Inhaltsverzeichnis Einleitung


Wie sieht die Welt da draußen aus? Anders als es uns die Evolution lehrt



Yüklə 2,08 Mb.
səhifə34/45
tarix26.07.2018
ölçüsü2,08 Mb.
#59660
1   ...   30   31   32   33   34   35   36   37   ...   45

13.4 Wie sieht die Welt da draußen aus? Anders als es uns die Evolution lehrt

Mesokosmos

Vollmer (2002) hat die Einteilung in Mesokosmos, Mikro- und Makrokosmos eingeführt. Nur im Mesokosmos sind wir zu Hause. Es ist dies die Welt, deren Größe wir noch überschauen. Wir haben schon die Vermutung geäußert, dass unsere Erkenntnis, die die Evolution für uns vorgesehen hat, sehr eng umgrenzt und teilweise falsch ist. Natürlich gibt es aber auch einen erkenntnistheoretischen Gewinn, den die Evolution uns Menschen beschert hat.

Wenn wir uns als Lebewesen verstehen, die sich organisch in die Gesamtentwicklung des Lebens einfügen, so brauchen wir nicht mehr um eine Erkenntnisposition zu ringen, die die Philosophen seit Jahrhunderten beschäftigt, nämlich die Frage, ob die Realität außerhalb von uns nur eine Konstruktion unseres Geistes ist oder ob sie unabhängig von uns existiert und bestimmten Gesetzen gehorcht. Dann gilt nämlich: Da wir Lebewesen wie andere Lebewesen sind, existieren wir in einer Welt, die „da draußen“ unabhängig von uns existiert und der es im Übrigen völlig gleichgültig ist, ob es uns gibt oder nicht, ob wir über sie reflektieren oder nicht.

Darüber hinaus lässt sich sagen, dass unser Erkenntnisapparat innerhalb des Mesokosmos gut funktioniert. Das muss er auch, denn der Mesokosmos ist die Welt, die wir überschauen können, die wir mit Händen greifen können und deren Gesetzmäßigkeiten wir zumindest teilweise vor aller Wissenschaft gut verstehen. Die Physikerin Lisa Randall sagt in einem Interview mit der SZ (9. Mai 2012): „Wir können alles direkt beobachten, was zwischen einem Millimeter und einem Kilometer groß ist. Dieser Bereich definiert den menschlichen Maßstab.“ Innerhalb dieses menschlichen Maßstabs können wir physikalische Gesetzmäßigkeiten gut verstehen. Der Werkzeugmacher der Steinzeit kannte physikalische Gesetzte, wie das Hebelgesetz, die Wirkung des Keils und des Messers, das Verständnis für weicheres und härteres Material (mit letzterem lässt sich ersteres bearbeiten) sowie das Gewicht und die damit verbundene Masse (z. B. der Zusammenhang zwischen der Größe eines Objekts und seinem Gewicht). Die Menschen kannten sich frühzeitig mit essbaren und giftigen Pflanzen aus, fanden Heilkräuter, versuchten sich in Wettervorhersagen, die in Wetterregeln einmündeten u. v. a. m.

VonderSäuglingsforschungistunsausKapitel9bereitsbekannt, daseseinangeborenes Wissen über eine Reihe von Sachverhalten gibt: Objektpermanenz, Lokalität von Objekten (wo sich bereits ein Objekt befindet, kann nicht ein anderes sein), das Verständnis intentionalen Handelns (eine Handlung wird einem intentionalen Akteur zugeschrieben), die Unterscheidung von lebendig und tot und die Erkenntnis von pro- und antisozialem Handeln. Im Grundschulalter konstruieren die Kinder das Verständnis der Invarianz von Menge, Gewicht und Volumen, sie entwickeln das Zeitkonzept der kontinuierlich ablaufenden einseitig gerichteten Zeit und können mit den vier Grundrechenarten auch dann operieren, wenn sie keine Schule besucht haben. Die transkulturelle Gültigkeit dieser Leistungen unabhängig vom Schulbesuch spricht für eine evolutionäre Ausstattung. Dabei ist allerdings nicht nur an ein Wissen zu denken, wie es sich im Säuglingsalter zeigt, sondern auch an die Fähigkeit für Konstruktionsleistungen, die dann kulturunabhängig zum gleichen Naturverständnis führen: Raum, Zeit, Kausalität. Wir können festhalten, dass unsere evolutionäre Erkenntnisfähigkeit gut in den Mesokosmos passt. Wir orientieren uns mit dieser Ausstattung nicht nur gut in der Welt, sondern fertigen auch brauchbare Werkzeuge, die uns die Natur untertan und uns zu den Herren der Schöpfung machen. Unsere Konkurrenten sind alle ausgestorben, entweder durch die Isolation von Gruppen in lebensfeindlichen Regionen oder durch andere missliche Umstände.

Der Mikrokosmos – und warum wir ihn nicht verstehen

Dass, was wir für feste Materie halten, wenn wir einen Gegenstand ergreifen, besteht fast nur aus leerem Raum. Unsere Sinne gaukeln uns eine Realität vor, die nach heutigem Wissen ganz anders beschaffen ist. Die Welt der Atome und Moleküle wird durch Gesetze der Quantenmechanik bestimmt. Dort herrschen märchenhafte Bedingungen, die unserem Alltagsverstand fremd sind. Teilchen sind zugleich Korpuskeln und Wellen. Sie können sich, solange man sie nicht misst, an beliebig vielen Stellen befinden. Man kann nicht zugleich Ort und Impuls von Teilchen bestimmen. Generell haben Teilchen zugleich viele Zustandsmöglichkeiten, die erst durch die Messung zu einem einzigen Zustand „kollabieren“. Am Beispiel des Elektrons, das um den Atomkern „kreist“, sei dies verdeutlicht. Das Elektron existiert erst dann, wie Dennis Overbye (1991) es pointiert formuliert, wenn wir es beobachten. Oder anders ausgedrückt, es befindet sich überall und nirgends zugleich. Das wohl verrückteste Phänomen der Quantenmechanik ist die Verschränkung(Zeilinger, 2008). Zwei zusammengehörige Teilchen wechselwirken über (vermutlich) beliebig große Abstände ohne Zeitverzögerung. Das eine Teilchen „weiß“, in welchem Zustand sich das anderebefindetundnimmtdenkorrespondierendenGegenzustandan. Derösterreichische Physiker Zeilinger hat den Verschränkungseffekt immerhin schon auf eine Entfernung von seinem Labor bis auf die andere Seite der Donau nachgewiesen. Feynman sagt deshalb: „Es gab eine Zeit, als Zeitungen sagten, nur zwölf Menschen verstünden die Relativitätstheorie. Ich glaube nicht, dass es jemals eine solche Zeit gab. Auf der anderen Seite denke ich, kann man mit Sicherheit sagen, niemand versteht die Quantenmechanik“. Die Realität des Mikrokosmos ist eine völlig andere, als sie unser gesunder Menschenverstand kennt.

Lassen Sie uns an dieser Stelle einen weiteren Exkurs in die moderne Physik machen, um zu verdeutlichen, wie heikel eigentlich das Thema Realität ist. Ich halte mich dabei an die Darstellung der Position von Penrose (1995). Die Realität wird auf der Quantenebene anders beschrieben als auf der makrophysikalischen Ebene. Auf der Quantenebene wird der Quantenzustand eines Elementarteilchens, z.B. eines Elektrons, das sich an zwei Stellen befinden könnte, beschrieben als

|ψ) = w|A) + z|B) (13.4)

Wobei w und z komplexe Zahlen sind (sie enthalten die imaginäre Zahl √−1) und A und B Orte bedeuten. Dabei können beliebig viele solche Orte in einem Zustandsvektor enthalten sein. In der Quantenwelt wird also der Zustand eines Elementarteilchens nach Penrose deterministisch und dazu noch in komplexer Linearkombination definiert. Das Elektron wäre in unserem einfachen Beispiel zugleich an Ort A und B. Die Gewichte w und z sind keine Wahrscheinlichkeiten, sondern, wie gesagt, komplexe Zahlen. Kein Wunder, dass Physiker die Realität solcher Zustände bezweifeln und ihnen häufig nur Modellcharakter zuschreiben. Kein Wunder, dass Physikstudenten große Schwierigkeiten haben, in diese merkwürdige fremdartige Welt einzudringen.

In dem Moment, in dem man zu messen beginnt, begibt man sich in die makrophysikalische Welt. Dort verwandelt sich der deterministische Quantenzustand in Wahrscheinlichkeiten. Der Zustandsvektor wird reduziert, wie Penrose es ausdrückt. Die auf der Quantenebene überlagerten Zustände w|A) und z|B) verwandeln sich nach bestimmten Regeln in Wahrscheinlichkeiten. Stellt man bei den Orten A und B Detektoren auf, dann ist das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit mit der der Detektor bei A anspricht, zur Wahrscheinlichkeit für das Ansprechen des Detektors bei B

|w|2 ÷ |z|2 (13.5)

wobei die Absolutquadrate dieser beiden komplexen Zahlen zu reellen Zahlen werden. Das Problem ist nun der Übergang von der Quantenebene zur Makroebene, denn man kann auf verschiedenen Ebenen und an verschiedenen Punkten messen. Welche Welt ist real? Die deterministische oder die probabilistische? Penrose entwickelt eine Lösung, die die Gravitation mit einbezieht. Dies ist in unserem Zusammenhang aber nicht von Interesse.

Ein anderes Beispiel, das sich unserem Alltagsdenken entzieht, ist die Beschreibung der möglichen Zustände, in denen sich ein System befindet. Man verwendet dazu den HilbertRaum, ein mathematisches Gebilde mit unendlich vielen Dimensionen, aber begrenzter Energie. Mit Hilfe der Mathematik wird in der Quantenmechanik eine Realität beschrieben, die unendlich viele Dimensionen hat und aus komplexen Zahlen (also kombiniert mit Wurzeln aus negativen Zahlen) besteht. Was soll man mit einer solchen Realität anfangen? Sind diese Konzeptionen nicht Hirngespinste, gedankliche Spielereien? Keineswegs, denn die Quantenphysiker beweisen, dass die Quantenmechanik präzise Vorhersagen erlaubt, die der empirischen Prüfung standhalten. Alle Teilchen, deren Existenz die Theorie fordert, wurden bislang auch nachgewiesen. Das Higg-Boson oder Higg-Feld, das sich bislang versteckt hielt, konnte nun endlich bei Versuchen im Large Hadron Collider bei Genf gefunden werden. Die fremde Welt des Mikrokosmos ist höchst real. Das heißt nicht, dass wir die Realität an sich erfassen, sondern dass Modelle vorliegen, die Aspekte der Realität abbilden. Einsteins Bemerkung, die wir an den Anfang dieses Kapitels gesetzt haben, beschreibt diesen Sachverhalt: „Eines hat mich die lange Erfahrung gelehrt: Unsere ganze Wissenschaft ist, mit der Realität verglichen, primitiv und naiv – und trotzdem ist sie das Wertvollste, was wir besitzen.“ Wer sich näher für die Geschichte der Zahlen im Besonderen und der Mathematik im Allgemeinen interessiert, dem sei Ifrah (2002) und Wußling (2008) empfohlen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Werke über die Geschichte der Mathematik. Ich weise auch nochmals auf die amüsante Darstellung von Guedj (2001) hin.

Der Makrokosmos, der uns über den Kopf wächst

Die Welt der kleinsten Teilchen und der Kräfte, die zwischen ihnen wirken, widersetzt sich unserem Verständnis. Das führt uns zu der Grundfrage zurück, wie es möglich war, unsere evolutionäre Erkenntnisbasis durch die wissenschaftliche Welterkenntnis zu überschreiten. Bevor wir eine Antwort versuchen, wollen wir noch einen Blick auf den Makrokosmos werfen. Hier scheinen die Dinge ja anders zu liegen. Dort gelten die Naturgesetzte der Makrophysik, nur dass die Größenordnung alle irdischen Maße übersteigt. Man meint zunächst, man müsse nur alles, was bei uns gilt, in die gewaltigen Dimensionen des Weltalls übertragen. So gehen die Physiker nach wie vor davon aus, dass die Naturgesetze, die wir hier auf unserem Planeten gefunden haben, überall und zu allen Zeiten gelten. So konnte Kepler die Bahnen der Planten berechnen. Dennoch stoßen wir bald an die Grenzen des Verständnisses. Sie beginnen bereits bei den Entfernungen. Ein Gedankenexperiment mag dies illustrieren. Der nächste Stern Alpha Centauri, ist 4,4 Lichtjahre von uns entfernt, das ist die Zeit, die das Licht braucht, um von dort zu uns zu gelangen. Nehmen wir an, wir wollten mit einem Raumschiff nach Alpha Centauri reisen und hätten eine Reisegeschwindigkeit von 30km pro Sekunde, das wären immerhin 108.000km Stundenkilometer. Die Lichtgeschwindigkeit ist mit 300.000km pro Sekunde aber zehntausend mal schneller. Also würden wir auch zehntausendmal länger brauchen, nämlich für die Strecke von einem Lichtjahr 10.000 Jahre. Zum nächsten Stern wären das also 44.000 Jahre. Das ist jenseits unserer Größenvorstellung. Und wenn man in die Größenordnung der Entfernung von Galaxien geht, die Millionen und sogar Milliarden Lichtjahre von uns entfernt sind, sieht es noch hoffnungsloser aus.

Aber die Entfernungen wären immerhin noch etwas, das man mit Modellen veranschaulichen kann. In Warnemünde kann der Kurgast das Sonnensystem durchwandern und sich vor Augen führen, dass bei einem Abstand der Erde von der Sonne von 150m man 1,4km bis zum Saturn und 5,8km bis zum Pluto zu gehen hat. Die Vorstellungskraft lässt uns aber völlig im Stich, wenn Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie bemüht werden. Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hat zur Folge, dass Masse und Zeit variieren. Je höher die Geschwindigkeit, desto langsamer verstreicht die Zeit und desto mehr wächst die Masse an. Bekannt sind die Gedankenspiele der Zeitdivergenz zwischen Raumfahrern und den Zurückbleibenden. Die mit hoher Geschwindigkeit reisenden Raumfahrer altern im Vergleich zu Erdbewohnern langsamer und kämen um wenige Monate oder Jahr älter zur Erde zurück, während dort Hunderte von Jahren vergangen wären. Noch abstruser erscheinen uns die Zeitverhältnisse an einem Schwarzen Loch. Ein Raumfahrer der sich dem schwarzen Loch nähert, stürzt mit immer größerer Geschwindigkeit auf diese „Singularität“ zu und verschwindet ohne Widerkehr. Ein äußerer Beobachter erlebt einen anderen Zeitverlauf. Je näher der Raumfahrer dem Schwarzen Loch kommt, desto langsamer verstreicht die Zeit. Sie bleibt schließlich ganz stehen, wenn er die Mitte des Schwarzen Lochs erreicht hat, denn dort ist die Masse laut Theorie unendlich. Das folgt aus dem Zusammenhang zwischen Masse und Zeit: je größer die Masse, desto langsamer verstreicht die Zeit. Für uns Menschen, die wir die Zeit nur als kontinuierlich und gleichmäßigverstreichendeEntitäterfassen, habensolcheAussagenMärchencharakter. Im Märchen ist auch alles möglich. Der große Unterschied der Physik des Mikro- und Makrokosmos zum Märchen besteht allerdings darin, dass man sich bei naturwissenschaftlichen Behauptungen auf empirische Evidenz stützt. Selbst die Zeitverzögerung ist bereits durch Versuche mit genau gehenden Atomuhren nachgewiesen worden.

Was aber unser Erkenntnisvermögen im Mesokosmos so suspekt macht, ist ein anderes Faktum: Mikro- und Makrosystem haben sich nämlich gewissermaßen hinter dem Rücken unserer vertrauten Welt miteinander verbündet. Mit Hilfe der Atomphysik und Quantenmechanik lassen sich Vorgänge im Makrokosmos erklären. Die Sonnenenergie wird erklärt als Fusion von Wasserstoffatomen zu Helium. Der Urknall, und was damals in winzigen Bruchteilen von Sekunden geschah, wird durch atomare Prozesse erklärt und als sukzessiver Aufbau der vier Grundkräfte: starke und schwache Kraft, elektromagnetische Kraft und Gravitation beschrieben. Alles passt zusammen, selbst wenn die „Theorie von allem“ immer noch nicht vorliegt.

Es sieht jedenfalls so aus, als würde die Realität, das „Ding an sich“ durch die Gesetzte des Mikro- und Makrokosmos besser abgebildet als durch unser mesokosmisches Weltbild. Letztlich leben also wir in einem Märchenland, das es „in Wirklichkeit“ so nicht gibt. Obwohl es in diesem Märchenland manchmal stürmisch und gefährlich zugeht, fühlen wir uns doch im Großen und Ganzen geborgen. In diesem Märchenland gibt es Götter und Heilige, die uns beschützen. Draußen im unwirtlichen Mikro- und Makrokosmos lassen sich Götter und Heilige nicht mehr platzieren. Bleiben wir also im heimischen Mesokosmos und machen es uns gemütlich. Allerdings sollten wir auch hier die physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten kennen, die in unserer Welt gelten. Nur dann können wir uns diese Welt bewahren. Die drohende Klimakatastrophe, die Übervölkerung, dieschonungsloseAusbeutungunseresPlanetenlassensichmitwissenschaftlichen und technischen Mitteln angehen. Aber selbst hier in der vertrauten Welt des Mesokosmos holen uns unheimliche Gegebenheiten ein. Zum Beispiel benötigt, wie schon gesagt, die Elektrotechnik das Rechnen mit komplexen Zahlen, die eigentlich nur eingebildet, imaginär existieren dürften.

Erklärung unserer Denk- und Erkenntnisleistung

Wir haben die Metapher des Märchens gewählt, um den Eindruck vom Blick auf die Welten des Mikrokosmos und Makrokosmos zu umschreiben. Genauso könnten wir von Science Fiction oder vom Mythos sprechen. Märchen entspringen der Phantasie genau wie Entwürfe von Welten und mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Eine Wurzel für das Hinausreichen unserer Erkenntnis in die fremden Welten des Kleinsten und des Größten ist die menschliche Phantasie. Sie kann sich in der Wissenschaft so richtig austoben, sofern sie sich an die vereinbarten Regeln der Logik hält und Aussagen liefert, die überprüfbar sind. Die Fähigkeit, sich Neues, Unwahrscheinliches, Unmögliches auszudenken, ist beim Märchen, beim Mythos, bei der Mathematik und Physik die gleiche. Während Märchen nirgendwo tabuisiert sind und Mythen die abstrusesten Geschichten erzählen dürfen, müssen Annahmen über die Wirklichkeit in den Naturwissenschaften schwierige Hürden nehmen. Sie dürfen nicht etwas behaupten, was gegen die herrschende Religion verstößt. Sie müssen in Diktaturen ihre Aussagen dem Willen des Potentaten anpassen und sie müssen manchmal im Untergrund arbeiten. Deshalb bedarf es ökologischer Nischen, in denen sich Mathematik als abstrakte Wissenschaft, Physik, Chemie und Biologie als Aussagensysteme über Realität entwickeln können. Für das Abendland und seine wissenschaftliche Entwicklung haben wir eine solche Nische im alten Griechenland ausmachen können. Freies Denken wurde möglich, und eine bestimmte privilegierte Gruppe genoss Narrenfreiheit, Ideen zu verkünden, die gängigen religiösen und Alltagsvorstellungen widersprachen. Diese freie Rede war eine Art Spiel, dessen Spielregeln in der Einhaltung logischer Schlussfolgerungen bestanden.

Der entscheidende Schritt für ein wissenschaftliches Verständnis der Natur bestand in der Etablierung der Mathematik um 600 v. Chr. Im Gegensatz zu der im Vorderen Orient und in Ägypten praktizierten Mathematik, die sich ebenfalls schon auf hohem Niveau befand, löste sich die griechische Mathematik von der Realität und machte allgemein gültige Aussagen unabhängig vom konkret-anschaulichen Fall. Kreise, Rechtecke und Winkel wurden ohne Anwendungsaspekt als idealisierte Gebilde betrachtet. Diese Art des mathematischen Denkens festigte dann Euklid mit seinem sechsbändigen Werk. Fortan wurde die Mathematik nur noch axiomatisch betrieben, das heißt, in Form der Bildung streng logisch-deduktiv aufgebauter Strukturen. Alle Aussagen wurden von Axiomen ableitetet, die am Anfang standen.

Auf diese Weise entstanden im Laufe der Jahrhunderte die verrücktesten Gebilde, die außer der Logik und der stringenten Beweisführung an keine Vorschrift gebunden waren. So konnten sie sich völlig von der Realität – und es war ja immer nur die verzerrte Realität des Mesosystems – lösen, mit beliebig viel senkrecht aufeinander stehenden Dimensionen rechnen, imaginäre Zahlen nutzen, mit Unendlichkeiten verschiedener Mächtigkeit umgehen und unendlich viele Schritte in der Integral- und Differenzialrechnung einführen. All das gibt es in der Realität des Mesosystems nicht, aber es stellte sich heraus, dass sich die Mathematik als Instrument für die Beschreibung der Naturgesetze hervorragend eignete. Auch diese Erkenntnis kam gleich zu Beginn der Entstehung der Mathematik als axiomatische Wissenschaft auf. Wie bereits dargelegt, haben Pythagoras und seine Schule





Abb. 13.3 Die Überwindung evolutionärer Erkenntnisgrenzen durch günstige kulturelle Voraussetzungen und den Surplus an Denkfähigkeit

die Mathematik als die Sprache der Natur angesehen und behauptet, alles in der Natur könne durch Zahlen beschrieben werden.

Als dann die Physiker der Renaissance begannen, die Natur mit mathematischen Formeln zu beschreiben und Naturgesetze in mathematischer Sprache zu formulieren, war der Bann gebrochen. Fortan traten die Naturwissenschaften, allen voran die Physik einen Siegeslauf an, der sich immer mehr beschleunigte. Dabei erwiesen sich auch ganz lebensund vorstellungsferne mathematische Gebilde als vorteilhaft, wie etwa der Hilbert-Raum mit unendlich vielen Dimensionen aber begrenzter Energie für die Quantenmechanik.

Als Fazit können wir festhalten: Die Mathematik und Naturwissenschaften belegen, dass Kulturen nicht auf die evolutionären Voraussetzungen reduziert werden können. Wir müssen unseren gesunden Menschenverstand, der sich auf unser evolutionäres Wissen gründet, aufgeben, ja oft regelrecht gegen ihn ankämpfen, um zu höheren Erkenntnisniveaus zu gelangen. Es gibt faktisch nur zwei Gaben der Evolution, die die Entwicklung der Erkenntnis bis heute begünstigen: der Überschuss an intellektueller Kapazität und das Spiel. Mit ersterem konnten anti-intuitive Ideen geboren werden, mit letzteren gelang die Konstruktion von Fiktionen fernab von der Alltagsrealität. Dass diese Fiktionen mehr über die Realität aussagen als unser gesunder Menschenverstand, ist das Wunderbare an der Kulturgeschichte der Menschheit.

Abbildung 13.3 veranschaulicht den Zusammenhang von Evolution, Kultur und Individuum bei der Entwicklung der Wissenschaften. Die Evolution hat uns nur mit einem Verständnis und einer Theorie für den Mesokosmos ausgestattet. Das Vordringen in den

Mikro- und Makrokosmos verdanken wir günstigen kulturellen Bedingungen: 1) Freisetzung für so etwas Unnützes wie spielerisches Denken, 2) Gewährung von Denkfreiheit. Unter diesem günstigen Wachstumsklima können wir unsere Überschuss-Ressourcen an Denkfähigkeit einsetzen und uns in Spielhaltung mit Fragen und Themen beschäftigen, die außerhalb des Alltagslebens der Gesellschaft und des Einzelnen liegen. Auf diese Weise konnten wir den Mikro- und Makrokosmos aufbauen und darüber hinaus erkennen, dass mit Gesetzen des Mikrokosmos auch die Entstehung des Makrokosmos erklärt werden kann.



Resümee

Nur in unserer Welt, wo noch der Mensch das Maß aller Dinge ist, reicht unser Alltagsverständnis aus. In diesem „Mesokosmos“ kommen wir zurecht. Der Vorstoß in den Mirko- und Makrokosmos führte zu Ergebnissen, die jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegen. Während wir in unserem Mesokosmos die Welt vom Millimeterbereich bis zum Kilometerbereich überschauen, reicht die Welt von unvorstellbaren 1035 bis 1028 m. „Wer behauptet, die Quantenwelt zu verstehen, hat sie nicht verstanden“, sagt Feynman. Das merkwürdige vierdimensionale Gebilde der Raumzeit ist uns nur durch Bilder zugänglich (ein Gummituch, das durch die Anwesenheit von Masse eingedellt wird), Bilder, die letztlich falsch sind. Susskind, theoretischer Physiker, ist davon überzeugt, dass unsere Erkenntnisfähigkeit die Wirklichkeit niemals zu erfassen vermag. In einem Interview mit Byrne (2012) äußert er: „Wir sind Gefangene unserer neuronalen Architektur. Manche Dinge können wir uns anschaulich vorstellen, andere nicht“ (op. cit., S. 50). Und: „Viele Physiker haben den Versuch aufgegeben, unsere Welt als eindeutig zu erklären, als die einzige mathematisch mögliche Welt“ (op. cit., S. 51). Dennoch ist es den Naturwissenschaftlern mit Hilfe der Mathematik gelungen, unsere biologischen Denkbarrieren zu überwinden und in fremdartige, ja schaurige Welten vorzudringen. Wohlfühlen können wir uns nur in unserer Welt, für deren Wahrnehmung und Verstehen uns die Evolution ausgestattet hat.

Die folgende Geschichte von einem Mathematiker und einem Ingenieur verdeutlicht auf ironische Weise, wie der Mathematiker die evolutionären Schranken unserer Vorstellungsfähigkeit überwindet.

Beispiel

Ein Ingenieur und ein Mathematiker sitzen zusammen in einem Vortrag über Stringtheorien, die sich mit 10 und11 Dimensionen befassen. Der Mathematiker genießt die Vorlesung, während der Ingenieur immer verwirrter und frustrierter wird. Als der Vortrag zu Ende ist, sagt er zum Mathematiker: „Wie kannst du nur dieses schreckliche

Zeug verstehen?“

Mathematiker: „Ich stelle mir das Ganze einfach vor.“

Ingenieur: „Wie kannst du dir bloß einen 11-dimensionalen Raum vorstellen?“ Mathematiker: „Nun, ich stelle mir einen n-dimensionalen Raum vor und lasse dann n gegen 11 gehen.“
13.5 Wie kommt das Neue in die Welt? Die Kreativität des Einzelnen und des Kollektivs

Hochkulturen ermöglichen die Entstehung von Wissenschaften und damit einen Erkenntnisgewinn, der jenseits evolutionärer Ausstattung liegt. Aber Erkenntnisse entstehen nicht von selbst, sie müssen entwickelt und konstruiert werden. Es sind immer Einzelpersonen, denen qualitative Sprünge in der Erkenntnis gelingen, und häufig sind es nicht die Namen, die wir kennen. Ob Thales die mathematischen Sätze selbst formuliert hat, ob er wirklich die Sonnenfinsternis vorausgesagt und die Höhe der Pyramiden errechnet hat, ist unsicher. Zu allen Zeiten neigt man dazu, griffige Stories zu erzählen, die einen einzigen als Helden und Genie herausheben. Oft bleiben Erfinder und Entdecker anonym. Bei Pythagoras ist man mit Zuschreibungen schon vorsichtiger und attribuiert die Erkenntnisse den Mitgliedern der pythagoreischen Schule.

Wie kommen aber einzelne Menschen zu ihrer neuen Erkenntnis? Sie benötigen zweierlei: das zuvor entwickelte und bereitgestellte kulturelle Wissen und die Chance, es sich anzueignen. In einem Brief schreibt Isaac Newton: „Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe“. Sein Ausspruch wird meist zitiert als „Das Genie steht auf den Schultern von Riesen.“ Die Personen, die im Laufe einer langen Geschichte wissenschaftliche Ideen zusammengetragen haben, werden vereint zu Riesen, wenn man ihr Gesamtwerk überblickt. Nun kann die Kreativität des Einzelnen einsetzen, der Neues zustande bringt. Die großen Namen in der Naturwissenschaft, wie Galileo Galilei, Johannes Kepler, Isaac Newton, James Clerk Maxwell, Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Richard Feynman und viele andere, haben das moderne Gesicht der Physik geprägt. Auch sie bauen auf anderen Forschern auf. Viele sind anonym geblieben, obwohl ihr Verdienst genauso groß ist wie das von berühmten Forschern.

Heute scheint die Weiterentwicklung der Wissenschaft nicht mehr so sehr an Einzelnamen gebunden. Naturwissenshaften sind in ihren Fragestellungen so weit vorgedrungen, dass nur noch riesige finanzielle Aufwendungen und eine große Zahl von Mitarbeitern Fortschritte erbringen. Die Mitgliedstaaten von CERN stellen 3.150 Mitarbeiter (Stand 31. Dezember 2010; CERN Personnel Statistics 2010). Das European Southern Oberservatory (ESO) wird von 15 Staaten unterhalten und hat 400 Mitarbeiter. Das jährliche Budget beträgt 95 Mio. €. Das Very Large Telescope besteht aus vier 8,2m-Teleskopen, die miteinander verschaltet sind; größere Teleskope sind in Planung. Der enorme technische Aufwand, den Forschung heute benötigt, vereinigt Techniker und Wissenschaftler zu einer Erkenntnismacht, wie sie bisher noch nie dagewesen ist. Obwohl jede neue Entdeckung neue Fragen aufwirft, können nun Probleme angegangen werden, die man früher für unlösbar hielt. Die Masse macht’s! Aber in Wahrheit trägt jeder einzelne von Hunderten und Tausenden von Mitarbeitern für das Gelingen bei. Nach wie vor ist es die Kreativität einzelner Personen, die den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht. Daher ist es geradezu zwingend, dass wir uns im nächsten Kapitel mit Kreativität beschäftigen.

Aber zwei Aspekte der individuellen Voraussetzung für Neues sollen schon jetzt diskutiert werden: Intelligenz und Bildung. Wir haben bereits in Kap. 8 evolutionäre, kulturelle und individuelle Bedingungen der Intelligenz kennengelernt. Dort war auch von einem massiven Anlagefaktor der Intelligenz die Rede. Wenn sich gute intellektuelle Voraussetzungen mit guter Bildung paaren, steigen die Chancen für die Weiterentwicklung menschlicher Erkenntnis beträchtlich. Wir benötigen heute viel mehr helle Köpfe als früher. Denn nur die Vereinigung und Kooperation von Vielen bringt uns weiter. Dies gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern für alle Bereiche des Lebens.

Es besteht kein Zweifel, dass es um die Bildung nicht gut bestellt ist. Hohes Bildungsniveau reproduziert sich über die soziale Schicht. Deutschland tut sich dabei besonders hervor. Immer noch gehört es zu den Ländern, in denen niedrige soziale Herkunft den Zugang zur Bildung am meisten blockiert (PISA I, II, III). Wenn wir gleiche Bildungschancen für alle geschaffen haben, bleibt immer noch die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen Erkenntnisse zu vermitteln, die menschliche Kultur in Jahrtausenden aufgebaut hat. Wie wir in Kap. 9 bereits erfahren haben, gibt es gravierende Hürden beim Wechsel von der intuitiven zur wissenschaftlichen Physik, Chemie und Biologie. Es dauert Jahre, bis Kinder ihre naive Sicht aufgeben, und viele Erwachsene kommen nie über intuitives Wissen hinaus. Es dauerte sehr lange, bis sich die Schrift entwickelte, aber Kinder lernen Lesen und Schreiben innerhalb von zwei Jahren. Die Barrieren in den Naturwissenschaften hängen mit den Barrieren zusammen, die uns die Evolution auferlegt hat. Wir haben kulturell diese Barrieren überwunden und die Evolution ausgetrickst, aber individuell spielt sich das Ringen um Erkenntnis jedes Mal neu ab, wenn ein Kind in das Reich der Mathematik und Naturwissenschaft hineinwächst.

Man könnte noch vieles tun, um diese Grenzüberschreitung zum wissenschaftlichen Denken und Erkennen besser zu ermöglichen. Ein Beispiel: Die Kinder haben in der Grundschule regelmäßig Religionsunterricht und lernen die Mythen des Alten und Neuen Testaments. Aber sie haben nicht parallel oder gar stattdessen Unterricht in der Evolutionstheorie und in der geologischen Geschichte der Erde. Erst im Jugendalter werden die Heranwachsenden etwas genauer über den jetzigen Erkenntnisstand informiert, was dazu führt, dass sie mit der Religion für immer brechen. Bezüglich der anti-intuitiven Wissenschaften hat Resnick (1994) eine eigene Didaktik gefordert, da es beim Übergang von intuitiven Vorstellungen zu anti-intuitivem Denken große Barrieren gibt.


Yüklə 2,08 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   30   31   32   33   34   35   36   37   ...   45




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©muhaz.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

gir | qeydiyyatdan keç
    Ana səhifə


yükləyin