Resümee
Die Entwicklung der Wissenschaften zeigen eindrucksvoll, dass sich Kultur nicht auf die biologische Evolution reduzieren lässt. Die evolutionäre geistige Ausstattung hat uns mehr Hindernisse in den Weg gelegt als Hilfen mitgegeben. Ebenso wenig wie sich Kultur auf Evolution reduzieren lässt, kann die Ontogenese auf Kultur und Evolution zurückgeführt werden. Der einzelne Mensch besitzt über determinierende Faktoren der Evolution und der Kultur hinaus Freiheitsgrade, die ihn vorhersagbar machen und es nie machen werden. Dies wird uns im letzten Kap. 16 zu beschäftigen haben. Abbildung 13.4 demonstriert diese Überlegung. Die Evolution offeriert Freiheitsgrade, die in Bezug auf den Menschen enger
Abb. 13.4 Zuwachs an
Freiheitsgraden von Evolution über Kultur zur Ontogenese sind als die Freiheitsgrade der Kulturen, die er entwickelt hat. Das Individuum ist weder völlig durch die Evolution, noch durch die Kultur determiniert, sondern hat zumindest der Möglichkeit nach die Chance, weitere Freiheitsgrade zu realisieren. Wir sehen sie dokumentiert in Wissenschaft, Kunst, Literatur und Musik. Bedeutsam erscheint die kurze Phase, in der die Freiheitsgrade verwirklichen werden können. Sie liegen innerhalb der Zeitspanne eines menschlichen Lebens, während die Kultur Jahrhunderte und Jahrtausende brauchte, um über die Angebote der Evolution hinaus zu kommen. Die Evolution schließlich benötigte Jahrmillionen, um uns zu kreieren. Wir haben versucht, den Nachweis zu führen, dass die Kultur nicht auf die Evolution reduzierbar ist, was auch heißt, dass Kultur mehr Freiheitsgrade besitzt als die Evolution. In den nächsten Kapiteln wird zu zeigen sein, warum das Individuum und seine Entwicklung nicht ausschließlich auf Kultur und Evolution reduziert werden kann.
Gespräch der Himmlischen
Apoll: Es war die Kreativität des Menschen, die ihn über die Evolution erhoben und zu einemeinzigartigenLebewesengemachthat. EinegeheimnisvolleMacht, dieKreativität. Athene: Darüber sollen wir ja im nächsten Kapitel mehr erfahren. Was dieses Kapitel nicht erwähnt, ist das Faktum, dass der Mensch die Herrschaft über die Evolution anzutreten gewillt ist. Seine Erkenntnis ist nicht nur über die evolutionäre Ausstattung hinaus gedrungen, er greift nun selbst planvoll und aktiv in die Evolution ein. Ich fürchte, er macht vor nichts halt. Bis jetzt hat es beim Menschen immer geheißen: Was machbar ist, wird irgendwann auch gemacht.
Dionysos: Wenn er sich nur nicht dabei übernimmt. Bis jetzt weiß er noch nicht allzu viel über die Natur, und die großen Geister zeigen sich denn auch ehrfürchtig gegenüber den Geheimnissen der Natur, die ihnen trotz allen Fortschritts doch verschlossen bleiben.
Apoll: Jetzt wäre es eigentlich an der Zeit, Religion und Wissenschaft einander gegenüber zu stellen.
Athene: Das hätte ich mir eigentlich von diesem Kapitel erwartet.
Apoll: Also wollen wir es selbst nachholen. (Nimmt Papyrus und Federkiel und beginnt zu schreiben, s. Tab. 13.3). Da hätten wir zunächst den Wahrheitsanspruch. Religion erhebt Absolutheitsanspruch, Wissenschaft ist revidierbar.
Athene: Die christlichen Theologen behaupten doch aber, dass man die Bibeltexte nicht wörtlich nehmen dürfe und so halten’s auch die meisten Christen außer einigen bornierten Amerikanern im Mittleren Westen. Für die gilt die Bibel wörtlich.
Apoll: Ein paar Amerikaner? Ich schätze, es sind 50 Mio. Aber letztlich gilt das auch für den Sophismus der Theologen, denn auch nach ihrer Auffassung steckt hinter den Bibeltexten eine ewige Wahrheit.
Athene: Wie steht es mit der Prüfbarkeit? Religion ist nicht widerlegbar, Wissenschaft schon.
Dionysos: Wieso ist Religion nicht widerlegbar? Schaut euch doch nur die Evolutionstheorie an. Sie widerlegt doch eindeutig den Schöpferglauben der Völker.
Apoll: Das stimmt so nicht für religiöse Menschen. Sie finden immer wieder ein Hintertürchen für ihren Glauben. Seit es den Urknall als wissenschaftlichen Erklärungsversuch für die Entstehung gibt, wird der Schöpfungsakt eben um 13,7 Mrd. vorverlegt. Aphrodite: Aber die Amerikaner glauben doch immer noch, dass Gott die Welt vor fünf- oder sechstausend Jahren erschaffen hat.
Dionysos: Nur die dummen.
Athene: Lassen wir die Amerikaner und fragen wir uns weiter: Wie steht es mit der Erklärung von Abläufen und Prozessen?
Apoll: In der Religion dominiert die Magie, in der Wissenschaft gibt es nur
Naturgesetze.
Aphrodite: Was ist Magie? Ich übe magische Anziehungskräfte auf männliche Wesen aus, Götter wie Menschen.
Dionysos: Dusolltestdichnichtsoüberschätzen. AberimErnst, deineAnziehungskraft wird magisch, wenn die Menschen dir unterstellen, dass du Zauberkräfte hast und die Naturgesetze außer Kraft setzt. Erklärt man deine Anziehungskraft so, wie es im Ästhetik-Kapitel und früher in Kap. 5 durch den Sexualtrieb versucht wurde, gibt es keine Zauberkraft. Kurzum, echte Magie setzt die Naturgesetze außer Kraft und erzielt ein Ergebnis außerhalb der Naturgesetze und sogar gegen sie. In der Religion gibt es Wunder, in der Wissenschaft nicht.
Athene: Gerade das macht der katholischen Kirche zu schaffen. Sie geht mit der Zeit und ist äußerst skeptisch gegenüber neuen Wundern. Aber um ein paar kommt sie nicht herum, da ist der Glaube des Christenvolkes zu stark.
Dionysos: Fatima und Lourdes, da gehen sogar die Päpste hin.
Apoll: Ein besonders wichtiger Unterschied ist das Verursacherprinzip. Religion und Naturwissenschaft bauen beide auf dem Kausalprinzip auf. Die Religion sieht hinter den Ereignissen das Wirken eines oder mehrerer Akteure. Dieser Deutung verdanken ja auch wir unser Dasein. Die Naturwissenschaften erklären Geschehnisse ohne Wirkung von Akteuren. Akteure sind nun nicht mehr notwendig. Diese Wende ist die entscheidende, sie vollzog sich bekanntlich nur langsam. Johannes Kepler und Isaac Newton vermuteten hinter den Naturgesetzten nach wie vor das Wirken Gottes, der sie geschaffen hat und aufrechterhält. Auch in der modernen Physik gibt es religiöse Deutungen, z.B. von Einstein, Pauli und Heisenberg, aber sie liegen außerhalb der Physik. Diese ist in sich geschlossen und verzichtet bei der Erklärung von Wirkungen vollkommen auf intentionale Akteure. Wenn sie beispielsweise fragt, was vor dem Urknall war, bleibt sie innerhalb ihres Erklärungssystems, ohne göttliche Eingriffe in Anspruch zu nehmen.
Athene: Daher bleibt der Wissenschaftler auch bei rein kausalen Erklärungen, die Religion fragt darüber hinaus nach dem Wozu und vermutet ein Endziel, auf das die Ereignisse hinlaufen, sie hat also immer auch eine finale Denkrichtung.
Apoll: Was ist eigentlich mit der Drei-Welten-Lehre von Karl Popper? Der Mann scheint mir ja auch nicht sehr fromm gewesen zu sein.
Athene: Die Religion gehört zur Welt II, die Wissenschaft zu Welt III.
Aphrodite: Naturwissenschaft und Welt III – das passt für mich zusammen. Aber Religion und Welt II. – wieso das? Das kapiere ich nicht. Was hat die Religion mit der Welt des Psychischen zu tun? Gott – und auch wir – sind doch nicht psychische
Begriffe.
Athene: Der monotheistische Gott und auch wir sind Erzeugnisse der Psyche des Menschen. Seine Ängste, Wünsche Größenvorstellungen projiziert er nach außen in Wesenheiten hinein, die er nach „seinem Bild und Gleichnis“ schafft, wie es in der Bibel heißt, nur dass der Prozess umgekehrt wie dort verläuft.
Apoll: Das erklärt auch, warum die Religion mit psychischen Begriffen arbeitet. Der Gott des Alten Testaments ist zornig, rachsüchtig, strafend, vergeltend und verlangt bei Todesdrohung, dass man nur ihn verehrt.
Aphrodite: Das ist bei uns griechischen Göttern nicht besser, wir zeigen alle guten und schlimmen menschlichen Eigenschaften, nur in vergrößertem Maßstab.
Apoll: Die Bewegungsrichtung geht bei der Religion von innen nach außen. Sie ist ein Ergebnis der Projektion, wie die Psychoanalytiker sagen würden. Bei den Naturwissenschaften verläuft die Bewegung von außen nach innen, denn die Wissenschaft will ja die äußere Realität verstehen und sie für die eigenen Gehirne zurechtschneidern. Die Psychoanalytiker würden von Introjektion sprechen.
Dionysos: Da gefällt mir die Unterscheidung von Aneignung und Vergegenständlichung besser. Religion wäre dann subjektivierende Vergegenständlichung, Wissenschaft objektivierende Aneignung. Puh, ich falle ganz aus meiner Rolle mit so abstrakten Begriffen.
Athene: Wobei es sich nur um Tendenzen handelt. Ob die Wissenschaftler wirklich objektivieren, also ihre Entwürfe nach der Realität konstruieren, oder ob es sich doch um subjektive Bilder von der Welt handelt, wissen wir nicht.
Apoll: Sie revidiert zumindest ihre Aussagen, wenn empirische Befunde ihnen widersprechen.
Aphrodite: Was ist nun? Hat die Religion endgültig ausgedient? Beides, Religion und Wissenschaft, sindmenschlicheKonstruktionen. Diewissenschaftlicheistderreligiösen leider haushoch überlegen.
Tab. 13.2 Gegenüberstellung von Religion und Wissenschaft
Merkmal
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Religion
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Wissenschaft
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Wahrheitsanspruch
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absolut
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revidierbar
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Prüfbarkeit
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nicht widerlegbar
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widerlegbar
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Erklärungsmuster
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magisch
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naturgesetzlich
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Verursacher
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Handelnde Akteure
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akteurlose Kausalwirkung
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Ursache (Causa)
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kausal und final
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kausal
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Dreiweltenlehre
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Zweite Welt
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Dritte Welt
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Inhalt
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psychische Begriffe
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Sachwissen
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Bewegungsrichtung
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von innen nach außen
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von außen nach innen
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Handlungstheoretische Erklärung
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subjektivierende
Vergegenständlichung
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objektivierende Aneignung
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psychoanalytische Erklärung
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Projektion
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Introzeption/Introjektion
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Entstehungsprozess
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Konstruktion
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Konstruktion
|
Apoll: Die Menschen werden nicht auf die Religion verzichten, es wird sie zu allen Zeiten geben. Sie ist zu tief in ihrer Evolution verwurzelt, und sie handelt mit den großen Gefühlen der Angst, der Erhabenheit, der Demut, der Geborgenheit.
Athene: Außerdem kann es sein, dass die Naturwissenschaften samt der Psychologie falsch liegen. In zwei Filmen, „Matrix“ und „Welt am Draht“ wird die Möglichkeit durchgespielt, dass das gesamte menschliche Zusammenleben und ihr gesamtes Wissen computersimuliert sind. Einigen Menschen gelingt es, in die höhere Realität aufzusteigen, doch ob dies die eigentliche Realität ist oder nur wieder eine Simulation, bleibt offen. Ein gewisser Christoph Pöppe stellte 2007 sogar die Frage „Ist das Universum ein Computer?“ und hat sich darüber in einem Spezialheft ausführlich geäußert. Erinnern wir uns an den Ausspruch von Susskind: „Viele Physiker haben den Versuch aufgegeben, unsere Welt als eindeutig zu erklären, als die einzige mathematisch mögliche Welt“. Dionysos: Das wird mir langsam unheimlich. Heimelig geht es nur in unserer menschlichen Götterwelt zu.
Alle: Noch sind wir alle fröhlich da – bei Nektar und Ambrosia.
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Kreativität – vom Individuum zum Universum 14
Wir sind gewohnt, Kreativität beim Menschen anzusiedeln. Wir sehen Kreativität als die höchste Gabe des Menschen an, denn mit ihr hat er seine Kultur geschaffen mitsamt allen Errungenschaften von Kunst, Wissenschaft und Technik. Kreativität ist in unseren Augen zunächst etwas Geistiges, nicht Fassbares. Deshalb sprechen wir auch von Intuition und Inspiration. Beide Ausdrücke legen nahe, dass uns Kreativität zufliegt, entweder von außen (als Inspiration) oder von unbekannter Herkunft aus unserem Innern (Intuition). Für unser Ziel der Zusammenführung von Evolution, Kultur und Ontogenese ist eine solche verengte Sichtweise nicht geeignet.
Wir beginnen unseren Streifzug zwar mit der Kreativität beim Individuum und seiner Entfaltung im individuellen Lebenslauf, befassen uns aber dann mit der engen Verflechtung von individueller Kreativität und Kultur, und werden danach Kreativität auch bei allen Lebensformen und schließlich im gesamten Universum ausmachen. Da es sich dabei nicht nur um eine Metapher handelt, gilt es von vorneherein eine Definition von Kreativität zu suchen, die diesem weiten Feld Genüge leistet. Dabei hilft uns der Vorschlag von Holm-Hadulla (2010) weiter, der Kreativität als Neukombination von Informationen kennzeichnet. Nehmen wir als Beispiel den Begriff „Glasberg“. Glas ist ein bekannter Begriff und Berg ebenso. Die Kombination beider Begriffe ergibt aber etwas Neues, ein Phantasiegebilde, das in der Realität nicht existiert. Zwei bekannte Objekte wurden zu etwas Neuem kombiniert. Mythen und Märchen sind Kreationen, in denen ständig solche Kombinationen vorkommen. Ein Beispiel auf hoher Ebene: Die Fallgesetze Galileis und die Keplerschen Gesetze der Planetenbahnen hat Newton mit dem Gravitationsgesetz vereint und damit etwas Neues kreiert.
R. Oerter, Der Mensch, das wundersame Wesen, 337
DOI 10.1007/978-3-658-03322-4_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
Die Definition von Kreativität als Neukombination von Informationen lässt sich durch den Ansatz von Gottlieb Guntern (1999) erweitern und vertiefen. Kreativität auf allen Ebenen kann als Wechselspiel zwischen Chaos und Ordnung verstanden werden. Guntern bezieht seine Kennzeichnung nur auf menschliche Kreativität, doch lässt sie sich auf alle Ebenen bis hin zum Mikro und Makrokosmos anwenden. Dies gilt auch für Gunterns systemische Sichtweise: Jeder kreative Prozess findet in einem System statt, in dem Chaos und Ordnung, Zufall und Gesetz, Freiheit und Strukturzwang, Spontaneität und Berechnung in vielfältigen, dauernd wechselnden Kombinationen am Werk sind.
14.1 Was wir kennen und bewundern: individuelle Kreativität
Bei der Beschäftigung mit der individuellen Kreativität können wir die Definition einengen. Es genügt, wenn wir sagen, Kreativität liegt dann vor, wenn ein Mensch etwas Neues zustande bringt, gleichgültig, ob dieses Neue bereits existiert oder gleichzeitig von anderen gefunden wurde. Neu muss es nur in der Erfahrung der kreativen Person selbst sein. Individuelle Kreativität lässt sich trotzdem objektivieren, indem man prüft, ob das Individuum tatsächlich seine Kreation selbst gefunden bzw. geschaffen hat.
Als die Sowjets 1957 als erste Macht den Sputnik ins Weltall schossen, herrschte in den USA große Bestürzung über diesen unerwarteten technischen Vorsprung. Es begann eine fieberhafte Beschäftigung der Psychologie mit kreativen Leistungen. Da die damals vorgelegten Forschungsergebnisse auch heute noch relevant sind, wollen wir wenigsten einige davon kurz kennenlernen.
Faktoren der Kreativität
Mit Hilfe von Kreativitätstests hat man versucht, kreative von weniger kreativen Personen zu unterscheiden (Guilford 1967a, b). Dabei ergaben sich für die Auswertung vor allem drei Gesichtspunkte: Flüssigkeit, Flexibilität und Originalität.
Die Flüssigkeit (fluency) kann man beispielsweise bei Sprachaufgaben messen, indem man die Versuchsperson bittet, möglichst viel Wörter zu einem gegebenen Reizwort (Stimulus) zu finden. Eine mehr auf das Handeln ausgerichtete Aufgabe besteht darin, möglichst viele Verwendungsmöglichkeiten für einen Ziegelstein zu nennen. Die Zahl der Nennung innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne ist das Maß für Flüssigkeit.
Flexibilität erfasst die Anzahl des Wechsels von Kategorien. Bei der Ziegelsteinaufgabe bestünde ein Kategorienwechsel beispielsweise darin, von der Nutzung als Baumaterial zur Nutzung als Untersatz für eine Figur und dann zur Nutzung als Schreib- oder Malgerät zu wechseln.
Die Originalität kann man schlicht durch den Seltenheitsgrad einer Antwort bestimmen. Lösungen, die nur von 5% einer Stichprobe geäußert werden, gelten als kreativ.
Daneben sind aber auch Qualität und Entferntheit einer Antwort Originalitätskriterien. Bei der Entferntheit einer Antwort muss beispielsweise zu zwei entfernten Begriffen ein dritter gefunden werden, der die beiden verbindet. Bei Baum und Brot wäre etwa Rinde ein verbindender Begriff, analog verbindet ,Holz‘ die Begriffe ,Nudel’ und ,Wolle‘, ,Gewicht‘ die Begriffe ,Eigen‘ und ,Heben‘. Die Qualität einer Antwort schließlich soll ausschließen, dass abstruse oder pathologisch bedingte Antworten den gleichen Kreativitätswert erhalten wie qualitativ hochwertige Antworten. Schlagzeilen und Bildunterschriften in guten Tageszeitungen zeichnen sich oft durch solche Originalität aus. „Leere statt Lehre“ ist die Bildunterschrift zu einem leeren Klassenzimmer, das wegen Unterrichtsausfällen leer steht (SZ vom 10. 2. 2012).
Weitere Kreativitätsfaktoren, die Guilford testete, sind: Elaboration, Sensitivität für Probleme und Neudefinieren. Am Anfang großer Erfindungen und Entdeckungen steht die Sensitivität für Probleme. James Watt hat wie Millionen anderer Menschen beobachtet, wie der Dampf den Kochdeckel hochhebt und sich aber dann als einer der ersten überlegt, ob man diese Kraft nutzen kann. Jean Piaget hat wie Millionen anderer Eltern seine eigenen Kinder beobachtet, aber daraus dann eine Theorie entworfen, die eine Revolution im Verständnis kindlicher Entwicklung bedeutete. „Neudefinieren“ ist eine kreative Leistung, bei der es darum geht, den gewohnten Gebrauch eines Gegenstands aufzugeben und ihn für neue Zwecke zu nutzen. So sollten Probanden angeben, aus welchem der folgenden Gegenstände man eine Nadel machen könne: Kohlkopf, Gewürz, Steak, Pappschachtel, Fisch. Es gelingt am besten mit einer Fischgräte. Andere Beispiele: Faden und Nagel können durch ihre Kombination als Lot verwendet werden, und das Gebläse eines Elektrobohrers kann als Fön für das Grillfeuer dienen. Unter „Elaboration“ verstand Guilford das Ausarbeiten von Einzelheiten nach vorgegebenen Gesichtspunkten. So sollten die Probanden einen Plan nach einer globalen Anweisung anfertigen oder ein komplexes Objekt aus vorgegebenen einfachen Elementen aufbauen. Ein Beispiel für Elaboration ist in Abb. 14.1 zu sehen. Vorgegeben ist ein einfaches Muster, z.B. zwei parallele senkrechte Linien (Abb. 14.1, erste Spalte). Diese Muster sollen nun zu Zeichnungen vervollständigt werden. Spalte a zeigt wenig kreative, Spalte b und c kreative Leistungen.
Eine Sonderform der Elaboration wäre die Entwicklung neuer Lösungsstrategien. So benötigte Albert Einstein für die Ausarbeitung der allgemeinen Relativitätstheorie neue mathematische Gleichungen, die Einsteinschen Feldgleichungen, bei deren Ausarbeitung er wesentliche Hilfe von Marcel Grossmann und David Hilbert erhielt (letzteren erwähnte er allerdings nicht einmal).
Die genannten Kreativitätsbereiche Flüssigkeit, Flexibilität, Originalität, Sensitivität, Neudefinieren und Elaboration werden auch als Kreativitätsfaktoren bezeichnet, weil sie auf Testleistungen basieren, die mit Hilfe der Faktorenanalyse analysiert wurden. Die Faktorenanalyse ist ein mathematisches Verfahren zur Reduktion der Einzelleistungen auf zugrundeliegende Dimensionen, eben den Faktoren. Die erfassten Faktoren sind also nicht beliebig ausgedachte Dimensionen, sondern das Ergebnis der Analyse von Kreativitätstests (Ähnlichkeitsbeziehungen der Einzelleistungen).
Abb. 14.1 Kreative (b, c) und nicht kreative Lösungen (a) bei Vervollständigung von Zeichnungen
Prozesse
Wasunsnatürlichjetztinteressiert, sinddieProzesse, diesolchekreativeLeistungen, wiesie soeben beschrieben wurden, zustande bringen. Welche Denkprozesse führen zu kreativen Leistungen? Wie steht es mit der Fähigkeit von Künstlern und Musikern, bildliche Darstellungen und Tongebilde zu erzeugen? Die Analyse zeigt, dass es sich um Prozesse handelt, die zunächst nicht zentral, d.h. durch eine übergeordnete Instanz gesteuert werden. Künstler imaginieren bildliche Vorstellungen, sie werden oft regelrecht von ihnen bedrängt. KomponistenhabenKlangvorstellungen, MelodielinienundRhythmenimKopfundfügen sie zu neuen musikalischen Mustern zusammen. Hier sind also wahrnehmungsnahe Imaginationen im Vordergrund. Künstler, Musiker und Dichter berichten, dass sie von Imaginationen (Bildern, Klängen, Sprachinhalten) regelrecht überwältigt werden. Gerade das Fließen der bildlichen und klanglichen Vorstellungen ist die Grundlage für neue Einfälle.
Im Bereich des Denkens hat man seit langem zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Formen unterschieden. Freud (1975) spricht von Primär- und Sekundärprozessen. Die Primärprozesse entstammen dem Es und somit dem Unbewussten. Ihnen geht es um die ungehinderte Erfüllung von Triebwünschen. Die Sekundärprozesse entstammen dem Ich und orientieren sich an der Realität. Sie sorgen dafür, dass das Individuum in der Gesellschaft mit ihren Normen überleben und sich anpassen kann. Der Psychiater Bleuler (1911) unterschied schon Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen realistischem und autistischem Denken. Realistisches Denken oder R-Denken ist realitätsorientiert und mit klaren Bewusstseinserlebnissen verbunden. Es gehorcht logischen Gesetzen, wenngleich natürlich Denkfehler auftreten können, und wird zentral gesteuert. Wir erleben es als „ich denke“. Das A-Denken orientiert sich nicht an der Realität, es tritt in Zuständen herabgesetzten Bewusstseins auf und unterliegt keiner zentralen Steuerungsinstanz. Es verläuft eher assoziativ, gelangt vom einen zum nächsten Inhalt und kümmert sich nicht um logische Abfolgen. Bildende Künstler, Schriftsteller und Komponisten geben sich dieser Art des Denkens mehr hin als der normale Bürger. Bei Kindern hingegen finden wir dieses Denken generell. Es entfaltet sich in den Spielphantasien ungehindert und bildet die Grundlage der Spielwelt, in die sich die Kinder begeben (s. Kap. 10).
Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Denkformen hat sich im Laufe der Psychologie-Geschichte fortgesetzt. Wichtig wurde seit der systematischen Kreativitätsforschung in den sechziger Jahren die Unterscheidung zwischen konvergentem und divergentem Denken (Guilford 1967b). Konvergentes oder diskursives Denken verläuft linear auf ein Ziel hin und wird Schritt für Schritt kontrolliert. Divergentes Denken verläuft nach verschiedenen Richtungen, lässt das Ziel offen und bewertet nicht sofort, ob das Denkergebnis brauchbar ist.
Die Computersimulation des Denkens führte zur Unterscheidung von sequenzieller und paralleler Informationsverarbeitung. Die Computerprogramme waren zunächst alle als lineare Algorithmen angelegt, d.h. das Programm verfolgte ein vorgegebenes Ziel nach einem aus einzelnen Schritten bestehenden Plan. Die Schritte folgten linear aufeinander. Die Auseinandersetzung mit Schrift- und Spracherkennung führte zur Notwendigkeit der Parallelverarbeitung von Information. Die Erkennung eines geschriebenen Buchstaben oder Wortes erfordert mehrere Auswertungsprozesse zugleich, bevor die Entscheidung getroffen werden kann, um was es sich handelt. Ein b vereinigt etwa die Prüfung nach Rundheit, die Verbindung von rund mit der Geraden, die Rechts-Links-Position sowie die Oben-Unten-Position. Das Erkennen der gesprochenen Sprache mit Hilfe des Computers gestaltet sich noch schwieriger, weshalb auch bis heute die Spracherkennungsprogramme noch zu wünschen übrig lassen. Beim kreativen Denken sind solche parallelen Verarbeitungsprozesse am Werk. Da sie gleichzeitig ablaufen, können sie nicht bewusst sein, denn unser Bewusstsein kann nur einen Vorgang bearbeiten oder – anders ausgedrückt – wir können immer nur einen Denkvorgang bewusst repräsentieren.
Nun können weder das A-Denken noch die Flut imaginativer Vorstellungen zu einem kreativen Leistungsergebnis führen, wenn nicht übergeordnete Steuerungsinstanzen, die Produkte dieser wenig oder nicht bewussten Prozesse aufgreifen und nutzen würden. Mit Hilfe der sogenannten TOTE-Einheit lässt sich das Zusammenspiel zwischen divergentem und konvergentem Denken, zwischen A- und R-Denken sowie zwischen sequenzieller und paralleler Verarbeitung darstellen. TOTE ist eine Abkürzung von Test-OperationTest-Exit und ist ein einfaches kybernetisches Modell der Informationsverarbeitung. In Abb. 14.2 ist kreatives und diskursives (konvergentes) Denken modelliert. Beim kreativen
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