Gespräch der Himmlischen
Dionysos: Wenn diese Soziobiologie Recht hat, siegt letztlich immer der Gen-Egoismus. Das Individuum kümmert sich nur um seinen eigenen Vorteil. Ich habe ja schon immer die Devise vertreten, zu genießen und es sich selbst gut gehen zu lassen. Der Genuss wird durch gemeinsame Feste und Orgien erhöht, aber sie dienen letztlich nur dem individuellen Genuss.
Athene: Obdudanichtetwasgrundsätzlichmissverstehst. Esgehtnichtumindividuelles Glück oder gar um individuelles Rauscherleben, sondern um die Fitness-Weitergabe. Die ist gefährdet, wenn sich jemand im Rausch, vollgepumpt mit Alkohol oder anderen Drogen fortpflanzt.
Apoll: Aber in Zeus haben die Menschen ihre Sehnsüchte nach optimaler GenWeitergabe verwirklicht. Der Göttervater hat so viele Geliebte und damit auch Kinder, dass sein Götterblut in vielen Halbgöttern und Vollgöttern fließt. Im Sinne der Soziobiologie hat er nur konsequent gehandelt.
Aphrodite: Da sollte unsere Göttermutter Hera eigentlich etwas toleranter sein und die Geliebten und Kinder ihres Gemahls schonen, nachdem sie schon gegenüber Zeus selbst nichts ausrichten kann. Ich glaube, sie ist auch eine Egoistin, die nur auf Fitness-Weitergabe ihrer eigenen Gene aus ist. Kinder, die nicht von ihr stammen, sind genetisch Konkurrenten, die man möglichst bald ausschaltet. Die Hüterin der Ehe ist zugleich die Hüterin ihrer eigenen Gene und deren Weitergabe.
Athene: Vorsicht mit solchen Schlussfolgerungen! Das Sexualleben ist in allen menschlichen Kulturen Regelungen unterworfen. Sie reichen von der Todesstrafe für Frauen bei Ehebruch bis zum Matriarchat, bei dem (selten genug) die Frauen die Macht in Händen halten und die Männer für Ehebruch strafen. Wie Sexualität gehandhabt wird, hängt stark von Umweltbedingungen ab, vor allem von den verfügbaren Ressourcen. Jedenfalls können Gesellschaften ohne Regulierung der Sexualität nicht überleben. Außerdem erinnere ich daran, dass Wilson (2013) den Genegoismus als Triebkraft der Evolution für den Menschen ablehnt.
Apoll: Was haltet ihr von den vier Formen der ökonomischen Vergesellschaftung? Was mich betrifft, so lehne ich das Marktmodell ab, es ist eine Gesellschaft der Krämerseelen. Und das Modell der Gleichheit und Gleichberechtigung ist absurd. Niemand ist so wie der andere. Schaut uns Götter an, wir sind von den Menschen möglichst unterschiedlich
konzipiert!
Athene: Darum geht es auch nicht, sondern um die Gleichberechtigung und die Gleichheit der Würde aller Menschen, trotz aller Unterschiede zwischen ihnen. Sie bildet die Grundlage für demokratische Gesellschaften. Vergesst nicht, dass unsere Griechen diese Idee entwickelt haben!
Dionysos: In Wahrheit ist Modell zwei, das mit der autoritären Hierarchie, immer noch wirksam. Die wirtschaftlich Mächtigen sind auch sonst die Drahtzieher, und die Politiker oft nur Puppen, die nach dem Willen der Wirtschaftsbosse tanzen. Gleichheit der Menschen gibt es bei meinen Orgien!
Apoll: Dumpfe, emotional empfundene Gleichheit vielleicht schon. Es gibt aber auch Gleichheit in der Kunst und Musik. Menschen verschiedenster Sprachen und Kulturen verstehen sich über Kunst, Musik, Tanz und sportlichen Wettbewerb.
Aphrodite: Mirgefällt, dassdieromantischeLiebe, diejadasGegenteilvonGleichheitist, weil sie alle anderen Menschen ausschließt, zu den evolutionären Universalien gehört. Meine Daseinsberechtigung ist also tief in der Vergangenheit des Menschen verwurzelt! Athene: Ich will dir deinen Glauben an die evolutionäre Basis von Liebe lassen, obwohl ich da meine Zweifel habe. Ich wollte aber zum Thema Akkulturation noch etwas sagen. Akkulturation war schon zu unserer, will sagen zur griechischen, Zeit ein wichtiges Thema. Wo wir Siedlungen gründeten, wuchs die Bevölkerung in unsere Kultur hinein, betete uns an, opferte uns und übernahm unsere Sprache. Die Religion war vielleicht das wichtigste Integrationsmittel für Akkulturation. Selbst die Römer haben uns übernommen und nur unsere Namen geändert.
Apoll: Meinen nicht, der ist anscheinend eine Universalie! Man darf aber nicht vergessen, dass die griechische Kultur aus vielen recht unterschiedlichen Subkulturen bestand. Man denke nur an die abscheulichen kunstfeindlichen Spartaner und die weltoffenen kunstliebenden Athener. Neben Sprache und Religion hatten sie nur ihren Dünkel gemeinsam, die besten aller Menschen zu sein und alle übrigen Völker für Barbaren zu halten.
Dionysos: Was sagt ihr denn zu einer Kultur wie die gegenwärtige westliche Kultur, in der die Älteren von den Jüngeren lernen? Dass ist doch pervers. Die Jugend hat ohnedies alle Vorteile, sie ist schön, gesund, überlebt die Alten, und nun soll sie ihnen auch noch als Lehrer dienen?
Athene: Das ist ein schönes Beispiel für das neue Menschenbild. Jeder ist gleich, Alter hat kein Vorrecht vor Jugend.
Apoll: Und ist es nicht phantastisch, wenn die Jugend dafür sorgt, dass das Alter nicht den Anschluss an die rasche kulturelle Entwicklung verliert?
Alle (spöttisch): Dann kann ja das Goldene Zeitalter beginnen.
Vielleicht ist es schon wirklich da – Mit Nektar und Ambrosia!
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Ontogenese: „molare“ Sicht 8
In Kap. 6 wurde das EKO-Modell vorgestellt, das der konstruktiven, gestaltenden Aktivität des Individuums eine mindestens gleichwertige Rolle wie der Evolution und der Kultur zuweist. Ist diese Behauptung gerechtfertigt? Hören und lesen wir nicht ständig, dass der Mensch keinen freien Willen besitzt, dass alles determiniert ist? Die Evolutionsbiologen, insbesondere die Soziobiologen, zeigen, wie sehr unser Verhalten von Prinzipien der Evolution gesteuert wird. Die Kulturanthropologen und Soziologen belegen, wie sehr unser Denken und Handeln gesellschaftlich-kulturell bestimmt ist. Im Alltag sind wir durch Vorschriften, Verordnungen, familiäre und berufliche Zwänge so eingeengt, dass kaum Spielraum für freie Selbstgestaltung bleibt.
Hier gibt es viele Missverständnisse, die wir im Laufe der folgenden Kapitel auszuräumen versuchen. Individuelle Freiheit wird irrtümlicherweise mit Indeterminismus gleichgesetzt. Die Annahme individueller Handlungs- und Gestaltungsfreiheit verlange, dass menschliches Verhalten nicht vollständig determiniert sei. Dies ist natürlich unzutreffend. Rückblickend können wir mehr oder minder genau die Kausalkette rekonstruieren, die zu einem aktuellen Zustand oder Verhalten geführt hat. Wir können aber auch registrieren, was an den Geschehnissen auf das Konto individueller Entscheidungen und Konstruktionsleistungen zurückgeht. Dass unsere Handlungen determiniert sind, heißt lediglich, dass zumindest theoretisch alle Ursachen ausgemacht werden können, die zu ihnen geführt haben.
IndiesemKapitelnähernwirunsdemBeitragdesIndividuumsaus„molarer“Sicht, d.h. wir beschreiben die individuelle konstruktive Aktivität eher auf einer höheren ganzheitlichen Ebene. Im darauffolgenden Kapitel werden wir uns der „molekularen“ Perspektive bedienen, also Einzelleistungen und Einzelfähigkeiten beschreiben. Die Unterscheidung zwischen molar und molekular gibt es in mehreren Wissenschaftsdisziplinen, unter anderem in der Wirtschaftssoziologie.
R. Oerter, Der Mensch, das wundersame Wesen, 165
DOI 10.1007/978-3-658-03322-4_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
8.1 Einflussgrößen für Entwicklung, die wenig beachtet werden
Zufall
In jedem menschlichen Lebenslauf kommt es zu Konstellationen, in denen zufällig mehrere Bedingungen zusammentreffen, die vorübergehend oder auf Dauer Einstellungen und Handeln verändern. Ein Beispiel hierfür sind Ereignisse, die man in der Psychologie als non-normative kritische Lebensereignisse bezeichnet. Csikcentmihalyi (1997) führte Interviews mit prominenten Wissenschaftlern und Künstlern durch. Eine immer wieder auftauchende Erklärung für kreative Leistungen war die Äußerung: Ich habe eben Glück gehabt, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort mit den richtigen Leuten zusammengetroffen zu sein. Psychologische Forschung über kritische Lebensereignisse belegt, dass auch in alltäglichen Biografien Zufallsereignisse eine wichtige Rolle spielen. Oft entscheidet ein Lehrer darüber, ob Schüler beruflich das Fach wählen, das er gelehrt hat. Einer meiner Kollegen erzählte mir, dass ihn die Lektüre einer Einführung in die Psychologie während seiner Schulzeit zum späteren Psychologiestudium gebracht habe. Ich selbst wurde als junger Assistent von einem Kollegen ermutigt, aus einer Vortragsreihe ein Buch über Entwicklungspsychologie zu schreiben. Diese Anregung, die ich in die Tat umsetzte, hat meinen gesamten Lebenslauf verändert. In einem von Filipp (1990) herausgegebenen Sammelband findet sich ein Überblick über Art und Wirkung von solchen Lebensereignissen.
Kreativität und Problemlösen
Was dem Alltagsverständnis für die Freiheitsgrade des Menschen trotz biologischer und gesellschaftlich-kultureller Bestimmtheit am meisten einleuchtet, sind die kreativen Leistungen und die Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen. Kreativität ist ja gerade gekennzeichnet durch das unerwartet auftretende und nicht vorhersagbar Neue, das als Ergebnis der geistigen menschlichen Aktivität zustande kommt. Schon Kinder zeigen eine Fülle kreativer Einfälle, die mehr oder minder einmalig sind. So bezeichnet ein Dreijähriger einen entlaubten Baum als „Steckenbaum“ und die Tage vor gestern als „weitgestern“. Ein anderes Kind gleichen Alters operiert mit dem Begriff „leer“, indem es alle Gefäße ihres Inhaltes beraubt, z.B. sein Osternest ausleert und den leeren Korb mit der Bemerkung „leer“ hochhält. Als er das Haus seiner Großeltern besucht, die zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend sind, erklärt er „Opa leer, Oma leer“.
Nun kennen wir zwar Gesetzmäßigkeiten in der Sprachentwicklung, wie die Übergeneralisierung, die solche Äußerungen erklären und vorhersagen, aber diese (psycholinguistischen) Gesetze können nie den Einzelfall, wie die obigen Beispiele prognostizieren. Warum ein Kind gerade „Steckenbaum“ erfindet oder mit dem Begriff „leer“ operiert, bleibt dem Kind überlassen.
Wie bereits in Kap. 6 dargestellt, ist die kulturelle Entwicklung dem menschlichen Erfinder- und Entdeckergeist zu verdanken. Problemlösen als Spezialfall der Kreativität
8.1 Einflussgrößen für Entwicklung, die wenig beachtet werden
richtet sich auf die Bewältigung von Aufgaben, für die noch keine Lösungen zur Verfügung stehen. Die Geschichte der Menschheit ist zugleich eine Geschichte von Problemen, die Schritt für Schritt von einzelnen Personen bzw. von Gruppen gelöst wurden. Es ist die konstruktive Aktivität des Menschen, der einzeln oder in Gruppen zu neuen kulturellen Entwicklungen beiträgt und deshalb die Zukunft in nicht vorhersagbarer Weise gestaltet. Dass solche Entwicklungen dennoch determiniert sind, bleibt davon unbenommen. In der Rückschau lässt sich nämlich eine lückenlose Kausalkette bis hin zum Endergebnis herstellen. Aber es ist eine Determiniertheit, die nur teilweise auf evolutionsbiologische Wurzeln und kulturelle Einflüsse zurückzuführen ist, sondern in vielen Fällen neue individuelle Konstruktionsleistungen als Ursache hat. Diese Freiheit konstruktiven Gestaltens ist auch der Grund dafür, dass der Mensch Verantwortung trägt für das, was er tut. Er ist das einzige Lebewesen, dem wir Verantwortung zuschreiben. Dieser Aspekt wird uns in den letzten Kapiteln dieses Buches noch genauer beschäftigen.
Einmaligkeit von Persönlichkeitsmerkmalen und ihrer Entstehungsgeschichte
Betrachtet man die Entwicklung der Persönlichkeit, so wird man umso mehr ihre Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit feststellen, je mehr Einzelheiten über ihre Biografie, über messbare Merkmale und sozialen Beziehungen bekannt sind. Kein Mensch ist wie der andere. Das gilt auch für kollektivistische Kulturen. Obwohl diese Einmaligkeit auch schon biologisch vorliegt, sind es vor allem die psychischen Merkmale und ihre Ausprägungen, die Leistungen und letztlich auch die Zufälle in der Lebensgeschichte, die zur Einmaligkeit der menschlichen Persönlichkeit führen. Wiederum ist diese Einmaligkeit nicht allein durch Biologie und Kultur determiniert, sondern auch und vor allem das Ergebnis individueller Selbstgestaltung. Dieser Sachverhalt wird uns in den folgenden Abschnitten näher beschäftigen. Interessanterweise setzen sich mit zunehmendem Alter im Lebenslauf genetische Persönlichkeitsfaktoren durch. Dies meint zumindest Asendorpf (2008) aufgrund seiner Analyse von einschlägigen Untersuchungen. Damit hätte das alte Wort, „werde, der du bist“ eine empirische Bestätigung erfahren. Gleichwohl heißt das nicht, dass wir mit zunehmendem Alter immer stärker biologisch determiniert werden, denn was wir aus unseren anlagebedingten Merkmalen machen, ist unsere Sache. Zwei Personen mit den laut Persönlichkeitstests gleichen Merkmalen, können völlig verschiedene Identitäten, Berufe, Bildungsstände und Wertvorstellungen haben.
Information und Aufklärung
Je mehr wir über die prägende Wirkung von Evolution und Kultur wissen, je mehr wir über die Hintergründe unseres Daseins erfahren haben, desto mehr können wir uns von diesen Einflüssen unabhängig machen. Wenn wir wissen, dass Aggressivität aus unserer Evolution stammt, können wir der Gefahr ihres unkontrollierten Auftretens begegnen. Je mehr wir darüber wissen, wie unsere Wertvorstellungen und unserer Geschmack von der umgebenden Kultur geprägt werden, desto leichter gewinnen wir Distanz und können zu neuenkonstruktivenmoralischenundästhetischenUrteilengelangen. WashierimGroßen gilt, istauchfürAlltagshandelnrelevant. InformationundAufklärunginFormvonBildung ist unentbehrlich für jeden einzelnen. Nur so kann die Menschheit gegen Fanatismus, Aberglauben und Ideologien jeder Art gefeit werden. Da dieses Ziel nicht einmal bei uns in Deutschland, geschweige denn in den USA, erreicht ist, brauchen wir uns nicht wundern, wenn bildungsferne Bevölkerungsgruppen überall auf der Welt in Aberglauben und Unwissenheit verharren. Zukünftige weltweite politische Maßnahmen sollten daher auf möglichst hohe Bildung für alle abzielen. Bildung sollte dabei auch Aufklärung über unsere psychische Verfasstheit gewährleisten und Strategien vermitteln, mit denen wir unser gefährliches Potenzial von Aggressivität und Aberglaube im Zaum halten können. Bildung, nicht Waffen, heißt die Devise.
Handlungs- und Affektregulation
Ein wesentlicher Zug des Menschen ist die Fähigkeit, die Affekte und Emotionen unter Kontrolle zu halten. Diese Regulierung befähigt ihn, Bedürfnisse aufzuschieben, Aggressionen nicht unmittelbar auszuleben und sich nicht von Angst und Furcht überwältigen zu lassen. Die Fähigkeit zur Affektkontrolle entwickelt sich früh. Während zwei- bis dreijährige Kinder noch heftige, unkontrollierte Affektausbrüche zeigen, verbessert sich die Affektkontrolle zwischen fünf und sieben Jahren maßgeblich. Kinder verzichten auf ein verlockendes Angebot (Süßigkeit), wenn sie später stattdessen mehr bekommen (Bedürfnisaufschub). Sie sind auch bereits in der Lage, der Versuchung zu widerstehen, z.B. trotz eines attraktiven Angebotes vor Augen warten zu können (Mischel et al. 1972, 1989). Im Jugendalter verbessert sich nochmals die Fähigkeit der Emotions- und Bedürfniskontrolle, weshalb Jugendliche zu hohen Anstrengungen in Sport, Musik und Tanz bereit sind. Dies trifft zu, obwohl Jugendliche auch das Ausleben von Emotionen bis hin zum rohen Affekt erproben und aus den zivilisatorischen Schranken ausbrechen. Die Fähigkeit der Emotionskontrolle bildete einst die Grundlage für die Herstellung von Sekundärwerkzeugen, also von Werkzeugen, die aus anderen Werkzeugen hergestellt werden (s. Kap. 3).
Tabelle 8.1 zeigt den Weg der Emotionsregulation von der Geburt an bis ins Grundschulalter. Vom Kind geht ein emotionaler Appell an die Umwelt. Dieser wird von der Bezugsperson wahrgenommen und zielgerichtet durch Hilfe beantwortet. Beim Neugeborenen ist der Appell noch unbestimmt und die Bezugsperson muss herausbekommen, was dem Neugeborenen fehlt (exploratives Handeln). Der Säugling appelliert im ersten Lebensjahr dann mehr und mehr gerichtet, sodass die Bezugsperson auch zunehmend gerichtet antworten kann. Sie weiß, worüber sich das Baby freut und was ihm fehlt. Das Kleinkind im Alter von einem bis drei Jahren äußert seine Emotionen bereits intentional, d. h., es verfolgt mit seinem emotionalen Ausdruck einen Zweck. Es will auf sich aufmerksam machen und
Tab. 8.1 Die Entwicklung der Emotionsregulation: von der interpsychischen zur intrapsychischen Regulation. (Holodynski und Oerter 2008)
Neugeborenes
|
appelliert ungerichtet
handelt explorativ
|
Bezugsperson
|
Säugling
|
appelliert zunehmend gerichtet
handelt zunehmend gerichtet
|
Bezugsperson
|
Kleinkind
|
appelliert intentional
handelt gezielt
|
Bezugsperson
|
Vorschulkind
|
appelliert intentional
regt zur Selbstregulation an
|
Bezugsperson
|
Schulkind
| -
appelliert an sich selbst
-
reguliert sich selbst
|
|
Unterstützung für die Befriedigung seiner Bedürfnisse erhalten. Die Bezugsperson handelt gezielt, sie erfüllt die Wünsche des Kindes oder verwehrt sie. Im Vorschulalter (4–6 Jahre) appelliert das Kind weiterhin an die Bezugsperson. Diese verändert aber im Vergleich zu früher ihre Strategie und appelliert ihrerseits an die Selbstregulation des Kindes (du wirst doch noch etwas warten können – wenn du geduldig bist, bekommst du nachher eine Belohnung). Im Grundschulalter schließlich ist das Kind fähig, seine Emotionen ohne äußere Regulationshilfe zu kontrollieren. Es kann längere Zeit schulische Aufgaben bearbeiten, ist also zur willentlichen Konzentration fähig, und kann Bedürfnisaufschub praktizieren (Holodynski und Oerter 2008). Wir werden später zu zeigen haben, dass dieser Kompetenzfortschritt auch mit der Entwicklung der abendländischen Kultur zu tun hat, die durch eine fortschreitende Verhaltens- und Emotionskontrolle gekennzeichnet ist (s. Kap. 16).
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