist nicht vorhersagbar. Teilchen scheinen zugleich verschiedene Wege zu nehmen und legen sich erst durch die Messung fest. Potenziell unendlich viele Möglichkeiten werden durch den Messvorgang auf ein einziges Ergebnis reduziert. Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass hinter den scheinbar akausalen Ereignissen in der Quantenmechanik Gesetzmäßigkeiten stecken, die wir noch nicht kennen. Sollten wir jedoch an akausalen Ereignissen festhalten müssen, dann geht eine zentrale Gewissheit unseres Denkens verloren, das kausale Schlussfolgern. Es wäre dann nur eine Erklärungsform, die uns die Evolution beschert hat, weil wir mit kausalen Erklärungen gut fahren. Es ist offenkundig vorteilhaft, Erscheinungen und Ereignisse auf Ursachen zurückzuführen. Ein Knacken im Gehölz kann von einem gefährlichen Tier herrühren, eine Bewegung in der Savanne kann auf ein Tier zurückgehen, das eine willkommene Beute sein könnte. Schließlich finden wir kausales Denken in Ansätzen auch schon bei Tieren, was auf die tiefe Verwurzelung kausaler Verständnisses hinweist. Wir könnten also einem Denkfehler unterliegen, der sich nur wegen seiner Brauchbarkeit fürs Überleben durchgesetzt hat. Im Folgenden wollen wir diese entsetzliche Möglichkeit jedoch nicht weiter in Betracht ziehen, sondern daran festhalten, dass auch sogenannte Zufallsereignisse ihre Ursachen haben.

Berauer (2012) nimmt allerdings an, dass sich die gesamte kosmische Entwicklung auf den zwei ontologischen Prinzipien des Zufalls (Spontaneität) und der Ordnung (Gesetzmäßigkeit) zurückführen lässt. Zufall wäre dann eine nicht hinterfragbare und nicht weiter reduzierbare Grundgröße. Der Kosmos, das Leben, das Bewusstsein, alles wäre ein Produkt des Zusammenspiels von Zufall und Ordnung. Da Zufall in der Quantenwelt der dominierende Faktor zu sein scheint, ist dieser Ansatz gewiss eine interessante Idee. Manfred Eigen und seiner Mitarbeiterin Ruthild Winkler haben, wie bereits in Kap. 10 erwähnt, ebenfalls die Entwicklung des Universums als Spiel aus Strategie und Zufall definiert Diese Idee kann man im Hinterkopf behalten, da sie aber empirisch nicht prüfbar ist, wird sie in dieser Form sonst nicht vertreten.

Zufallsereignisse in der Evolution haben, auch wenn sie „spontan“ wären, eine kausale Wirkung. Wir wollen an drei Beispielen die Wirkung des Zufalls näher erläutern: an der Gendrift, an der Variation und Mutation sowie an dem zufälligen Zusammentreffen von Bedingungen.

Die Gendrift wurde bereits in Kap. 4 bei der Ermittlung der mitochondrialen Eva beschrieben. Zwei Gruppen einer Art haben zwei Formen eines Allels, sagen wir A und B. Vermehrt sich die Gruppe mit Allel B etwas stärker als diejenige mit Allel A, setzt sich nach vielen Generationen B durch und A verschwindet. Ein zufälliges Ereignis zu Beginn einer Kausalkette führt zu einem bestimmten vorhersagbaren Ergebnis.



Variation und Mutation als Ursache für die Veränderung einer Spezies sind wichtige Motoren der Evolution. Die Variation von Merkmalen unter den Nachkommen ist nicht vorhersagbar. Wir wissen nicht im Voraus, welches Individuum stärker und welches schwächer abweichen wird. Wir können auch eine Mutation nicht vorhersagen. Die Situation ähnelt der Halbwertszeit von strahlendem Material. Man kann ziemlich genau angeben, wie lange es dauert, bis die Hälfte des Materials durch Strahlung verschwunden ist, aber man kann nicht vorhersagen, welche Atome es sein werden, die zerfallen. Genauso bei der Evolution von Pflanzen und Tieren: Eine individuelle Vorhersage ist nicht möglich, wohl aber die Aussage, dass es in der Population einer Art Variation und Mutation geben wird. Hinzu kommt, dass manche Pflanzen- und Tierarten größere, andere geringe Variation und Mutation zeigen. Auch hier dürfte der Zufall eine Rolle spielen, wenngleich wir in vielen Fällen noch zu wenig wissen, welche Ursachen solchen Unterschieden zugrunde liegen. Zufällige Mutationen sind nach heutigem Wissen weit häufiger als selektive Anpassung (Ernst Mayr 2005). Inzwischen ist nachgewiesen, dass neue Arten auch in relativ kurzer Zeit durch Zufallsmutationen entstehen können (Axel Meyer 2008). Die häufigste Form evolutionärer Entwicklung sind also Zufallsmutationen.

Das zufällige Zusammentreffen von Bedingungen beginnt bereits bei der Entstehung des Lebens. Ohne die Kombination von günstigen Voraussetzungen gäbe es auf unserem Planeten kein Leben. Die damaligen Bedingungen haben sich seither nicht mehr eingestellt, denn das Leben ist nur einmal spontan entstanden. Alles spätere Leben hat sich nach heutigem Wissen aus den ersten Lebensformen entwickelt. Auch die Hominiden verdanken ihre Entstehung bestimmten Bedingungen, wie vermutlich der geologischen Trennung in eine feuchte urwaldreiche Westregion und eine trockene Steppe im Osten Afrikas. Obwohl aber das Zusammentreffen von Bedingungen zufällig ist, lässt sich das, was aus dieser Kombination entsteht, sehr wohl als Kausalkette darstellen.

Zufall steht in enger Beziehung zur Entropie. Entropie als Maß für Unordnung entspricht informationstheoretisch zugleich dem Maß an Zufallsereignissen. Sind Informationsfolgen rein zufällig, ist die Entropie maximal. Ist die Information vollkommen geordnet, wäre die Entropie gleich Null. Den Zusammenhang zwischen Information und Entropie haben Shannon und Weaver (1949) in ihrem Werk A Mathematical Theory of Communication“ hergestellt. Dabei ist die Einheit der Zufallsinformation (1 bit) definiert als die Informationsmenge, die in einer Zufallsentscheidung eines idealen Münzwurfes enthalten ist. Hier wäre die Entropie (und damit der Informationsgehalt) gleich 1, denn der Münzwurf bringt eine reine Zufallsfolge ohne Ordnung. Hätte man hingegen eine präparierte Münze, die immer auf die gleiche Seite fallen würde, so wäre die Entropie und damit der Informationsgehalt gleich Null, die Ordnung maximal. Überträgt man dieses Modell von Zufall und Ordnung auf die Evolution, so haben lebende Individuen einen hohen Ordnungsgrad, die Entwicklungsverläufe von biologischen Arten und deren Veränderung jedoch eine geringe Vorhersagbarkeit (hoher Informationsgehalt). Wir können nur im Nachhinein folgern, wie und warum sich eine evolutionäre Entwicklung so und nicht anders vollzogen hat.

Eine zweite Komponente ergibt sich aus der Dynamik von Systemen. Die Systemtheorie wird sowohl auf Lebewesen als auch auf die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Lebewesen angewandt. Im ersteren Falle betrachtet man Stabilität und Veränderung eines einzelnen Organismus, im letzteren Falle spricht man von Ökosystemen, in denen eine Vielfalt von Lebewesen in einer gemeinsamen physikalische-chemischen Umwelt leben

16.1 Freiheit in der Evolution

und diese gleichzeitig mitformen. Systeme können sich nach zwei Richtungen hin entwickeln: zur Ordnung oder zum Chaos. Beide Entwicklungen lassen sich mathematisch gut beschreiben. DaaberkleinsteVeränderungenindenAusgangsbedingungenzuerheblichen Veränderungen führen können, wird die Vorhersage schwierig. Systemische Wirkungen werden uns auch noch in den Bereichen Kultur und Ontogenese begegnen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Entwicklungen in der Evolution sind schwer vorhersagbar. Die Unbestimmtheit der Zukunft kennzeichnet die Evolution wesentlich mehr als ihre Vorhersagbarkeit. Daher hat die Feststellung, der Mensch sei ein Zufallsergebnis angesichts der komplexen Koinzidenzen von Ereignissen und Prozessen, die an der Menschwerdung beteiligt sind, ihre volle Berechtigung.



Was uns die Evolution an Freiheitsgraden geschenkt hat

Zufall und Unvorhersagbarkeit sind die eine Seite der evolutionären Freiheitsmedaille, die andere Seite bilden die aktiven Möglichkeiten des einzelnen Lebewesens. Wie viel Freiheitsgrade hat ein Lebewesen in seinem Umfeld? Hier zeigt die Evolution eine breite Palette von wenigen bis zu sehr vielen Freiheitsgraden.

Dass einfache Leben ist noch völlig in physikalisch-chemische Reaktionsprozesse eingebettet. Dennoch gibt es bereits auf der Ebene einzelligen Lebens eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Bestimmte Amöben betreiben eine primitive Form von Ackerbau: Die Schleimpilze der Art Dictyostelium discoideum sammeln Bakterien und bewahren sie auf, um sie dann an einem anderen Ort wieder „auszusäen“. So bringen sie ihre Lieblingsnahrung vermutlich in einen neuen Lebensraum mit, schreiben US-Forscher im Fachjournal „Nature“(http://www.n-tv.de/wissen/Einzeller-betreiben-Ackerbau-article2411036.html).

Je komplexer Lebewesen werden, desto mehr erhöhen sich die Freiheitsgrade. Zunächst dominieren Reiz-Reaktionskoppelungen, wie das Einklinken eines Verhaltens auf einen bestimmten Reiz hin. Dies gilt bei komplexeren Lebewesen für Reflexe und in größerem, aber auch komplexerem Umfang für Instinktverhalten (Tinbergen 1948; Lorenz 1965). Die starre Koppelung von Situation als Reizmuster und Reaktion als Verhaltensmuster wird frühzeitig in der Evolution durch die Fähigkeit zu lernen aufgeweicht. Schon Insekten lernen, Würmer lernen, Vögel lernen, aber am meisten lernen Säugetiere, und unter ihnen wiederbildendiePrimatendieAvantgarde. Lernenofferiertbereitsaufeinersehreinfachen Ebene mehr Freiheit, weil neue Reiz-Reaktions-Koppelungen aufgebaut werden können. So werden vorhandene Verhaltensmuster ergänzt oder modifiziert. Nachahmungslernen ist bereits ein komplexer Lernvorgang, bei dem Verhaltensmuster durch bloße Beobachtung sozialer Partner übernommen werden können. Der Vogelgesang zum Beispiel hat neben angeborenen Komponenten auch die Nachahmung als wichtigen Teil des Lernens (Gahr et al. 2008). Der Vogelgesang zeigt übrigens auch noch eine weitere Form von Freiheit, nämlich die individuell-eigenständige Entwicklung neuer Gesangsanteile. Säugetiere entwickelnanalogdazuVerhaltensmuster, dieebenfallsnebenangeborenenKomponenten und durch Nachahmung erworbenen Anteilen individuelle Charakteristika zeigen. Das Resultat ist, dass Tiere eine eigene Persönlichkeit erwerben. Dies ist jedem Hundehalter und jedem Katzenbesitzer bekannt. Volker Sommer hat bei Schimpansen menschenähnliche Persönlichkeitszüge beobachtet und beschrieben. Schimpansen lassen sich wie Menschen nicht mehr durch gemeinsame Gruppenmerkmale allein beschreiben, man wird ihnen erst gerecht, wennmandieindividuellenUnterschiedezwischenihnenberücksichtigt(Sommer 2008).

Freiheitsgrade können inhaltlich recht Unterschiedliches bedeuten. Uns interessiert vor allemdieZunahmeangeistigerBeweglichkeitimLaufederEvolution. WirhabendieseEntwicklung in den Schritten: physikalische-chemische Reaktionen – Reiz-Reaktions-Ketten – Instinktverhalten –Lernen skizziert. Die Zunahme an Freiheitsgraden lässt sich auf höheren Ebenen dann als wachsende Intelligenz kennzeichnen. Unter Intelligenz versteht man die Fähigkeit, neue Probleme zu lösen. Tierversuche und Tierbeobachtungen in freier Wildbahn zeigen, dass wir die intellektuellen Fähigkeiten von Tieren lange unterschätzt haben. Bekannt geworden sind in letzter Zeit die Leistungen von Kolkraben, die sich ein Werkzeug herstellen, um mit diesem an das begehrte Futter zu gelangen. Sie suchen das vor den Artgenossen versteckte Futter erst auf, wenn diese sich entfernt haben (Heinrich und Burgnyar 2007). Ausgiebig untersucht wurde das Problemlösungsverhalten von Schimpansen und Orang Utans, von Elefanten und Delphinen.

Wie steht es nun mit den Freiheitsgraden, die der Mensch von der Evolution mitbekommen hat? Die Evolution stellt eine Reihe von Geschenken bereit, die unsere Handlungsfreiheit gewaltig erhöht hat. Wir haben diese Geschenke in früheren Kapiteln bereits kennengelernt und wollen die wichtigsten hier noch einmal zusammenführen. Da ist zunächst der aufrechte Gang, der es ermöglicht hat, dass Kopf und Hand so effektiv zusammenarbeiten konnten. Die Hände wurden frei für Werkzeugherstellung und Manipulationen und entwickelten sich in doppelter Richtung weiter: als Verbesserung des Kraftgriffs und als Verbesserung der Feinmotorik. Die Vergrößerung des menschlichen Gehirns und seine wachsende Effizienz bescherten uns Selbstbewusstsein, Planungsverhalten, Problemlösefähigkeit und nicht zuletzt Handlungskontrolle in Form der Regulation affektiv-motivationaler Impulse. Dies allein schon erweitert die Handlungsfreiheit einer Spezies gewaltig. Die Kontrolle unserer Triebimpulse erlaubte deren Zurückstellung zugunsten der Werkzeugherstellung, die verbesserte und effektivere Abstimmung sozialer Interaktionen sowie die Dazwischenschaltung von „Denkpausen“, die eine rationale Analyse gefährlicher oder lustvoller Situationen ermöglicht. Denken konnte als Probehandeln benutzt werden. Wir müssen Handlungen nicht real physiksalisch ausführen, sondern können sie in Gedanken ablaufen lassen. Wir können Hypothesen sterben lassen, wie Popper (1992/1957) es ausgedrückt hat, anstatt Menschenleben oder anderes Leben zu

riskieren.

Aber unser Denkapparat ist offenkundig über die Sicherung des Überlebens hinaus mit einem Überschuss ausgestattet. Wir haben einen Surplus an Denkvermögen, der uns erlaubt, hinter die dreidimensionalen Erscheinungen der Welt zu blicken und in den Mikrokosmos und Makrokosmos vorzudringen. Dabei hilft uns die Mathematik entscheidend weiter, die sich nicht um Dreidimensionalität der Welt und um ein beschränktes Alltags-

verständnis von Zeit kümmert. So konnten wir unsere „Froschperspektive“ überwinden und Erkenntnisse gewinnen, die uns zu reflektierten Beobachtern der Welt machen, in der wir leben. Für Verläufe in der Evolution ist das Auftreten von Überschüssen nichts Ungewöhnliches. Wir haben im Kapitel über Ästhetik die übergroßen Geweihe von Hirscharten und den Pfauenschwanz als Surplus der Ausstattung diskutiert. Uns hat der Überschuss an Denkvermögen jedoch über alle anderen Spezies erhoben. Kein Wunder, dass wir uns lange Zeit für die Krone der Schöpfung hielten. Aber auch diese überhebliche Sicht konnten wir mit Hilfe unseres Denkens überwinden!

Es gibt eine zweite Komponente, die scheinbar unabhängig von unserem Denkvermögen unsere Freiheitsgrade erhöht hat: das Spiel. Im Kapitel über das Spiel haben wir gezeigt, dass Spielverhalten in der Phylogenese unabhängig von der Gehirnentwicklung als eigene Entwicklungslinie auftaucht und dass es enorme Bedeutung für die Vermehrung von Freiheitsgraden unseres Handelns hat.



16.2 Freiheitsgrade in Kultur und Gesellschaft

Folgt die gesellschaftliche Entwicklung einem festen Muster?

Lässt sich auch bei der Kultur die Zweiteilung von Unvorhersagbarkeit und aktiver Freiheitsgestaltung aufrechterhalten? In der Tat ist auch die kulturelle Entwicklung unbestimmt. Immer wieder gab es Versuche, die Zukunft unserer kulturellen Entwicklung vorherzusagen. Zwei prominente Vertreter dieser Versuche sind Spengler und Toynbee. Oswald Spengler vergleicht in seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes“ acht Kulturen miteinander und stellt fest, dass sie alle den gleichen Verlauf genommen haben: Frühzeit, Hochblüte, Verfall und schließlich Sterben (Spengler 1922/1923). Auch die Geschichte des Abendlandes fügt sich seiner Meinung nach reibungslos in diese Gesetzmäßigkeit ein. Spengler glaubte, dass sich kulturelle Entwicklung quasi naturgesetzlich nach einem festen vorhersagbaren Verlauf vollziehe.

Arnold Toynbee vertritt in seinem zehnbändigen Werk (1934–1954) eine differenziertere Sichtweise, die den Evolutionsgedanken aufgreift. Kulturen entwickeln sich keineswegs immer nach dem Muster von Aufstieg, Blütezeit und Verfall, sondern in Abhängigkeit von ihrem Potential und den Herausforderungen, die an sie gestellt werden. In seinem „Gang der Weltgeschichte“ beschreibt er Kulturen, die extremen Bedingungen ausgesetzt waren und sind, wie die Inuit-Kultur. Unter solchen Verhältnissen könne sich eine Kultur nicht weiterentwickeln, sondern stagniere über Jahrtausende hinweg. Ein analoges Beispiel wären die Yamana auf Feuerland, die Buschmänner in der Kalahari und die Eipos auf Neu-Guinea. Ihre Kulturen erfuhren Jahrtausende lang keine Veränderung. Die Entwicklung zu Hochkulturen ist nach Meinung Toynbees möglich, wenn die Herausforderungen der Umwelt ein mittleres Maß an Schwierigkeiten haben und bewältigbar sind. Dies ist der Fall bei den Hochkulturen der Antike und bei der abendländischen Kultur.

Trotz der postulierten Offenheit kultureller Entwicklung sucht Toynbee nach Gesetzmäßigkeiten, mit denen sich die Zukunft einer Kultur vorhersagen lässt. Die Überzeugung eines gesetzmäßigen Verlaufs führt ihn denn auch zu der Forderung des Weltzusammenschlusses einzelner Gesellschaften. Wir können seiner Meinung nach dem Untergang nur entrinnen, wenn sich die einzelnen Nationen zu einem Weltstaat zusammenschließen. Toynbee wird dennoch von Historikern und Soziologen nicht ernst genommen und wegen seines Gebrauchs von Mythen und Metaphern, die er gleichwertig mit Sachargumenten verwendet, kritisiert. Vor allem missfällt die Bedeutung der Religion, die er zum Erhalt und der Weiterentwicklung der Gesellschaft für unentbehrlich hält. Für unsere Fragestellung der Offenheit der Zukunft von Gesellschaften erweist sich Toynbees Ansatz ebenfalls als zu eng. SchließlichgibterdochpräziseVorschläge, wiesicheineGesellschaftweiterentwickeln müsse, um zu überleben und sich zu perfektionieren (Toynbee, 1949/1958).

Eine extreme Position bezüglich der Zukunft von Gesellschaften bezieht der Historizismus (s. Popper, 1971). Er vertritt die Auffassung, dass es unpersönlich wirkende Geschichtskräfte gibt, die der Geschichte eine bestimmte Richtung verleihen, ohne dass sich die handelnden Personen dieser Richtung bewusst sein müssten. Diese Idee findet sich schon bei Plato und dem auserwählten Volk Israel. Sie wurde in der Geschichtsphilosophie vor allem von Hegel (1968) vertreten. Die Geschichte entwickelt sich zwangsläufig zum Besseren hin und erreicht schließlich ein Zustand der Vollkommenheit. Je nach Ausrichtung ist dieser Zustand das Reich Gottes (bei Christus und Mohammed), das Reich der Freiheit (Marx, MEW 23: 27) oder der vollkommene Staat (Platon). Eine Abwandlung des Historizismus wäre Spenglers Theorie vom Aufstieg und Niedergang der Kulturen. An die Zielgerichtetheit historischer Prozesse will heute niemand mehr glauben. Man kann zwar aufgrund gegenwärtiger Entwicklungen Folgen für die nahe Zukunft vorhersagen, weil bestimmte Ursachen bestimmte Wirkungen haben können, aber die tausendfältigen Ursachen und ihr Zusammenwirken in komplexen Gesellschaften lassen für die fernere Zukunft keine Prognosen zu. Die mystisch anmutende Zielgerichtetheit gesellschaftlicher Prozesse ließ sich bislang jedenfalls nirgends finden. Ein aktuelles Beispiel für unerwartete Entwicklungen sind die Revolutionen in Nordafrika und im Nahen Osten. Kein Experte hatte vorhergesagt, dass in Tunesien ein Aufstand gegen die Regierung entstehen könnte, und noch weniger, dass der Aufstand zu einem Flächenbrand würde, der eine Reihe von Regierungen stürzte.

Denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt

Die Offenheit gesellschaftlicher Entwicklung und deren Nichtvorhersagbarkeit lassen sich zusätzlich von zwei Seiten her beleuchten, den falschen Vorhersagen von Experten und den unerwarteten Entwicklungen aufgrund der Handlungen einzelner Persönlichkeiten. Für die falschen Vorhersagen seien einige Beispiele der letzten einhundertfünfzig Jahre ausgewählt (Klausig 2007):



Beispiel

„Das Telefon hat zu viele Unzulänglichkeiten, als dass es ernsthaft eine Bedeutung für die Kommunikation besitzen könnte.“ (Internes Memo bei Western Union 1876).

Eine Marktanalyse von Mercedes-Benz im Jahr 1900 kam zu dem Schluss, dass die weltweite Nachfrage nach Autos eine Million nicht übersteigen würde, wegen der begrenzten Anzahl von Chauffeuren.

„Fliegen ist nicht möglich, da die Maschine zum Fliegen in jedem Fall schwerer ist als Luft.“ (Simon Newcomb, Nobelpreisträger für Physik).

„Auf das Fernsehen sollten wir keine Träume vergeuden, weil es sich einfach nicht finanzieren lässt.“ (Lee De Forest, Vater des Radios).

„Ich schätze, dass der Weltmarkt Nachfrage für höchstens fünf Computer hat.“ (Thomas Watson, Vorsitzender von IBM, 1943).

„Es gibt für niemanden einen Grund, zu Hause einen Computer haben zu wollen.“ (Ken Olson, Vorsitzender und Gründer von Digital Equipment Corp., 1977).

„Im Internet ist für uns nichts zu verdienen.“ (Bill Gates, Gründer und damaliger Präsident von Microsoft, 1994).

Die zahlreichen Beispiele dafür, wie einzelne Persönlichkeiten durch ihr Handeln den Lauf der Geschichte verändern können, sind gleichermaßen Zeugnis für die Unvorhersagbarkeit der historischen Entwicklung insgesamt. Napoleon hat ganz Europa umgekrempelt. Die griechischen Philosophen haben nachhaltig die abendländischen Kulturen beeinflusst. Ohne Paulus hätte das Christentum niemals seinen Siegeszug angetreten. Die Erfindung des Autos hat nicht nur die Kfz-Produktion zum größten Industriezweig der Welt gemacht, sondern auch die Erdoberfläche mit einem Straßennetz von Millionen Kilometern überzogen. Rundfunk und Fernsehen gibt es heute in jedem Winkel der Erde, Computer und Internet werden von der gesamten Weltbevölkerung genutzt, und das Handy hat in einem Jahrzehnt das Kommunikationsverhalten der Menschen verändert.

Diese Beispiele zeigen allerdings auch, dass der Blick auf unerwartete und unvorhersagbareEntwicklungennichtdieSichtaufdiederzeitigeEinengungdesVerhaltensspielraumes derMenschenverstellendarf. Esistkaummöglich, ohnemotorisiertesFahrzeugzurechtzukommen, AutobahnenwerdenimStauzuGefängnissen, werdenComputernichtbedienen kann, wird zum Analphabeten, und wer per Handy nicht jederzeit erreichbar ist, zum unbrauchbaren Mitarbeiter. Die explosionsartige Vermehrung der Konsumgüter schafft einerseits eine Vielzahl neuer Handlungsmöglichkeiten, macht uns aber andererseits zu Konsumenten, die sich nur schwer aus der Abhängigkeit vom Erwerb von Waren befreien können. Hinzu kommt die Wirkung von Systemen in der Gesellschaft, die der Kontrolle entgleiten oder zumindest das Individuum zu bestimmten Verhaltensweisen zwingen. Marx hat das kapitalistische System und seine Folgen sehr detailliert beschrieben, aber er wollte zugleich eine Veränderung in Richtung einer idealen Utopie. Unser Finanzsystem, das gänzlich vom Produktionssystem abgekoppelt ist, kann nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Staaten in den Ruin treiben. Die systemische Wirkung, die die Teilnehmer auch gegen ihren Willen zu bestimmten Verhaltensweisen zwingt, stellt eine besondere Gefahr dar, weil sie nicht als solche erkannt wird, sondern auf das Verhalten einzelner Beteiligter reduziert wird. Fehlspekulationen im Finanzsektor werden als leichtsinniges oder kriminelles Verhalten einzelner klassifiziert und nicht als Ergebnis des Gesamtsystems, das zu dem entsprechenden Verhalten anregt oder gar zwingt.



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