Inhaltsverzeichnis Einleitung


Konditionierung und ästhetische Vorlieben



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Konditionierung und ästhetische Vorlieben

Ein Lernmechanismus, der weit in die Tierwelt hinabreicht, ist die Konditionierung. Die sog. klassische Konditionierung verbindet eine biologisch vorhandene angeborene Reakti-


on mit einem neutralen Reiz in der Weise, dass der neutrale Reiz die angeborene Reaktion auslöst, ohne dass der ursprünglich auslösende Reiz zugegen sein muss. Wenn in GegenwarteinerPersonmiteinembestimmtenGesichteinSchreckreflexodereineAngstreaktion ausgelöst wird, so kann der Anblick des Gesichtes bereits Angst einflößen, ohne dass die ursprünglichen Auslöser (lautes Geräusch, Schläge oder andere Schmerzreize) am Werk sind. Umgekehrt kann ein Gesicht in Gegenwart angenehm wirkender Reize von sich aus nach einigen Koppelungen mit dem positiven Reiz Lust, Freude und Vergnügen auslösen. Die Gesichter und Gestalten der Eltern, Großeltern und anderer Bezugspersonen, die dem Kind Bedürfnisbefriedigung und Lust verschaffen, werden auf diese Weise attraktiv, ihr Anblick löst Freude aus. Sie wirken deshalb auch „schön“ in einem weiteren Sinne.

Die klassische Konditionierung wird in den meisten Fällen ergänzt durch die operante Konditionierung. Unter ihr versteht man die Tendenz, ein Verhalten, das Erfolg (Lust, Belohnung) brachte, beizubehalten. Nähert sich das Kind beispielsweise Eltern oder Großeltern, erfährt es Belohnungen vielfacher Art: Zuwendung, Unterhaltung, Geschenke. Das Aufsuchen attraktiver Personen wird also zusätzlich belohnt. Beide Konditionierungsformen bewirken auch die Wertschätzung der Heimat, der Landschaft, in der man aufgewachsen ist, sofern man mit ihr schöne Kindheitserinnerungen verbinden kann. Heimat hat für viele aus diesem Grund ästhetische Qualitäten. Dabei dürfte aber die Erinnerung wichtiger sein als der reale Anblick der früheren Heimat. Nur in der Vorstellung muss sie schön sein. Wenn man sie nach Jahren wieder sieht, ist man oft enttäuscht.



Bindung und Ästhetik

In der frühen Entwicklung entsteht universell in allen Kulturen das Bindungsverhalten zwischen Baby und Mutter bzw. Pflegeperson. Dieses Bindungssystem, das mit etwa einem Jahr – je nach Kultur auch später – auftritt, gewährt zweierlei, einerseits die Sicherheit und Geborgenheit bei der Bindungsperson, andererseits das Explorationsverhalten, das von der sicheren Bindung aus risikofrei oder doch risikoarm gestartet werden kann (s. auch Kap. 4). Für das Kind ist die Bindungsperson die attraktivste Person. Freilich sind hier emotionale Gebundenheit und Ästhetik untrennbar miteinander vermischt, doch lässt sich nicht leugnen, dass Kinder (und später Erwachsene) Bindungspersonen schön finden. Es darf daher nicht verwundern, dass später die Eltern ein Vorbild oder Gegenbild bei der Partnersuche werden können. Während Freud (1938) noch annahm, dass aufgrund der frühen sexuellen Beziehung zum gegengeschlechtlichen Elternteil dieser nur Vorbild sein könne und positiv bewertet würde, zeigen empirische Untersuchungen, dass elterliche Modelle auch als Gegenbild dienen können, der Partner/die Partnerin muss anders sein als die eigenen Eltern. Dies hängt wohl mit der jeweiligen Lebensgeschichte und mit den Erfahrungen zusammen, die man im Jugendalter, bei dem es um Ablösung von den Eltern geht, gesammelt hat.

Toman(1965)untersuchteeinegroßeZahlvonFamilien. Unteranderemprüfteerauch, ob die Geschwisterposition einen Einfluss auf die Partnerwahl ausübt. Tatsächlich gibt es eine statistisch gesicherte, wenn auch schwache Tendenz, dass jüngere Geschwister Partner/innen suchen, die in der Geschwisterreihe an erster Stelle stehen, und umgekehrt, dass Ältere in der Geschwisterreihe Jüngere bevorzugen. Hier werden frühere Beziehungsmuster übernommen. Da aber Partnerwahl (vor allem bei Männern) allemal mit ästhetischer Attraktivität zu tun hat, kann man auch hier davon ausgehen, dass die Ausbildung des ästhetischen Geschmacks mit Erfahrungen in der Kindheit zusammenhängt.

Prägung

Konrad Lorenz fand bekanntlich, dass junge Graugänse während einer sensiblen Phase ihrer Entwicklung auf dasjenige Lebewesen als Bezugstier geprägt werden, das sie zu sehen bekommen. Im Falle der Untersuchungen von Lorenz (1935) war dies Lorenz selbst, der zum Erstaunen der Nachbarn im Garten herumhüpfte und von jungen Graugänsen verfolgt wurde. Prägungen gibt es auch beim Menschen. Wir wollen den Begriff in einem ausgeweiteten Sinne auf den Erwerb von Geschmacksrichtungen anwenden.

Ein relativ bekanntes Phänomen besteht in der ästhetischen Präferenz von bestimmten Gütern, denen man zu einem bestimmten Zeitpunkt im Lebenslauf begegnet ist. Der ästhetische Geschmack wird bezüglich mancher Bereiche, vor allem der Musik und bildlichen Darstellung, in einem bestimmten Lebensalter geprägt. Diese „Prägung“ findet jedoch nicht, wie man erwarten könnte, in früher Kindheit, sondern im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter statt (s. hierzu Oerter 2007). So hält man gewöhnlich an dem Musikgeschmack fest, den man im Jugendalter aufgebaut hat. Siebzigjährige bevorzugen den Big-Band-Sound als Unterhaltungsmusik, weil es die Musik ihrer Jugend war; Fünfzigjährige mögen Rock’n’Roll usf. Dieser Gedächtniseffekt für ästhetische Präferenzen wurde mehrfach bestätigt. Er trifft nicht nur für Musik, sondern auch für visuelle Eindrücke, wie Bilder und Filme, zu. Dabei sollten zwei miteinander interferierende Einflüsse unterschieden werden, zum einen die sensible Periode selbst, zum andern eine generelle Einstellung gegenüber der Vergangenheit (Nostalgie). Während der Effekt der „Prägung“ ästhetischer Präferenzen als relativ stabil angesehen wird, variieren Personen stärker auf der NostalgieEinstellung. Manche bewerten die gute alte Zeit als besser im Vergleich zur Gegenwart, andere tun dies weniger.

Für den Prägungseffekt werden zwei Erklärungen angeboten: Erstens entsteht durch die bloße Gegenüberstellung mit einem Reizmuster (Musik, Filmstar) unter Umständen bereits ein Prägungseffekt, zweitens wird als zusätzliche Bedingung das Vorhandensein starker positiver Emotionen während des prägenden Lebensabschnittes angenommen. Letzteres scheint plausibel, denn die Begegnung mit Musik und Filmen bildet bei den meisten eine besonders schöne und mit stark positiven Emotionen versehene Erfahrung. Eine bloße Assoziation würde die „Prägung“ während der Jugendzeit auch nicht hinreichenderklärenkönnen. DabeiistdasPrinzipderklassischenKonditionierungamWerk, da die positiven Emotionen (unbedingte Reaktion) mit dem ästhetischen Stimulus (bedingter Reiz) gekoppelt werden.



Körperselbstbild und Ästhetik

Das Jugendalter stellt die Etappe im menschlichen Leben dar, in der Evolution, Kultur und die eigene Identitätsbildung aufeinander stoßen. Von der Evolution stammen die Anforderungen für sexuelle Attraktivität, von der Kultur spezifische Definitionen für körperliche Schönheit und von den Jugendlichen selbst eigene Vorstellungen und Ziele für den Körper. Es kommt daher zu einem Körperselbstbild, das sich bei beiden Geschlechtern deutlich unterscheidet und das sich im Laufe der Jugendjahre wandelt.

Bei der Ästhetik des weiblichen Körpers dominiert das kulturelle Schönheitsideal der Schlankheit, um nicht zu sagen, des Untergewichts. Bei erwachsenen Frauen gibt es eine Vorliebe für mädchenhaftes Aussehen, während die Jungen frühzeitig ein männliches und nicht ein jungenhaftes Aussehen bevorzugen. Es nimmt nicht wunder, dass bei Mädchen die Unzufriedenheit mit dem Gewicht ansteigt, denn unsere Kultur propagiert ein Schlankheitsideal und das bekannte Taillen-Hüften-Verhältnis von 0,7. Je älter die Mädchen werden, desto weniger steht der Wunsch abzunehmen in direkter Beziehung zum realen Gewicht. Gewichtsabnahme ist bei Mädchen allemal mit Zufriedenheit gekoppelt, währendsiebeiJungenfastausschließlichnegativbewertetwird. Mädchenscheinenzudem ein differenzierteres Körperkonzept als Jungen zu haben. Alle Untersuchungen belegen eindeutig, dass Mädchen viel häufiger als Jungen ein eher negatives Körperselbstbild besitzen. In Tagebuchanalysen ergab sich bei Mädchen, dass sich 28% aller Eintragungen von 13- bis 15-Jährigen mit dem eigenen Körper (Mode, Gewicht und Aussehen) befassten. 82% davon bezogen sich auf eine negative Sicht des Körpers und auf Körperbeschwerden. Die Unzufriedenheit bezieht sich aber weniger auf das Gesicht, sondern hauptsächlich auf die Körperproportionen (die Forschungsliteratur zu diesem Thema findet sich in Oerter und Dreher 2008).

Da die Hauptthematik des Jugendalters die Ausbildung einer eigenen Identität ist, darf es nicht wundernehmen, dass die Ästhetik des eigenen Körpers dabei eine große Rolle spielt. Es gibt auch eine Wechselwirkung zur Geschwindigkeit der Geschlechtsreife. Langsam reifende Jugendliche (Retardierte) sind mit ihrem Aussehen weniger zufrieden als früh Reifende (Akzelerierte), die sich als erwachsen wahrnehmen und im sozialen Kontext auch als solche behandelt werden. Mit zunehmendem Alter gibt es Veränderungen. Jugendliche der späteren Adoleszenz (16 bis 18 Jahre) zeigten größeres Vertrauen als Jüngere in ihre körperliche Selbstdarstellung und eine geringere Abhängigkeit vom Urteil anderer (Oerter und Dreher 2008).

Kommen wir nochmals auf den Zusammenhang zwischen Evolution, Kultur und Ontogenese zurück. Bei Mädchen überdeckt der Einfluss der Kultur den der Evolution, denn dünne Frauen waren in der Frühgeschichte des Menschen wohl wenig gefragt (man denke an die dicken Schenkel der Venus von Wilmersdorf und die füllige Figur der Venus von Hohle Fels). Evolution und Kultur stehen für Mädchen im Widerspruch, für Jungen hingegen nicht. Bei ihnen dominiert die Evolution: Größe und Kraft sind die Ideale. Das rührt natürlich auch daher, dass diese Merkmale ebenso in der Kultur favorisiert werden und daher kein Widerspruch zwischen Evolution und Kultur besteht.

Ästhetische Entwicklung: Aneignung

Wenn wir die individuelle Entwicklung des Ästhetischen ins Auge fassen, müssen wir zwischen Aneignung und Vergegenständlichung unterscheiden. Im ersteren Falle geht es um die Wahrnehmung und Beurteilung des Ästhetischen, im letzteren Falle um die Schaffung ästhetischer Objekte, also um musisch kreative Produktivität. Bei beiden werden wir Beziehungen zur Evolutionsästhetik und zur Kultur herstellen. Zunächst sollen einige Merkmale der ästhetischen Entwicklung bei der Aneignung dargestellt werden.



Parsons et al. (1978) erfassten die Entwicklung des ästhetischen Urteils anhand von 300 Interviews, die sie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durchführten, denen sie Gemälde verschiedener Maler zur Beurteilung vorlegten (unter anderem Picasso, Goya, Renoir, Albright, Chagall). Parsons und Mitarbeiter folgerten aus ihren Befunden, dass im Laufe der Entwicklung eine Dezentrierung der individuellen Präferenzen und eine Zunahme sozial-kultureller Orientierung stattfinden. Sie unterscheidet fünf Stufen oder Etappen:

  1. Subjektive Präferenz. Kinder beurteilen ein Bild nur nach der persönlichen Vorliebefür Farbe und Inhalt.

  2. Schönheit und Realismus. Auf dieser Stufe werden Bilder als schön bezeichnet, dieschöne Darstellungen zeigen und realistisch gemalt sind.

  3. Expressivität. AufdieserEbenewollenKinderundJugendlichewissen, wasderKünstlerausdrücken wollte. Das Urteil löst sich vom Inhalt des Bildes.

  4. Stil und Form. Hier wird die Interpretation des Bildes in den historischgesellschaftlichen Zusammenhang eingebettet. Der persönliche Eindruck wird mit der sozio-kulturellen Sicht verknüpft.

  5. Autonomie. Ästhetische Urteile gründen sich nun nicht länger auf die Autorität deskulturell zugewiesenen ästhetischen Wertes, vielmehr werden der Diskurs um das betreffende Bild und sein historischer Stellenwert nun selbst Gegenstand der Reflexion.

Nun bezieht sich diese Entwicklung des Ästhetischen nur auf die die Beurteilung von Bildern. Nevers et al. (2006) haben bei Kindern und Jugendliche die ästhetische Beurteilung der Natur untersucht, indem sie Dilemma-Geschichten über die Natur zu Diskussion stellten, letzteres im wörtlichen Sinne, denn die Autoren benutzten die Methode der Gruppendiskussion. Die Kinder beschrieben ihr Verständnis von Natur. Die Äußerungen ließen sich klassifizieren als: ,anthropomorph‘ (Vorgänge und Erscheinungen werden vermenschlicht dargestellt), ,mechanistisch‘ (die Natur funktioniert wie Maschinen) und ,instrumentell‘ (die Natur dient unseren Zwecken). Das Ästhetische der Natur zeigte sich bei den Kindern in vier verschiedenen Bewertungskategorien:

  1. Schönheit der Natur. Die Autoren fanden eine Reihe von Äußerungen der Kinder überdie Schönheit der Natur. Sie ließen sich der Einteilung von Neumaier gut zuweisen, der zwischen drei Arten von Schönheit unterscheidet: Schön ist etwas, das wir begehren, schöne Dinge finden wir reizend/wunderbar und schön ist etwas, das wir bewundern, ohne es begehren zu wollen.

  2. Ästhetisieren als Moralisieren. Hier werden moralische Argumente Teil des Ästhe-tischen. Die Schönheit der Natur wird zum Hauptargument ihrer Bewahrung und ihres Schutzes. Schönheit ist gut und bereichert das eigene Leben. Sie erfüllt uns mit Dankbarkeit. Ein gutes Leben ist ohne die Schönheit der Natur nicht möglich.

  3. Natur als Lebensbereicherung. Die Natur und das eigene Leben stehen zueinander inBeziehung. Manche Kinder sehen die Ähnlichkeit von Natur mit dem menschlichen Leben. Natur wird vermenschlicht (anthropomorphisiert). Schöne Menschen sind wie schöne Blumen, hässliche Menschen wie Unkraut. Ohne Pflanzen würden wir verrückt werden. Die schöne Natur ist Voraussetzung für ein schönes, erfülltes Leben.

  4. Natur als Atmosphäre. Dieser von Böhme (1995) eingeführter Aspekt des Ästhetischen betont die Sinnlichkeit des Schönen (oder Hässlichen) vor aller rationalen Beurteilung. Natur hat eine nicht lokalisierbare ökologische Ästhetik, die als Aura oder Atmosphäre unmittelbar auf die Sinne wirkt. Sie erzeugt eine Stimmung von Freude, Entzücken, Trauer, Trostlosigkeit usw. Kinder beziehen sich in diesbezüglichen Äußerungen z.B. auch auf den Duft von Bäumen und Blumen.

Bei der Ästhetik der Natur wirken also offensichtlich sowohl Evolutionseinflüsse als auch kulturelle Faktoren mit. Die Schönheit und Attraktivität ist evolutionär verankert, die Verbindung zur Moral und zum Schutz der Natur ist ein Erzeugnis der Kultur. Manche Kulturen haben schon früh und unabhängig voneinander den ökologischen Gedanken entwickelt. Die Geschichte der abendländischen Kultur ist durch Raubbau an der Natur gekennzeichnet, erst die Gegenwart findet zögernd zur ökologischen Idee.

Mit wachsendem Alter spielt auch der Ethnozentrismus eine Rolle. Unter Ethnozentrismus versteht man die Beurteilungs- und Verhaltenstendenz, die eigene Gesellschaft oder Ethnie für die Beste und Richtige zu halten. Ein nettes Beispiel liefert eine Befragung von amerikanischen Kindern um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Schönheit von Nationalflaggen. Damals hatte die siamische (thailändische) Flagge noch einen silbernen Elefanten auf dem Banner. Kleinere Kinder bevorzugten diese Flagge, während ältere Kinder die amerikanische Flagge (Stars and Stripes) als die schönste auswählten. Ähnliches gilt für die Bevorzugung von Puppen mit verschiedener Hautfarbe. Bis zu drei/vier Jahren bevorzugten in einer Untersuchung die jüngeren Kinder schwarze Puppen, die älteren weiße Puppen, und zwar auch die farbigen Kinder. Diese Veränderung des ästhetischen Urteils ist gekoppelt mit der Entstehung von Rassenvorurteilen hin (Hartley und Hartley 1955).



Ästhetische Entwicklung: Vergegenständlichung

Das frühe Auftauchen von ästhetischer Vergegenständlichung in der Geschichte des Homo sapiens in Form von verzierten Gebrauchsgegenständen vor ca.70.000 Jahren (s. auch Kap. 4) müsste sich auch in der Ontogenese niederschlagen. In der Tat praktizieren Kinder schon frühzeitig so etwas wie darstellende Kunst (Schuster 2000). Sie haben Freude daran, Spuren in der Umwelt zu hinterlassen, die sie als eigenes Produkt erkennen.

Die Tätigkeit dieses Produzierens selbst macht Spaß und stellt, wie wir im vorigen Kapitel sahen, eine Form des Spiels dar. In schriftlosen Kulturen malen Kinder in den Sand oder ritzen in Holz Ornamente. Ältere fertigen auch Spielzeug für die Jüngeren an. In unserem Kulturkreis werden Kinder frühzeitig mit Gerätschaften für Malen und Zeichnen versorgt. Da dies nahezu regelmäßig der Fall ist, kann man einige generellere Züge der Zeichenentwicklung festhalten.

Ab etwa zwei Jahren beginnen Kinder mit Stiften zu kritzeln. Diese Kritzeleien werden im Laufe des dritten Jahres schon besser gesteuert und erhalten eine Bezeichnung. Die Benennung erfolgt zunächst nach Fertigstellung der Kritzelei, später während der Produktion und schließlich vorneweg, was belegt, dass Kinder ab da ein Ziel, eine Darstellungsidee haben. Ab etwa drei Jahren kommt es zu ersten Darstellungsversuchen, die über das Kritzeln hinausgehen. Obwohl Kinder sich schon in der Darstellung verschiedenster Objekte versuchen, bleibt doch das interessanteste Objekt der Mensch, der als Kopffüßler dargestellt wird, als Kreis oder Ellipse mit Strichen, die vom Rand wegführen und die Gliedmaßen symbolisieren. Später wird die Zahl der Striche auf vier reduziert: zwei Arme und zwei Beine. Es ist nicht ganz verständlich, warum Kinder den Menschen so darstellen, denn um diese Zeit wissen sie schon, dass der Mensch auch einen Rumpf hat und zeigen auf die Frage nach dem Bauch auch richtig auf ihren Körper. Zweifellos sind Kopf und Gliedmaßen die wichtigsten Körperteile. Sie machen ja auch den entscheidenden Fortschritt in der Evolution aus.

Richter (1987) hat eine ausführliche Darstellung der Entwicklung des Zeichnens vorgelegt. Er unterscheidet nach den frühen Formen der Darstellung eine erste und eine zweite Schemaphase. Die erste, beginnend mit dem 5. Lebensjahr, nennt er auch „Werkreife“, das Kind sei reif dafür, ein Werk zu schaffen. Nun werden nämlich eine Reihe von Merkmalen wichtig, die mit einer gewissen Stabilität auftreten. Das Kind differenziert nach Richtungen (oben-unten, rechts-links), stellt wichtige Objekte größer dar als unwichtige, tendiert zu Einfachheit und Prägnanz und malt Gegenstände oder Menschen gerne als Röntgenbild (z. B. erst den nackten menschlichen Körper, der dann zeichnerisch angezogen wird und Kleider erhält. Das Kind zeichnet, was es weiß und stellt daher auch Teile des Gegenstands dar, die man nicht sehen kann (z. B. ein aufgeklapptes Auto oder Haus). Es gibt typische Landschaftsanordnungen, bei denen oben ein blaues Band oder ein blauer Strich den Himmel markieren und unten ein grünes Band die Erde. Die Sonne wird gewöhnlich in die linke oder rechte obere Ecke platziert. Dieses Schema ist erstaunlich allgemein, und wird weder gelehrt noch imitiert. Dennoch kann man annehmen, dass es nicht evolutionäre, sondern kulturelle Wurzeln sind, die zu diesem Schema führen.

Ab dem achten/neunten Lebensjahr beginnt die zweite Schemaphase. Sie ist durch einen visuellen Realismus gekennzeichnet. Das Kind versucht, den Zusammenhang zwischen visueller Erscheinung und seiner Abbildung herzustellen und bemüht sich um eine getreue Abbildung. Dabei werden aber auch gerne Schemata benutzt, wie das von den Kunsterziehern gefürchtete Vogelschema und Baumschema. Es werden auch Abbildungskonventionen der Kultur übernommen, wie typische Landschaften, Hausdarstellungen etc. Am Ende dieses Stadiums ist ein Niveau erreicht, das auch ungeübte Erwachsene nicht überbieten. Wie bei der Musik kommt es ab da auf Übung, Sozialisation und Anregung an.





Abb. 11.3 Beispiele von Kinderzeichnungen. Oben links: Zeichnung eines Dreieinhalbjährigen (der Vater kommt von einer Reise zurück und hat Bücher in seiner Tasche). Oben rechts: Zeichnung eines Fünfjährigen (Ausschnitt: Bagger mit funktionsfähigem Greifer). Unten links: Zeichnung eines Achtjährigen (die Frauenkirche in München). Unten rechts: Zeichnung eines Zwölfjährigen (der Musiktempel, ein Geschenk an den musikliebenden und -praktizierenden Großvater)

Dennoch zeigt sich im frühen Jugendalter meist noch einmal ein Wandel. Einerseits werden realistische Konstruktionen, wie Paralleldarstellung von geometrischen Körpern benutzt, andererseits greift man zu Übertreibungen und Karikaturen. Schon jetzt werden bestimmte Ausdrucksformen und Techniken bevorzugt, sodass es zu individuell sehr verschiedenen Entwicklungen kommen kann. Im Jugendalter schwindet aber im Allgemeinen dieFreudeambildnerischenGestalten. WernochweitermachtundzurkünstlerischenProduktion angeregt wird, gelangt zu einer persönlichen individuellen Ausdrucksform, der man künstlerisch-ästhetische Qualitäten zuschreiben kann. Abbildung 11.3 zeigt einige Beispiele von Kinderzeichnungen, sie passen nur teilweise in die obige Einteilung, z.B. ist die Zeichnung eines Fünfjährigen von einem Bagger bereits sehr naturgetreu. Das Bild des Zwölfjährigen zeigt, wie bekannte Gegenstände zu etwas Neuem, dem Musiktempel, zusammengefügt werden.

Für die Suche nach einer Verbindung zur Evolution und Kultur ist nochmals die Bedeutung der Darstellung des Kopfes hervorzuheben. Fünf- bis sechsjährige Kinder zeichnen den Kopf im Verhältnis zum Rumpf viel zu groß, und auch die Neun- bis Zehnjährige haben noch nicht die reale Proportion 1:6 erreicht (Schuster 2000; Richter 1987). Das Wichtigste am Menschen wird größer dargestellt. Vergleicht man dieses Phänomen mit frühen Menschendarstellungen des Homo sapiens, so fällt auf, dass viele Felszeichnungen und Skulpturen überhaupt keinen Kopf tragen. In Felszeichnungen der Sahara findet man häufig anstelle des Kopfes einen senkrechten Strich, die „Venus“ von Hohle Fels hat ebenfalls keinen Kopf. Noch heute gibt es Ethnien, in denen die Menschen sich nicht direkt anschauen. Der Blick kann Unheil oder doch Unerwartetes anrichten. Viele Kulturen haben offenkundig dem menschlichen Kopf, wohl vor allem dem Gesicht, magische Wirkung zugeschrieben und die Darstellung von Gesichtern tabuisiert. Der Islam hat bekanntlich mit relativ wenigen Ausnahmen ebenfalls menschliche Darstellungen verboten und stattdessen eine reichhaltige und unerreichte Ornamentik entwickelt.

Wie geht das zusammen mit den naiven Menschendarstellungen der Kinder, die den Kopf und das Gesicht besonders hervorheben? Die einfachste Antwort läuft auf eine Trennung von Evolution und Kultur hinaus. Menschliche Darstellungen haben nicht immer und überall fehlende oder stark abstrahierte Köpfe. Allerdings gibt es kaum Menschendarstellungen bei den berühmten Felsmalereien in den Höhlen von Altamira, Lascaux und Chauvet. In frühen Menschendarstellungen anderer Höhlen wird der Kopf seltsam unpräzis und wenig detailliert gezeichnet. Die Kultur scheint bei der Kopfdarstellung den entscheidenden Einfluss auszuüben, zum einen in Richtung Tabuisierung, zum andern in Richtung besonderer Betonung wie in der abendländischen bildenden Kunst.



Exkurs: Ästhetik und Gesundheit

Dass Ästhetik nicht nur schmückendes Beiwerk im menschlichen Leben ist, sondern der geistigen und körperlichen Gesundheit dient, belegen längsschnittlich angelegte Untersuchungen, von denen wir eine exemplarisch herausgreifen. Bygren et al. (1996) befragten 12.500 Personen hinsichtlich der Häufigkeit ästhetisch orientierter Verhaltensweisen (Museums- und Theaterbesuch, eigenes Musizieren etc.) über acht Jahre hinweg. Alter, Einkommen und Bildung wurden kontrolliert. Damit sollte der Einfluss der sozialen Schicht und der des Lebensalters, der möglicherweise viel stärker auf das Ergebnis wirkt, ausgeschaltet werden. In der Tat korrelierten Regelmäßigkeit und Häufigkeit kunstbezogener Praktiken mit einer höheren Lebenserwartung. Auf Ästhetik bezogene Aktivitäten erbrachten einen „survival benefit“. Die frühe Verankerung des Ästhetischen in der Evolution lässt vermuten, dass ästhetische Praxis für den Menschen notwendig ist und dass wir gut beraten sind, wenn wir das Ästhetische in unserem eigenen Leben pflegen und im Bildungssystem stärker als bisher fördern.





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