Inhaltsverzeichnis Einleitung



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12.3 Resümee

Der Zusammenhang zwischen Evolution und Kultur lässt sich aufgrund der hier ausgewählten Aspekte sowie auch anderer soziologischer Ansätze (Luhmann 2000; Luckmann 1963) folgendermaßen darstellen. Religion hat sich in der menschlichen Evolution als vorteilhaft für den Erhalt der Gruppe erwiesen. Insbesondere große Gemeinschaften profitieren von der Religion als Anker gemeinsamer Überzeugungen und moralischer Vorschriften. Die Religion bindet die Individuen in eine moralische Gemeinschaft, wie es Graham und Haidt (2010) ausdrücken. Dieser funktionelle Vorteil erklärt aber nicht die Entstehung religiöser Vorstellungen. Sie müssen schon vorhanden sein, damit sie in einer Gruppe Fuß fassen können. Die besonderen Eigenarten der menschlichen Psyche, wie das Bewusstsein der Endlichkeit, die Unterwerfung unter einen Führer, die Erklärung von Phänomenen durch die Wirkung von Akteuren sowie Erlebnisse der Ich-UmweltVerschmelzungführenzureligiösenKonstruktionen, sodasssichnebenderRepräsentation der „realen“ Welt eine zweite geistige Welt aufbaut, die transzendent, jenseits des Irdischen angesiedelt wird. Die Säkularisation, die wir im Laufe der letzten Jahrhunderte erfahren haben, transformiert zwar die Inhalte dieser zweiten Welt, lässt aber die Struktur bestehen. Naturwissenschaftliche Erklärungen sind daher ebenfalls religiöser Natur in einem ausgeweiteten Sinne, sie beschreiben und erklären etwas, was hinter den Erscheinungen

liegt, mit Hilfe einer zeichenhaften Repräsentation. In der naturwissenschaftlichen Welt liefert die Mathematik das Zeichensystem, in der Religion sind es die Mythen sowie auch die rationalen Erklärungsmuster. So hält das Christentum viel auf die rationalen Begründungszusammenhänge seiner Religion. Wenn eine Religion ihre Funktion als Gesellschaft erhaltende und stabilisierende Kraft verliert, wird sie aufgegeben und weicht einer neuen „Religion“. Diese Perspektive betont die Unausweichlichkeit gegenüber religiösen Phänomenen. Wir müssen glauben, wie viele Forscher betonen, ob wir wollen oder nicht. Selbst wenn Religion in der Evolution als überflüssiges Beiwerk, mehr oder minder durch Zufall entstanden wäre, kann sie genauso wenig aufgegeben werden wie der Blinddarm, der für unseren Stoffwechsel überflüssig ist.

Ob man der Evolution ein Schnippchen schlagen und Religion (im weitesten Sinne des Wortes) herausoperieren kann wie den Blinddarm, werden wir im Kap. 13 über Wissenschaft diskutieren. Immerhin hat die Naturwissenschaft zwei Prinzipien aufgegeben, die in alle Religionen strukturell verankert sind, nämlich dass die Entstehung von etwas, dem Sein, durch Akteure bewirkt wird und dass Entwicklungen auf ein Ziel gerichtet sind. Naturwissenschaften erklären die Entstehung von etwas nicht durch intentional handelnde Akteure und verzichten auf finale Erklärungen.



12.4 Ontogenese: Wie sich Religiosität beim Einzelmenschen entwickelt

Bindungsverhalten (attachment) und Religion

Gandqvist und Kirkpatrik (2004) haben sich mit dem Bindungsverhalten des Menschen beschäftigt und geprüft, ob Bindung und religiöses Erleben und Verhalten zusammenhängen. Die Annahme eines solchen Zusammenhanges ist plausibel. Die Bindungstheorie nimmt an, dass das Kind zwischen 12 und 15 Monaten zu einer Person eine Bindung aufnimmt, die ihm Sicherheit gewährt und von der aus die Erforschung der Umwelt gewagt werden kann. Das Kind entwickelt ein internes Arbeitsmodell, wie die Bindungsforscher sagen, d.h. eine Vorstellung darüber, wie man selbst im Schutz der sozialen Bindung, die im Regelfall die Mutter gewährt, in der Welt Fuß fassen kann. Das interne Arbeitsmodell ist das erste Menschenbild des Kindes. Bei sicherer Bindung ist dieses Menschenbild positiv und die Bindungsperson bietet allumfassend Schutz. Bei unsicherer Bindung ist dieser Schutz nicht gewährleistet, das Menschenbild unklar (s. Kap. 5 und Kap. 8).

Grandqvist und Kirkpatrik (2004) wenden das Bindungsmodell nun auf die Religion an. Gott wird zur transzendenten Bezugsperson, bei der man Schutz finden kann wie einstmals bei der Mutter (oder Pflegeperson). Die Beziehung zu Gott ähnelt der Bindungsbeziehung in der frühen Kindheit. Sicher Gebundene müssten daher eine vertrauensvollere religiöse Beziehung zu Gott haben als unsicher Gebundene. So gibt es z.B. einen Zusammenhang zwischen Konversionen und Bindungstyp. Stürmische und abrupte Bekehrungserlebnisse findet man häufiger bei unsicher Gebundenen. Sie nutzen den Glaubenswechsel als Verarbeitungsmechanismus für emotionale Belastung, die durch Bindungsunsicherheit entsteht. Die Bindungstheorie erklärt nach Ansicht der Autoren auch, warum Konversionen vor allem im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter auftreten. Es ist dies die Zeit, in der sich auch das Bindungsverhalten ändert. Man löst sich emotional von der früheren Bindung an die Eltern und nimmt neue Bindungen auf, wobei sich häufig der Bindungstyp wiederholt. Für sicher Gebundene wird auch die neue Beziehung zur sicheren Bindung, während unsicher Gebundene auch in der neuen Beziehung häufig das Modell der unsicheren Bindung replizieren. Konversionen bilden also eine Parallele zum Bindungswechsel im Sozialverhalten.

Schließlich stellen die Autoren auch noch eine Beziehung zu Stress und Belastung her. Ähnlich wie das Kleinkind bei Stress Zuflucht bei der Mutter sucht, wird Gott in Stressund Notsituationen angerufen. Gott als Bindungsperson gewährt in ähnlicher Weise Hilfe wie einst die Mutter oder der Vater.

Die Hypothese der Bindungstheorie als Fundament für Religiosität klingt verlockend, orientiert sich aber am Monotheismus. Bindung wäre dann die vorrationale quasi biologische Fundierung für Religion. Was ist mit den Tiergottheiten und vielarmigen, wenig menschenähnlichen Göttern? Können sie wie der unsichtbare Gott des Christentums als Bindungspersonen fungieren? Prinzipiell ja, wenn man unterstellt, dass auch menschenunähnliche Wesen für Bindung ausgewählt werden können. Dies ist tatsächlich der Fall, was die Bindung von Menschen an Tiere zeigt. Kinder haben oft eine engere Bindung zu ihrem Hund als zu den Eltern und bevorzugen ihn als Vertrauten, dem man seine Probleme erzählen kann (Hölzle 2009).

In der individuellen Entwicklung dürfte das Bindungsverhalten die erste Quelle für Religiositätdarstellen. AberBindungsverhaltendeterminiertnatürlichnichtvollständigdieReligiosität. Sicher Gebundene können auch Atheisten werden. Der Bindungsansatz als frühe Grundlegung für religiöses Denken und Fühlen schlägt den Bogen zur Evolution. Wie wir in Kap. 5 dargelegt haben, ist Bindungsverhalten im Laufe der Hominidenevolution entstanden. Sobald Homo zu Vorstellungsleistungen fähig war, die die Konstruktion von Religion ermöglichte, konnte die Bindungserfahrung auch für religiöse Praktiken genutzt werden. Darum befassen wir uns nun mit geistigen Voraussetzungen für die Konstruktion von Religionen. Sie sind nicht zu verwechseln mit den oben genannten psychischen Eigenarten des Wissens um die eigene Endlichkeit, der Suche nach Ich-Umwelt-Verschmelzung etc.



GeistigeVoraussetzungfürdieKonstruktionvonreligiösenVorstellungen

UmsichübernatürlichWesenzukonstruieren, bedarfeskognitiverFähigkeitenbesonderer Art. Man muss eine fiktive Welt erfinden bzw. verstehen, die nicht die vorgestellte reale, durch Wahrnehmung nachprüfbare Welt ist. Man muss sich Wesen vorstellen können, die die real möglichen Gegebenheiten übersteigen, und man muss Glaubensüberzeugungen dafür aufbringen, dass solche Welten und Wesen tatsächlich existieren. Im Gespräch der



Tab. 12.2 Gemeinsame Strukturmerkmale von Spiel und Religion

Merkmal

Spiel

Religion

Fiktive Realitätskonstruktion

Deutungsrahmen für Handlung

Deutungsrahmen für Gesamtexistenz

Allmacht

Phantasien der eigenen Allmacht

Projektion der eigenen erwünschten Allmacht

Ritual

Rituale im Spiel

Rituale im sakralen Raum und

privat


Magie

Spiel überwindet physikalische Gesetze

Wunder überwinden

physikalische Gesetze



Subjektivierung (nach eigenem „Bild und Gleichnis“)

Konstruktion der Spielwelt

Konstruktion übernatürlicher

Wesen


zugewiesen Herkunft

von innen

von außen

Himmlischen wurde in Kap. 10 bereits die Rolle des Spiels als Wegbereiter der Religion diskutiert. Sucht man in der menschlichen Entwicklung nach geistigen Fähigkeiten und Leistungen, die der Konstruktion religiöser Strukturen nahe kommen, so findet man sie im kindlichen Spiel. Tabelle 12.2 stellt Strukturmerkmale von Spiel und Religion gegenüber.

Wir haben in beiden Fällen, im Spiel und in der Religion, die Konstruktion einer vorgestellten Welt vor uns; die jenseits der realen Welt liegt. Sie bildet im Spiel den Deutungsrahmen für die Handlung, in der Religion bildet sie den Deutungsrahmen für die Gesamtexistenz. Ein zweites Kriterium ist das Konzept von großer Macht beziehungsweise von Allmacht. Kinder entwickeln im Spiel, wohl aufgrund ihrer häufigen Erfahrung von Ohnmacht, Allmachtsphantasien. Sie selbst oder Spielfiguren können alles, was das Herz begehrt, sie überwinden die Schwerkraft, zaubern, sind die Stärksten oder Schönsten und führen alles zu einem guten Ende. Auch in den Religionen geht es um die Macht und Allmacht. Sie bildet die Ursache dafür, dass man sich Hilfe erbitten kann. Rituale als herausgehobene Handlungsmuster mit besonderer Bedeutung, etwa ihrer magischen Wirkung, gibt es im Spiel wie in den Religionen. Sie sind die symbolträchtigen Zeichen für das Besondere, nicht Alltägliche, im Spiel für die fiktive Wunschwelt, in der Religion für das Sakrale. Beiden Bereichen ist auch das magische Denken gemeinsam. Mit Magie ist hier die Methode gemeint, die außerhalb und in Überwindung der Naturgesetze ihr Ziel erreicht. Für das Kind ist Magie im Spiel der direkte Weg zum Ziel, es gibt keine naturgesetzlichen Zwischenschritte. In der Religion spricht man von Wundern. Wunder sind definiert als Effekte, die naturwissenschaftliche Gesetze missachten oder negieren. Kein „Wunder“, dass die katholische Kirche bei neuen Wundern sehr skeptisch ist und wunderwirkende Heilige, die in der Gegenwart leben, mit Unbehagen zur Kenntnis nimmt.

Die Subjektivierung, die wir als basale menschliche Handlungskomponente kennengelernt haben, verändert die Welt in der Vorstellung nach eigenem Gusto, und formt sie in eine fiktive Welt um, die den eigenen Anliegen, Wünschen und Bedürfnissen entspricht. Diese Vorgehensweise erfüllt im Spiel das zentrale Anliegen der Lebensbewältigung, wie in Kap. 10 dargestellt, und dient auch in der Religion der Lebensbewältigung. Nirgendwo ausgeprägter als im Christentum wird Gott nach menschlichem Ebenbild als drei Personen in einer Person erschaffen, das Menschliche wird ins Unendliche geweitet. Hier stellt sich die Verbindung zur soziologischen Perspektive von Durkheim (1912) und Feuerbach (1849) her.

Allerdings gibt es am Ende einen entscheidenden Unterschied zwischen Spiel und Religion. Die Herkunft der Spielwelt wird als eigene Konstruktion erkannt. Die sakrale Welt jedoch wird als von außen, von „oben“ kommend verstanden und geglaubt. Ohne diesen Glauben könnten Religionen nicht die positive moralische und gesellschaftsstabilisierende Wirkung erzielen. Aus heutiger Sicht wäre es jedoch wichtig, die Herkunft des Religiösen als menschliche Konstruktionen bewusst zu machen, was übrigens den Glauben an ein Jenseits, eine Transzendenz, nicht aufhebt oder ausschließt.

Noch eine Randbemerkung zu der beliebten Methode, Gott von Kindern malen zu lassen, um etwas über ihr religiöses Verständnis zu erfahren. Diese Methode ist schlichter Unsinn. Würde man Erwachsene um solche Zeichnungen bitten, so würden sie den Forscher für geisteskrank halten. Warum also Kindern etwas zumuten, dass sie genauso wie die Erwachsenen nicht bildhaft realisieren können?

Die tiefe Verwurzelung von Spiel und Religion in der menschlichen Evolution kommen nicht von ungefähr. Die mentalen Voraussetzungen für beide Lebensbereiche sind die gleichen. Höchst wahrscheinlich hat das Spiel in der Menschheitsgeschichte die Konstruktion von Religionen gefördert. Denn gedankliche Spekulationen über die Welt und uns selbst sind ja eine Art Spiel mit Vorstellungen und Gedanken. Da sie im realen Leben und Überleben keine Rolle spielen, wären religiöse Ideen ohne eine Spielhaltung des Als-Ob, des Was-wäre-wenn, vermutlich nicht entstanden.



Religion als Ergebnis der Sozialisation

Während wir also die kognitiven Leistungen, die zur Konzeption von Religionen führen, im Spiel des Kindes wiederfinden, stammen die religiösen Inhalte von der Sozialisation. Das Wissen vom Jenseits, von Gott über das biblische Geschehen wird von den Eltern und der Schule vermittelt. Wie aber entsteht daraus religiöser Glaube, religiöse Überzeugung? Auf diese Frage geben die Theorien der Einstellungsforschung (Attitude-Forschung) Antwort. Einstellungen und Wertüberzeugungen bestehen aus drei Komponenten, einer kognitiven, einer affektiven und einer behavioralen (Verhaltens-)Komponente. Der kognitive Anteil wäre in unserer Thematik das Wissen über und die Begründung für religiöse Aussagen und Vorschriften. Die affektive Komponente betrifft die Emotionen, die mit der religiösen Werthaltung verbunden sind. Religiöse Überzeugungen werden nicht nur für richtig, sondern auch für wertvoll gehalten. Sie sind positiv emotional besetzt und rufen feindselige Regungen hervor, wenn sie lächerlich gemacht oder angegriffen werden. Die affektive Komponente kann unterschiedliche Emotionen wie Ekstase, Geborgenheit, Gemeinschaftsgefühl, Hoffnung, Freude und Dankbarkeit, aber auch Angst in sich vereinen.

Die behaviorale Komponente religiöser Wertüberzeugungen bezieht sich auf die religiösen Praktiken, wie Gebete, Gottesdienste, Opferungen, Teilhabe an Riten und insgesamt auf einen mehr oder minder religiös bestimmten Lebenswandel. Nun könnte man erwarten, dass die religiöse Sozialisation von der kognitiven zur affektiven und schließlich zur behavioralen Komponente fortschreitet. Erst sollte man die Inhalte der Religion kennenlernen, dann bewerten und schließlich religiöse Praktiken übernehmen, wenn man die Inhalte für richtig und gut hält. Der Weg religiöser Sozialisation verläuft aber gerade umgekehrt. Das Kind übernimmt erst die Praktiken, es lernt beten, wird zur Kirche mitgenommen, nimmt Weihwasser oder übt im Islam die Gebetshaltung. Solche Praktiken werden zu Gewohnheiten (habits) und sind schließlich fest verankert im kindlichen Leben. Damit baut sich auch die affektive Komponente religiösen Erlebens auf. Religiöse Feste werden zu positiven Erfahrungen und die Unterlassung gewohnter Praktiken flößt Unbehagen ein. Religion wird zu einem positiven, manchmal auch negativen Bestandteil der Identität. Bei vielen Menschen besteht die affektive Komponente aus einer Mischung von positiven und negativen Emotionen. Die negativen Emotionen können in der Kindheit mit der Länge der Gottesdienste, im Erwachsenenalter mit dem Diktat von Kirchenoberhäuptern zu tun haben. Erst mit Eintritt ins Schulalter beginnt die religiöse „Belehrung“, aber auch da zunächst in Form der Vermittlung von Katechismuswahrheiten und biblischen Geschehnissen. Die Vorbereitung auf die Firmung bzw. Konfirmation arbeitet eher explizit mit der Vermittlung religiösen Wissens. Themen wie Gottesbeweise, Beweis der Auferstehung Christi kommen, wenn überhaupt, in der Oberstufe des Gymnasiums zur Sprache. Das bedeutet, dass religiöse Sozialisation sehr geschickt vorgeht. In einer säkularen Gesellschaft schmilzt dennoch die Gruppe religiöser Menschen, die sich an offizielle Lehrmeinungen halten, immer weiter zusammen.

Religion im individuellen Leben

Wie wirkt sich Religiosität im individuellen Leben aus? Ist sie schädlich oder nützlich, ist sie sinnstiftend? Zunächst gilt es zwischen extrinsischer und intrinsischer Religiosität zu unterscheiden (Allport und Ross 1967). Die intrinsische Religiosität durchdringt mehr oder weniger das gesamte Leben, sie ist verinnerlichte Religiosität (daher die Bezeichnung ,intrinsisch‘); man beschäftigt sich mit religiöser Literatur und ist Mitglied von Gruppen gleicher religiöser Überzeugung. Die intrinsische Religiosität wird um ihrer selbst willen praktiziert, es werden keine egoistischen Vorteile erwartet. Intrinsisch Religiöse fühlen sich geborgen, sie haben einen transzendenten Bezug, stellen jedoch keine Ansprüche an die transzendente Macht.

Bei der extrinsischen Religiosität dient die Religion als Mittel zum Zweck. Man will sich denHimmelverdienen, durchGebetepersönlicheZieleverwirklichenundsuchtHaltinder religiösen Gemeinde. Religion wird eigennützig und instrumentell eingesetzt. Sie hat keine Relevanz für das Leben im Alltag und orientiert sich an institutionellen Vorgaben, die nicht hinterfragt werden. Die Kirchenmitgliedschaft existiert als gesellschaftliche Institution.

Es leuchtet ein, dass sich beide Formen in ihren Auswirkungen beträchtlich unterscheiden. In einer Metaanalyse von Batson und Ventis (1982) wurden 67 Untersuchungen verglichen. Davon erbrachten 37 einen negativen Zusammenhang zwischen Religion und Gesundheit. Religiöse waren weniger gesund als nicht Religiöse. 15 Untersuchungen fanden einen positiven und 15 gar keinen Zusammenhang. Das Bild änderte sich aber deutlich, wenn man zwischen extrinsisch und intrinsisch Religiösen trennte. Die intrinsisch Religiösen fühlten sich gesünder (positiver Zusammenhang zwischen Religiosität und Gesundheit), die extrinsisch Religiösen kränker (negativer Zusammenhang zwischen Religiosität und Gesundheit).

Donahue (1985) sammelte ebenfalls Untersuchungen, die zwischen intrinsisch und extrinsisch Religiösen trennte. Orthodoxie korrelierte merkwürdigerweise mit intrinsischer Religiosität. Plausibler erscheint der Zusammenhang von religiösem Engagement und religiöser Verpflichtung mit intrinsischer Religiosität, ebenso der Befund, dass Frauen höhere Werte bei der intrinsischen Religiosität haben als Männer. Zwingmann (1991) untersuchte den Zusammenhang zwischen Religiosität und Lebenszufriedenheit. Die Lebenszufriedenheit korrelierte positiv mit intrinsischer und negativ mit extrinsischer

Religiosität.

Überblicke über neuere Forschungsergebnisse finden sich in Grom (2009) und Bucher (2007). Einige der Befunde seien im Folgenden genannt.

Religiöse (vor allem intrinsisch religiöse) Menschen haben im Durchschnitt einen niedrigeren Blutdruck, seltener Depressionen oder Suizidgedanken, sind insgesamt gesünder und haben daher auch eine höhere Lebenserwartung. Wohlbefinden und Glück sind größer als bei Nichtgläubigen. Ein strafender Gott lässt die Gläubigen allerdings eher krank werden. Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden sind auch nach jüngeren Befunden bei intrinsisch Religiösen höher als bei extrinsisch Religiösen. Die Ursachen für diesen Effekt sind indirekter und eventuell auch direkter Natur. Neben einer gesünderen Lebensführung (wie etwa dem Fasten) scheint der Glaube auch direkt Einfluss auf die Biochemie von Gehirn und Körper zu nehmen. Religiöse Freigeister würden sagen: gesund aber dumm. Sie irren aber insofern, als Religiosität nicht mit Intelligenz korreliert.

Unsere Alltagserwartungen suggerieren, dass Religiöse weniger Angst vor dem Tod habenalsnichtReligiöse. BefundezeigenaberüberhauptkeineUnterschiede. Eineumfangreiche Studie erbrachte, dass Atheisten, Agnostiker und überdurchschnittliche Religiöse weniger Angst vor dem Tod als „mittelmäßig“ Religiöse hatten. Eine andere Untersuchung fand, dass Buddhisten generell weniger Angst als Christen haben und auch weniger Angst vor dem Tod als Gläubige anderer Religionen. Dies wurde aber in anderen Studien widerlegt.

Wenn Religiosität allerdings in Fundamentalismus einmündet, entstehen deutlich negative Auswirkungen:



  • Konservativismus: Beibehaltung von traditionellen Werteinstellungen, auch wenn sie falsch oder entwicklungshemmend sind.

  • Intoleranz, antiliberale Haltung: die Meinung Andersdenkender wird abgelehnt und bekämpft.

  • Autoritarismus: Hierarchien von tonangebenden Autoritäten werden bevorzugt. Ihr Urteil gilt mehr als Vernunft-Argumente.

  • Eintreten für strenge Strafen, einschließlich der Todesstrafe: aus der Haltung von Intoleranz und Autoritarismus ergibt sich zwangsläufig eine ausgeprägte Strafmoral.

Wie aber steht es mit der Mehrzahl der Bevölkerung, die religiös gleichgültig ist und die der Religion in einer säkularisierten Welt keinen Platz einräumt? Man kann bei dieser Frage zwei Positionen einnehmen. Die eine wäre die Hypothese, dass Religiosität, wie jedes andere Merkmal, variiert. Menschen mit geringer Ausprägung von Religiosität passen sich der säkularisierten Gesellschaft an und beschäftigen sich nicht mit transzendenten Fragen. Die zweite Position lässt sich in der Annahme formulieren: Religiosität verschwindet nicht, sondern wird transformiert und drückt sich im Alltagsverhalten in bestimmten Bereichen aus. Diese zweite Annahme erscheint plausibler. Daher wollen wir uns mit ihr näher beschäftigen.

Naheliegend sind Verhaltensformen, die mit Esoterik zu tun haben. Man sucht das Geistige, das Wunderbare, Okkulte und Mystische außerhalb der institutionalisierten Religionen, bevorzugt einen spirituellen Erkenntnisweg vor dem naturwissenschaftlichen Denken und nutzt bestimmte Praktiken, um neue andersartige Erfahrungen zu sammeln. DiealljährlichstattfindendengroßenEsoterik-AusstellungenfindenzahlreichenZuspruch, wobei die Palette esoterischen Glaubens von einem umfangreichen Überzeugungssystem, wie der Theosophie, bis zum Glauben an die Wunderwirkung von Steinen oder Gewürzen reicht. Esoterik hat gegenüber tradierten Religionen den Vorteil, dass man mehr Freiheitsgrade besitzt und beliebig auswählen kann, was einem liegt. Insofern wäre Esoterik ein religiöses Angebot, das dem westlichen Individualismus entgegen kommt.

Es gibt aber noch andere Verhaltens- und Denkformen, hinter denen man zunächst überhaupt nichts Religiöses vermutet. Es handelt sich um Angebote, die Verschmelzungserlebnisse unterschiedlichster Art ermöglichen. Verschmelzung als die Erfahrung des Einsseins von Ich und Umwelt, von Freud als ozeanische Gefühle bezeichnet, beinhaltet ein religiöses Erlebnis, denn sie gehört spätestens seit der kulturellen Revolution vor vierzigtausend Jahren zu den religiösen Praktiken. Wie bereits oben dargestellt, vermittelt Meditation die Aufhebung der Schranken zwischen Ich und Umwelt. Kein Wunder, dass Meditationsseminare ausgebucht sind. Trotzdem ist Meditation nicht der wichtigste Faktor für Verschmelzungserlebnisse in modernen Gesellschaften. Fast täglich gibt es neue Angebote, die Verschmelzungserlebnisse versprechen. Ein großer Trend in den letzten Jahren ist die Wellness-Bewegung. Hotels und Fremdenverkehrsorte übertrumpfen sich mit Angeboten. Das körperliche Wohlbefinden bei gleichzeitigem Abschalten der Alltagssorgen wird bevorzugt von jungen Erwachsenen gesucht. Viele Sportarten bieten ebenfalls Verschmelzungserlebnisse, allem voran das Schwimmen im warmen Wasser. Wasser umgibtdenKörperundwirdinschwereloserUmgebungalsunmittelbarsteUmweltberührung erfahren. Aber auch Wellenreiten, Skifahren, Windsurfen, Drachenfliegen vermitteln besondere Erlebnisse des Einswerdens mit der Umwelt. Selbst hinter dem Reisen verbirgt sich die Suche nach quasi-religiöser Erfahrung. Das Aufsuchen fremder Länder und die Kontakte mit neuen Welten verringern die Distanz des Ich zur Welt. Eine Weltreise ermöglicht symbolisch die Vereinigung mit der gesamten Welt.

Schließlich ist noch die Musik als Mediator für religiöse Erlebnisse in der modernen Welt zu nennen. In den Diskos erfahren Jugendliche Sinneserlebnisse, bei denen Musik in hoher Lautstärke mit intensiven Lichtsignalen und Bewegung vereint sind und Verschmelzungserlebnisse ermöglichen. In Rock- und Popkonzerten kommt noch das Massenphänomen der simultanen Bewegung und des gemeinsamen Glücksgefühls von Tausenden von Jugendlichen hinzu. Selbst die Besucher klassischer Konzerte erleben nicht nur einen Höreindruck, sondern fühlen sich „entrückt“ und mit der Musik verschmolzen. Damit wir jederzeit und allerorts Verschmelzungserlebnisse haben können, versorgt uns dieKonsumgesellschaftmitiPodsundCD-Playern, dieunsvonderAußenweltabschirmen und das Eintauchen in eine Klangwelt besonderer Art vermitteln.

Religiosität verschwindet nicht, sondern wird in profane Praktiken transformiert.


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